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13 Seiten

Bluttaufe auf dem Kamm des Deisters

Spannendes · Kurzgeschichten
Wir schreiben das Jahr 781 des Herrn. Das Wolfmädchen drückt vorsichtig ein paar Äste herunter. Die junge Frau am Weiher ist mehr als hübsch. Gerne hätte das Wolfmädchen diesen Menschen mit in ihrem Rudel. Doch so eine Person zu rauben ist etwas anderes als eine Jacke zu stibitzen. Zufrieden knüllt es mit der Hand, die nicht die Äste nach unten drückt, das frisch im nahegelegenen Dorf ergatterte Kleidungsstück. Es lag auf dem Dach einer der größeren Hütten des Dorfes zum Trocknen. Dieses ist wichtig, weil die Zeit des Blätterfalls schon angebrochen ist, bald die Monate der Kälte und Dunkelheit kommen und sie mit ihren sechzehn Jahren aus dem alten Umhang ausgewachsen ist.

Dass das Wolfmädchen sechszehn Jahre alt ist oder die Zeit in Monaten gerechnet wird, weiß es allerdings nicht. Seit es sich erinnern kann, lebt es in diesem Wolfsrudel. Das Mädchen ist ein Kind der Wölfin und ihrem Rüden. Nicht wirklich, soweit begreift Alheitt die Natur. Nach der Geburt muss sie von ihren Mensch-Eltern abgegeben worden sein. Die Wölfin hat sie zusammen mit ihren Jungen großgezogen. Weil sie nie richtig sprechen gelernt hat und die Wölfe eine große Scheu vor Menschen haben, traut sich die im Gebüsch Kauernde nicht, das Mädchen am Weiher anzusprechen. So ist sie alleine mit seinem Wunsch, eine Freundin zu haben. Alheitt ist ein Name, den sie beim Beobachten einer mit einem Gespann durch die Wälder ziehenden Familie aufgeschnappte. Die reife Frau, die so angesprochen wurde, fand sie sehr hübsch, folglich beschloss sie, auch so zu heißen. Weiter Wörter, die das Wolfmädchen mitsamt der Bedeutung aufgeschnappt hat, sind Pferd, Wölfe, Dorf, Waffen, Kleid sowie laufen, baden, essen, kochen und vieles mehr. Daraus aber Sätze zu bilden, ist Alheitt fremd.
Neben dem Wolfmädchen liegen die beiden Muttertiere der Wölfe und die zwei Einjährigen. Diese werden erst aus dem Rudel vertrieben, wenn der nächste Nachwuchs sein erstes Jahr umhaben wird. Das ist noch lange hin, aktuell sieht man der Wölfin nicht an, dass sie wieder trächtig ist. Lediglich Alheitt wird nie weggebissen. Sie darf bleiben.

Verträumt schaut sie auf das hübsche Mädchen am Weiher. Es hat langes, goldblondes Haar, strahlend blaue Augen und trägt einen bronzenen Stirnreif. Ihr einfaches, beiges Kleid aus gefilzter Wolle, welches ihr bis zu den Knöcheln reicht, hat sie etwas gerafft, um die Füße im Teich zu baden. Neben ihr steht ein großer Korb, gefüllt mit Wurzeln und Kräutern.
Alheitt meint, dieses Mädchen könnte in ihrem Alter sein. Erst als es sich aufmacht, in das nahegelegene Dorf zu gehen, ziehen sich auch das Wolfmädchen und ihre Wölfe zurück.

*

„Da bist du ja endlich, Enngelin, wo hast du wieder so lange rumgetrödelt“, schilt die Mutter das blonde Kind mit dem bronzenen Stirnreif und dem Korb voller Gaben des Waldes, „nur weil du zur Zeit der Blattknospe zur Maikönigin gewählt wurdest, hast du deine Pflichten in der Hausarbeit nicht zu vernachlässigen.“
Enngelin macht einen Knicks und stellt den Korb ab. Den Kopf gesenkt, lässt sie weitere Schelte über sich ergehen. Zu allem Überfluss kommt jetzt ihr Vater aus dem Haus heraus, einem der größeren Rundhäuser des Dorfes. Gebildet aus aneinander in den Boden gerammter Baumstämme, deren Ritzen mit Lehm und Stroh verputzt sind. Das Dach dieser Hütte, in der es nur einen großen Raum gibt, bilden dünnere Baumstämme, die leicht zur Mitte hin ansteigen, damit das Regenwasser abfließen kann.
Mit gesengtem Kopf erduldet Enngelin die Schimpftiraden des Vaters und wünscht sich von ganzem Herzen weit weg. Am liebsten auf eine sagenumwobene Insel im Meer, wo nur Frauen leben und der großen Göttin huldigen, so erzählen es die alten Frauen in den langen Winternächten am Feuer.

Erst als der Herr des Hauses schnaufend abdreht, um mit seiner Axt zu den Palisaden zu gehen, hebt die junge, blonde Frau den Kopf. Voller Entsetzen reißt sie die Augen auf.
„Meine Jacke!“, kreischt sie laut. Jetzt wendet auch die Mutter den Blick. Der Platz, wo die frische Jacke zum Trocknen ausgelegt war, ist leer.
„Sie ist wohl über den Deister gegangen“, kommentiert die Mutter sarkastisch und hält im gleichen Atemzug die Arme auf, weil der kleine Mathiß aus der Hütte herausgestürmt kommt. Mit einem Satz spring Enngelins dreijähriger Bruder an der Mutter Brust und lässt sich drücken. Sorglos strahlen seine blauen Augen dabei seine große Schwester an. Enngelin kann es nicht verhindern, dass Neid und Trauer sich in ihr ausbreiten. Gerne wäre sie von ihrer Mutter mit derselben Zuneigung bedacht, doch seitdem es einen Stammhalter in der Familie gibt, ist der Wert der Tochter ins Bodenlose gesunken.

Unweigerlich rollt dem blonden Mädchen eine dicke Träne aus ihrem schönen, blauen Auge. Die Liebe der Eltern ist genauso über den Deister gegangen, wie ihre Jacke. Diesen Ausdruck benutzt man in dieser Region, wenn eine Sache oder ein Mensch verschwunden sind. Der Deister ist dabei ein dreißig Kilometer langer und über vierhundert Meter hoher Bergrücken, der seine Besonderheit aus der Tatsache zieht, dass er der erste Höhenzug ist, auf den das norddeutsche Tiefland trifft.
Enngelin wischt sich mit dem Ärmel die Tränen ab, greift den Korb und geht Geschäftigkeit vortäuschend in die Hütte. Hinter ihr ist das Zimmern der Männer zu hören, welche einige Löcher in dem hohen Palisadenzaun ausbessern, der um das Dorf gezogen ist, um in der Nacht Wölfe und Gesindel draußen zu halten.
Hätten sie es doch gestern schon gemacht, dann wäre meine Jacke nicht gestohlen worden, denkt die Tochter bitterlich, als sie damit anfängt, die Kräuter klein zu rupfen.

*

Das Wolfmädchen und die Wölfe schlüpfen unter den bis zum Boden herabhängenden Äste der Süntelbuchen in ihr Versteck. Weil diese besondere Unterart der Rotbuche eine sehr eigentümlich Wuchsform hat, wird sie von den Menschen als Hexenholz oder Teufelswerk bezeichnet und gemieden. So braucht Alheitt nicht ungebetenen Besuch unter diesem urigen Blätterdach von sieben Bäumen zu erwarten. Bäume, die eher in die Breite als in die Höhe wachsen und wo die dicken Äste und Stämme sich in sich verdreht sind, urplötzlich rechtwinkelig abknicken, Zickzack-Formen ausbilden, in die Erde wachsen und daneben wieder aufsteigen oder ineinander verwachsen.
In dieses Gewirr an Ästen hat das Wolfmädchen viele Tierhäute gehängt. Sie bilden ein großes Zeltdach, unter dem es bei Regen trocken bleibt. Mittig gibt es eine Feuerstelle, daneben liegen in einer tönernen Schale mit Deckel Feuersteine, getrocknete Baumpilze, Stroh und trockenes Gras – ihr Equipment zum Entfachen eines Feuers.

Dieses wird gerade nicht benötigt. Alheitt hat neben der Jacke auch Brot und Würste gemopst. Alles wird unter den Fünf nun aufgeteilt. Erst wenn morgen die Wölfe ein Reh erlegt und das Wolfmädchen die Beute auf seinen Schultern hierher getragen haben wird, wird es seinen Anteil über einem Feuer braten.
Nach dem Essen zieht sich das mittelgroße, zierliche Mädchen mit den struppigen, braunen Haaren, die ihm bis auf die Schultern gehen, die neue Jacke über und kriecht unter die Fälle, um etwas zu schlafen. Weil der Knauf des Dolches drückt, nimmt es diesen aus dem Gürtel und legt es sich unter das Fellbündel, welches ihm als Kopfkissen dient. Mit dem Bild der großen, schlanken Frau vor Augen schläft es ein. Nach dem nächsten Sonnenaufgang wird sie mit den Wölfen und ihrem Pfeil und Bogen auf Jagd gehen, eine Nacht später wird sie sich wieder zum Dorf schleichen, um sich das blonde Mädchen anzuschauen.

*

Purckhart, der Vater von Enngelin, ist nicht erfreut, als der Stammesfürst und sein Druide in das Haus des angesehenen Mannes kommen. Schließlich kursieren seit Wochen Gerüchte, es sei an der Zeit, ein Gottesurteil herbeizuführen.
Gründe genug gibt es im heidnischen Glauben der Sachsen, zu denen auch die Menschen hier am Rande des Deisters gehören. Das Land ist sumpfig, für den Platz ihres Dorfes haben sie eine trockene Stelle gewählt, die schon vertorft ist. Aber die letzten beiden Sommer waren sehr verregnet, da hatte sich der Boden vollkommen mit Wasser vollgesogen und jeweils sehr schlechte Ernten gebracht. Und das Wenige, was eingebracht wurde, verfaulte zum Großteil in den Lagerräumen.
Jetzt steht zusätzlich eine Schlacht gegen Karl den Großen an. Mit seinen Franken startete er im Jahre 772 einen Eroberungskrieg gegen die Sachsen. Unaufhörlich rückt seine Armee seitdem nach Osten vor. 777 gründete er die Königspfalz Paderborn, nun sinnt er, bis ins Tiefland vorzudringen.
Herzog Widukind, ein sächsischer Edeling, organisiert den Widerstand. Das von Geilo geführte Frankenheer will er hier am Anfang der Berge stoppen. Für das nächste Jahr, 782 in der Zeitrechnung der Christen, will er die Entscheidung gegen Widukind finden.

„Du weißt, Purckhart, die Lammopfer der letzen zwei Jahre oben auf dem Kamm des Deisters haben die Götter nicht bewogen, uns Ernteglück zu schenken“, hebt das Stammesoberhaupt ehrfürchtig an zu sprechen. Ein Ton, der den kleinen Mathiß von seinem Lager aufstehen und zur Mutter krabbeln lässt. Jetzt steht er an ihr, beide kleinen Ärmchen um ihr Bein geschlungen.
Der Vater schaut zwischen seiner Gattin mit dem verängstigten Knaben und zwischen den Neuankömmlingen hin und her. „Sollen wir ein Rind opfern, Hermon? Wir könnten unter den Edlen beraten, wer dafür aufzukommen hätte“, wagt sich der Vater vorsichtig vor, da ihm der Besuch dieser mächtigsten Männer des Dorfes nicht geheuer ist.
„Ein Lamm oder ein Rind? Purckhart, damit würden wir die Götter nur von Neuem erzürnen. Sie wollen nicht, dass wir so knauserig bleiben. Je größer unsere Bitte ist, desto wertvoller muss das Opfer werden. Wollen wir ihre Unterstützung gegen die Franken, ist es mit einem Rind nicht getan.“ Hermon, das Stammesoberhaupt, stellt sich an die auf einem Steinquader stehende, eiserne Schale, in welcher ein paar Holzscheite brennen und wärmt sich die Hände.
Sewolt, der Druide – und von einigen Kulturen auch Priester Genannte – gibt dem Vater einen Wink, die Mutter, den Sohn und die dazugekommene Tochter nach draußen zu schicken. Dieser gibt mit zusammengebissenen Zähnen den Befehl, zum Brunnen zu gehen. Enngelin geht vorweg durch die Hüte, mit einem Arm schlägt sie die Felle beiseite, die vor dem Türrahmen hängen. Hörig folgen ihr ihre Mutter mit dem Sohn auf den Armen. Mathiß weint dabei ununterbrochen, intuitiv spürt er, dass die Männer Böses wollen.

Die steifgefrorenen Felle knallen leicht, als sie wieder zusammenschlagen. Nun steht auch der Druide an der Feuerschale und wärmt sich die Hände. „Ihr wisst, Purckhart, in früheren Zeiten wurden oft am Opferstein die erstgeborenen Töchter oder Söhne der von den Germanen besiegten Feinde den Göttern übergeben. Der Brauch ist in die Jahre gekommen, aber nicht gänzlich vergessen. Als ich letztens eine Nacht bei diesem gewaltigen Quader stand, war die in ihm eingelassene Mulde wie immer randvoll mit Wasser gefüllt. In seinem Spiegelbild las ich die Botschaft der Götter. Sie wollen ein Blutopfer!“
„Heißt das, wir senden einige Krieger aus, um bei den Franken in Paderborn den Sohn oder die Tochter eines Edlen zu rauben?“ Purckhart geht zum Holzstapel am Rand der Hütte und holt zwei weitere Scheite. Nachdem er diese auf die Glut gelegt hat, knistert das Holz und zischt das austreten Harz. Augenblicklich wird es durch die Flammen in der Hütte heller. Wie der Vater in die Gesichter seiner unliebsamen Besucher schaut, tanzen auf denen Licht und Schatten. Es sieht gar grausig aus und Purckhart glaubt, eine eisige Faust würde seine Innereien zusammendrücken.

„Eine Tochter des Feindes wollen die Götter nicht, sie wollen die wertvollste Jungfrau, die in unseren Reihen haust“, flüstert Sewolt, weil er sich nicht sicher sein kann, ob vor den Fellen an der Tür Ohren lauschen.
„Deine Enngelin wurde dieses Jahr zur Maikönigin gewählt, sie ist das Hochwertigste, was wir anzubieten haben. Der Ältestenrat stimmt uns zu“, übernimmt jetzt Hermon das Wort, „Purckhart, die Götter wollen deine Tochter, dann schenken sie uns in den nächsten Jahren reichhaltige Ernten, aber vor allem, den Sieg über die Franken. Du kannst dich ihrer Order nicht widersetzen, in vier Tagen, zum nächsten Vollmond, wird es vollbracht werden.“
„Meine Enngelin? Seid ihr von Sinnen“, antwortet der Vater mit schwacher Stimme. Widerstand liegt in ihnen nicht, nur Fügung und Trauer.
„Berichte deiner Tochter und deiner Familie nicht, was Enngelin bevorsteht. Eine Abordnung der Heiligen wird die Göttergabe zur Stunde der Dämmerung abholen kommen. Vier Männer an der Zahl. Zusammen mit Sewolt und mir werden wir zum Opferstein aufbrechen“, erläutert Hermon in einer Art, als würde er organisieren, welche Männer wo den Palisadenzaun zu reparieren hätten. „Niemand darf uns folgen, auch du nicht, Purckhart. Sonst nehmen die Götter unser Opfer nicht an und deine Enngelin ist ganz umsonst gestorben. Auch werden an diesem Tag die Torwachen verstärkt, damit kein Zufall das Blutopfer stören könnte.“

„Ich habe in diesem Säckl eine Kräutermischung, koche deiner Enngelin am späten Nachmittag einen kräftigen Sud, sie wird dann willfähriger und furchtlos.“ Mit einem Blick, als wäre Purckhart gerade zum obersten Edelmann des Dorfes aufgestiegen, übergibt der Druide das kleine Säckchen aus Kaninchenfell dem Vater.
Wie die furchterregenden Männer sich zur Tür wenden, zieht das Wolfmädchen seinen Kopf weg und schleicht in den Schatten der Nacht. Durch einen nah am Boden befindliche Lücke zwischen den vor der Tür gehängten Fellen hat sie das Treffen beobachtet. Was die Menschen besprochen haben, hat sie nicht verstanden. Aber sie kann an der Gebärdensprache der Leute lesen, was die in etwa fühlen. Und das, was sie im Gesicht des Vaters gesehen hat, wenn das Wort Enngelin gefallen ist, besorgt sie sehr.
Eigentlich war Alheitt nur ins Dorf geschlichen, um ihre Freundin zu sehen, jene junge Frau mit dem engelgleichen Haar, die von der Existenz des Wolfmädchens überhaupt nichts weiß. Jetzt pirscht das wilde Mädchen hinter den beiden bösen Männern hinterher, intuitiv weiß es, diese zu beobachten ist nun wichtiger, als sich an Enngelins Gesicht zu erfreuen.
Nachdem Alheitt die Häuser dieser beiden Menschen ausgekundschaftet hat, rennt sie zurück in ihr Versteck unter den Süntelbuchen. Das Wolfrudel ist schon aufgeregt auf den Beinen, als das Mädchen mit dem verfilzten, braunen Haar dort ankommt. Es lässt sich auf alle Viere fallen und krabbelt von Wolf zu Wolf. Sie und die Tiere bringen immer ihre Wangen an das Becken der anderen. Ein Ritual, mit dem sie sich den Zusammenhalt zusichern. Dieses wird Alheitt in den nächsten Tagen bedürfen, denn anders als Hunde haben Wölfe kein Interesse, das Eigentum der Menschen oder gar eine Person zu beschützen. Gegen Menschen in den Krieg zu ziehen ist demnach gegen ihre Natur. Das Wolfmädchen wird gute Gründe aufbringen müssen, damit ihre Gefährtinnen und Gefährten ihr beistehen werden.
Nachdem das Rudel wieder zur Ruhe gekommen ist, sucht sich das Wolfmädchen seinen Dolch, Pfeil und Bogen sowie einen speziellen Umhang aus. Ab dem nächsten Tag legen sich sodann alle Fünf am Rande des Waldes auf die Lauer. Um die Vierbeiner bei Laune zu halten, muss Alheitt immer wieder Leckers aus dem Dorf organisieren. Zum Glück gelingt ihr das.

*

Eine schwarze Haube wird Enngelin in der Hütte ihrer Eltern über den Kopf gezogen, danach werden ihr die Hände auf den Rücken gefesselt. Wie eine Verurteilte kommt sie sich vor, die zur Richtstätte geführt wird. Nicht zu beschreibende Angst bemächtigt sich ihrem Körper, das klägliche Weinen ihres Bruders, der am Rockzipfel der Mutter hängt, schallt ihr noch in den Ohren, als sie von den Männern durch das Dorf geführt wird.
Was war geschehen? Sie hatte sich doch keinem Verbrechen schuldig gemacht. Warum hatte der Vater sie diesen Männern übergeben, obwohl er noch am Nachmittag ihr einen leckeren Kräutertee zubereitet hatte? Das muss alles eine Verwechslung sein, sagt sich Enngelin, als sie durch die kühle Nacht stolpert.
Die Gerüche der Palisade erkennt sie, danach die des Waldes. Unaufhörlich geht es den Deister bergauf, am Ende, auf dem Kamm, noch viele Schritte auf ebenem Grund weiter. Nachdem man sie an einen Baum gefesselt hat, nehmen die Männer ihr die Haube ab. Sofort ist Enngelin, als würden ihr ein Pflock aus Eis in ihr Herz geschlagen. Sie weiß, was man sich von diesem großen Stein sagt. Fassungslos gleitet ihr Blick auf dieses Monstrum aus Sandstein.

Es ist ein würfelmäßiger Quader mit einer Kantenlänge von ungefähr eineinhalb Männern. Das von ihrem Standpunkt hintere Ende reicht einem Mann bis zur Brust, das vordere bis zu seinem Schoß. Die Mitte des zu ihr sich neigenden Steines ist mit einer großen Mulde versehen, welche getrost drei nebeneinanderliegende, junge Frauen aufnehmen könnte.
Enngelin weiß, diese Mulde ist normalerweise immer mit Wasser gefüllt. Sogar in trockensten Sommern, sagen die Alten, selber hat sie das nie gesehen. Heute aber – und das ist das Ungewöhnliche – ist das Becken leer. Und das, wo es bis vor drei Tagen viel geregnet hat. Das blonde Mädchen, dem man den bronzenen Stirnreif gelassen hat, kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass das Wasser herausgeschöpft wurde. Aber warum? Doch nicht, weil diese Männer . . .
Vor Angst am ganzen Körper zitternd beginnt die große, schlanke Frau zu weinen. Um Hilfe zu schreien kommt ihr nicht in den Sinn. Wer sollte sie hören? Ihr Vater hat sie diesen Männern freiwillig überlassen, nimmermehr würde er sie retten. Nein, schlimmer noch, es scheint, als hätte er mit diesen teuflischen Männern einen Pakt geschlossen. Fassungslos und ohne jegliche Hoffnung schaut die an dem Baum Angebundene zu, wie die Männer in Verlängerung der vier Ecken des riesigen Sandsteinblockes eiserne Stangen in dafür vorgesehene Löcher stecken. Stangen, die an ihrem oberen Ende einen stählernen Aufsatz angebunden bekommen haben, in Form ähnlich den Holzeimern, mit denen sie Wasser aus dem Brunnen holt, aber etwas kleiner und nur als Gitterwerk.

In diese Stahlkörbe werden nun trockene Holzscheite hineingelegt und entzündet. Weil der Wind von allen Seiten hindurchpfeifen kann, brennt das Holz in Kürze lichterloh. Das flackernde Licht, welches diese Laternen auf den Opferstein werfen, lehren Enngelin noch mehr das Grausen. Aber richtig schlecht wird ihr, als der Druide Sewolt mit gierigen Augen auf sie zugeschritten kommt.
Seine Kralle mit den langen Fingernägeln greift in den Ausschnitt ihres Kleides. Mit einem gewaltigen Ruck zerrt er ihr das Ober- und Unterkleid in einem Rutsch vom Körper. Unzüchtig mustert er daraufhin den nackten Körper des Mädchens. Lässig streckt er dabei den Arm aus, der ihre Kleider hat. „Diese brauchst du fortan nicht mehr, Enngelin“, spricht mit einer unergründlichen Freude in der Stimme, welche die junge Frau nicht nachvollziehen kann.
Andersrum wird ihr recht gut inne, was die Männer mit ihr tun werden, als sie sieht, wie einer der Diener des Druiden eine Fackel an den unteren Saum ihrer Kleider hält. Einen Augenschlag später züngeln die Flammen in ihren Kleidern nach oben. Die sechszehn Winter zählende Frau mit den blauen Augen ist ab diesem Moment felsenfest davon überzeugt, nicht nackt ins Dorf zurückgehen zu müssen. Hier am Opferstein soll ihr Leben in der heutigen Vollmondnacht beendet werden.
Ohne zu zetern lässt sie sich vom Baum freibinden. Hörig schreitet sie hinter dem Gehilfen an dem Häufchen glühender Wolle vorbei. Demutsvoll legt sie sich mit dem Rücken in die Mulde des riesigen Sandsteinquaders, artig lässt sie sich Arme und Beine zu den Ecken des Felsens ziehen und dort an in den Stein eingelassene Eisenringe festbinden.

Wenn sie könnte, würde sie jetzt im Erdboden versinken. Nicht, weil der Druide mit einer dunklen Paste gerade Runen auf ihren Körper malt, sondern weil seine vier Gehilfen und Hermon, das Stammesoberhaupt, sie fortwährend lüstern begaffen und sich auf ungehörige Art über ihre Brüste und ihren Schoß auslassen.
Damit ist erst Schluss, als sich alle einen Kapuzenumhang überziehen. Schwarz wie die Nacht, nur noch mit Schlitzen für die Augen und den Mund, sehen diese Männer für Enngelin wie die Ausgeburten der Unterwelt aus.
„Engel der Hölle“, seufzt sie resigniert. Die Götter anflehend hofft sie, keine großen Schmerzen erdulden zu müssen. Als wäre sie nicht wirklich an diesem Geschehen beteiligt, schaut sie die sechs verkleideten Männer an, die in einem mysteriösen Singsang im Seitwärtsgang um den Stein herumschreiten und aus vor den Bäuchen gehaltenen Schalen Wasser, Beeren und Kräuter auf sie werfen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt das Tanzen zu einem Ende. Die Kälte des Felsens ist längst in Enngelins Rücken gekrochen. Sie ist dermaßen am Frieren, dass sie sich sehnlichst wünscht, die Männer würden in ihrer Zeremonie endlich zu einem Ende finden.

Ihr Wunsch scheint bei den Göttern Gehör zu finden. Urplötzlich schält sich aus den sechs völlig gleich verhüllten Menschen eine Person heraus, die in ihrer Hand einen großen Dolch hält. Die Klinge blitzt und blinkt im Licht der Laternen, als der Mann mit der Spitze der Klinge die Runen auf ihrem Körper nachzeichnet. Bei jeder murmelt er dabei die Bedeutung des Symbols. Dem jungen Mädchen wird durch Sewolts Worte bewusst, sie soll für den Sieg über die Franken und kommenden, reichhaltigen Ernten den Göttern geschenkt werden.
„Warum gerade ich?“, flüstert sie weinend.
„Weil du die Maikönigin bist“, bleibt Sewolt sachlich. „Sei den Göttern ein fügsames Mädchen, bringe keine Schande über dein Dorf, Enngelin“, fährt er fort, indem er den Dolch hoch über seinen Kopf hebt. Durch die Sehschlitze in der Kapuzenmaske hindurch sieht die junge Frau die besessene Entschlossenheit des Druiden, sein Opferritual zu vollstrecken. Gleich wird die Waffe auf ihren Leib herniedersausen. Da der Blick des Priesters nicht auf ihr Herz, sondern ihren Bauch gerichtet ist, wird Enngelin speiübel. Wollen die mich lebendend ausweiden? Vater, warum hast du mir so eine grausame Prüfung zugewiesen?
Gerade will Sewolt den Dolch in dem zarten Frauenfleisch versenken, da springen Schatten aus dem Gebüsch auf ihn zu. Sein Überraschungsschrei geht über in den eines bestialischen Schmerzes, als er mit dem Wolf, der sich in seinen Unterarm festgebissen hat, zu Boden stürzt.

Drei weitere Wölfe sieht Enngelin über ihren Quader fliegen, sie beißen sich in Unterarme fest, welche die Männer gerade noch vor ihre Kehle haben bringen können. Die letzten zwei, noch nicht attackierten Männer nehmen sogleich ihre Beine in die Hand. Da springt wie aus dem Nichts ein fünfter Wolf auf Enngelins Felsblock. Ähnlich eines Menschen hockt er über ihr und mustert sie mit toten Augen. Der Anblick ist in dem flackernden Licht der in den Laternen brennenden Holzscheite gar schaurig. Ein riesiger Wolf hat die Zähne gebleckt, um das Opfer zu zerfleischen, meint die für das Gottesurteil bestimmte Frau. Ganz langsam erst geht ihr auf, dass unter diesem Wolfskopf ein menschliches Gesicht sie anlächelt. Das Gesicht eines Mädchens. Und dieses hält zwischen den Zähnen einen großen Dolch. Seine braunen Augen mustern Enngelin fröhlich. Ganz anders, als die der Männer – allem voran Sewolt.
„Du mein“, krächzt das Mädchen, nachdem es den Dolch aus dem Mund genommen hat und anfängt, die Lederriemen an Enngelins Händen durchzuschneiden.

Letztere nimmt jetzt erst richtig wahr, dass es sich bei diesem fünften Wolf wirklich um einen Menschen handelt. Ein Wesen aus Fleisch und Blut, wie sie es selber ist, welches sich einen Umhang aus Wolfsfell umgezogen sowie eine Mütze aufgesetzt hat, die einen Wolfskopf trägt.
In diesem Moment jaulen die richtigen Wölfe auf. „Nicht Angst“, sagt das Wolfmädchen, als es Enngelins letzten Fuß freischneidet. Kaum ist das geschehen, setzt sich die blonde Frau aufrecht hin. Um den Opferstein sitzen vier Wölfe, den Kopf in den Nacken geworfen und jaulen den Vollmond an. Meint zumindest Enngelin, die nicht versteht, dass dieses ein Ausruf der Zusammengehörigkeit ist.
Das Mädchen neben ihre wirft nun ebenfalls den Kopf in den Nacken und stößt ein Heulen aus, das von dem der Tiere nicht zu unterscheiden ist. Danach springt es behände vom Stein, geht auf alle viere und reibt sich mit ihrer ganzen Seite an den Seiten der Wölfe. Einen nach dem anderen scheint sie nach Enngelins Meinung zu begrüßen.
Sowie dieses Ritual beendet ist, zieht sich das Wolfmädchen den Umhang aus und legt ihn über die Schultern der Nackten, die vom Stein heruntergeklettert ist. Nebenbei geht sein Blick zu den mit Filz gefütterten Schuhen, in denen Enngelin zu diesem schaurigen Ort hochgegangen ist. Wie sie wenige Herzschläge später von diesem wilden Mädchen an der Hand genommen wird, weiß die blonde Frau nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Ihre Rettung scheint ihr so unwirklich, dass sie es nicht glauben will und jeden Moment erwartet, die getürmten Männer würden zurückkommen, um ihr Ritual zu beenden. Dem ist allerdings nicht so.

Lange Zeit später schlüpft sie hinter dem Wolfmädchen unter den Ästen großer Süntelbuchen in das Lager des Wolfrudels. Es ist stockdunkel, als das wilde Mädchen Enngelin ein Kleidungsstück übergibt.
Die blonde Frau befühlt es lange, bevor sie es sich anzieht. „Ist das meine Jacke?“, fragt sie verdutzt.
„Ich Alheitt“, entgegnet das Wolfmädchen, als es seinem neuen Gast Beinlinge gibt, aus welchem es seit kurzem herausgewachsen ist. Für die große Frau aus dem Dorf sind sie natürlich viel zu kurz, trotzdem zieht sie sich diese an. Immer noch besser, als gar keinen Schutz vor der Kälte zu haben. Danach legen sich beide junge Frauen eng aneinander gekuschelt unter viele Decken aus Hirschhaut und Schaffell.

Am nächsten Morgen bricht das nun auf sechs angewachsene Rudel auf, einen anderen Platz in seinem großen Jagdrevier aufzusuchen. Sie ziehen auf der Westseite des Deisters herunter, durchqueren das breite, sumpfige Tal und beziehen in einer Höhle des nächsten Höhenzuges, der da heißt Süntel, ihr neues Quartier.
Auf der Ostseite des Deisters, in dem kleinen Dorf, das mit einem hohen Palisadenzaun umgeben ist, sitzen am selben Morgen Hermon und Sewolt bei Purckhart am Feuer und berichten, dass seine Tochter Enngelin ordnungsgemäß über den Deister gegangen ist und die Götter sie wohlgesonnen aufgenommen hätten.
Keiner der sechs Männer verliert ein Wort über die Schmach, vor den Wölfen davongerannt zu sein. Zudem gehen alle davon aus, dass die Wölfe die schöne Tochter aufgefressen haben – das Opfer somit vollzogen sei, wenn auch mit einer kleinen Abänderung des Rituals.

*

Anmerkung:
Als ich Kind war, benutzten meine Großeltern und Eltern noch viel die Redewendung „Es ist über den Deister gegangen“. Damit meinten sie, dass etwas verschwunden oder kaputtgegangen ist.
Für die Herkunft dieses Satzes gibt es zwei Deutungen. Die eine liegt darin, dass zur Zeit des Königreiches Hannover, dieses viele Söldner an das mit dem Herrschaftshaus verbundene England abgegeben wurden, um im amerikanischen Befreiungskrieg Dienst leisten zu müssen. Da zum damaligen Zeitpunkt das nahgelegene Ruhrgebiet preußisch war und auf westlicher Seite bis nah vor den Deister heranreichte, konnten die Leute über Flucht in das Königreich Preußen gelangen und somit der Zwangsrekrutierung entkommen.
Eine andere Deutungslinie bezieht sich auf die vorchristliche Zeit, nach der es auf dem Deister eine Opferstätte gegeben haben soll, an der Söhne und Töchter der eroberten Feinde geopfert worden sein sollten.
Im Zuge dieser Legende bekam der große Findling auf dem Kamm des Deisters seine Bedeutung. Aufgrund seiner altarmäßigen Form und der tiefen Mulde darin regte er die Phantasie der Menschen seit alters her an. Heute als Alte Taufe (auch Wolfstaufe oder Heidentaufe genannt) bezeichnet, sollte er früher den Germanen als Opferstein gedient haben, nach der Christianisierung aber für Taufzwecke verwendet worden sein.
Ausgrabungen rund um die Alte Taufe hat es bisher nicht gegeben, um Gebein der angeblich Hingerichteten ans Tageslicht zu fördern. Trotzdem gilt es heute als sehr fragwürdig, dass hier Menschen geopfert worden sein sollten. Dem entgegen stehen zwei unterschiedliche Sagen, die die Mär vom Blutopfer über die Jahrhunderte publik halten. (Die Sage von der Alten Taufe nach Bock; und nach Meissel).
 
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Kommentare  

Hallo Francis, vielen Dank für dein Feedback.

Frank Bao Carter (12.01.2023)

Hallo Frank,

das ist eine interessante Fantasy-Geschichte
über ein germanisch, heidnisches Ritual, die du
spannend geschrieben hast. (Die Zeitepoche
gefällt mir ;) Was über den Deister gegangen
ist: Diese Bedeutung kannte ich zwar schon
immer, aber woher diese Redewendung stammt,
weiß ich erst jetzt dank deiner Story.

LGF


Francis Dille (02.01.2023)

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