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6 Seiten

Ein Irrtum mit Folgen

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Janos saß im Taxi. Die Nacht war rau und kalt. Es regnete leise, und der Regen gefror auf dem Pflaster sofort zu Eis.
Der Taxifahrer fuhr sehr langsam, sehr vorsichtig.
Das Autoradio lief. Beryll Young sang: You're the light up of my live, you give me home...
Der Taxifahrer, glatzköpfig mit rundem Babyface, sah immer wieder in den Rückspiegel, suchte Blickkontakt, dabei grinste er einfältig.
Janos räusperte sich und fragte leise: "Sie kennen doch sicher die Stadt wie Ihre eigene Hosentasche?"
Der Glatzkopf kicherte meckernd.
"Das will ich meinen, hä, hä..!"
Janos räusperte sich
"Dann kennen Sie sicher auch alle einschlägigen Bars und Kneipen?"
"Verstehe, der Herr will was erleben, hä, hä!"
Das Babyface drehte sich kurz um und blinzelte seinem Fahrgast unverschämt zu.
Janos nickte.
"Haben Sie Knete?"
"Ja!"
"Na, dann! Sie wissen ja, ohne Moos nix los!"
Schallend drosch er sich auf seine feisten Oberschenkel und lachte schallend über seinen eigenen blöden Witz.
Janos hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen.
Ein paar Minuten später hielten sie in der Reisgasse, einer kleinen Seitenstraße der berüchtigten Altstadt. Der Taxifahrer schaltete die Scheinwerfer auf Standlicht.
Der Regen war stärker geworden, vermischte sich mit Schneeflocken, trommelte monoton gegen die Fenster.
Träge verteilte der Scheibenwischer milchigweiße Bögen auf dem Glas.
"Zehn fuffzig".
Janos bezahlte, gab viel zu viel Trinkgeld, war froh, dass er den Widerling endlich los war.
Der Glatzkopf grinste, hob grüßend die Hand, fuhr weg.
Der Asphalt glänzte im harten Licht der Straßenlaternen.
Er stellte den Kragen seines Trenchcoats hoch, zog den Hut tiefer ins Gesicht. Prüfend sah er sich um.
Die Gebäude wirkten ärmlich, verwahrlost. Die gleißenden Neonröhren lockten mit Non-Stop-Sex, Peep Shows, billigen Pensionen, Lovemotels und Pilsener, frisch vom Faß.
Janos blieb vor einem Gebäude stehen, in dessen Fassade schon der Verfall lauerte. Der Name Vegas flimmerte abwechselnd in gelb, grün, rot.
Hier verkehrten Künstler, Intellektuelle, Huren, Zuhälter, Obdachlose, Dealer und ihre Schneeflocken.
Die Fensterscheiben waren mit Raureif bestäubt, trotzdem konnte er erkennen, dass es drinnen randvoll war.
Kurz entschlossen trat er ein, ging zielsicher zum Thesen, drängte sich zwischen die anderen, hob die Hand.
"Ein Halbes!"
"Is' recht!"
Der Wirt, groß, breit, stiernackig, die Haut narbig, trug ein fleckiges Achselhemd, ein vorderer Schneidezahn fehlte. Er nahm ein Glas, stellte es unter den Zapfhahn.
Janos bemerkte, dass seine Arme ab dem Handgelenk farbig tätowiert waren.
Unsicher beugte er sich vor, räusperte sich. "Ich brauch'..."
Der Stiernackige grinste verächtlich, nahm einen Plastikstab, schubste damit die Schaumkrone vom Pils und sagte: "Marinski kommt gleich!"
Suchend sah sich Janos um. Die Tür schwang auf.
Ein junger Mann, feingliedrig, mit zartem Gesicht trat ein. Seine langen Haare hatte er zu einem Mozartzopf zusammengebunden. Ein langer schwarzer Gestapomantel hing an seinem schmächtigen Körper. Er sah in die Runde, hob grüßend die Hand. Auch sein Gebiß war lückenhaft, die Zähne bräunlich verfärbt.
Er lümmelte sich an den Tresen. Taxierte Janos von Kopf bis Fuß.
"Sind Sie Marinski?"
"Bin ich! Brauchst du was?"
Janos nickte.
"Viel?"
"Sehr viel und sofort!"
Marinski fuhr sich mit der Zunge über die vollen Lippen.
"In einer Stunde! Bahnsteig 21!"
Das Mädchengesicht knöpfte sich den Gestapomantel zu, wand sich noch einmal an Janos. "Ampulle?"
"Ja!"
"Verstehe!"
Rasch verließ Marinski die Kneipe.

Janos hatte den Kragen hochgestellt. Der Wind peitschte ihm den eisigen Regen ins Gesicht. Ohne nach rechts oder links zu sehen, ging er seinen Weg. Die Königstraße entlang, bog nach rechts, kam zum Bahnhofsgelände.
Er wartete nicht, bis ihn die Rolltreppe nach unten brachte. Mit weit ausholenden Schritten lief er die Treppe hinunter. An den grauen Wänden hatten Vertreter diverser Randgruppen ihre links- und rechtsextremistischen Parolen gesprüht. Pornographische Zeichnungen zierten die Pflastersteine. Die Bahnhofsunterführung wirkte schmuddelig, verwahrlost. Ein Asyl für Obdachlose, Treffpunkt dunkler Machenschaften.
Zielstrebig schritt er durch die große Halle, zu den Bahnsteigen. Aus den Lautsprechern ertönten die Zeiten an- und abfahrender Züge. Die Menschen wuselten, hatten ihren eigenen Rhythmus. Hin und wieder pries ein Zeitungsverkäufer Extrablätter an. Weißbefrakte Kellner schoben ihre Erfrischungswägelchen die Bahnsteige auf und ab.
Bei Bahnsteig 21 blieb er stehen. Er hatten den Hut tief ins Gesicht gezogen, die Hände in die Manteltasche vergraben - und wartete , beobachtete den riesigen Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr.
Starr stand er da, wirkte wie eine Schaufensterpuppe.
Plötzlich spürte er ein Tippen auf der Schulter. Abrupt wandte er sich um. Marinski stand vor ihm, sein verträumter Blick legte den Hauch von Unschuld über sein Gesicht.
"Hi!"
Lächelnd entblößte er sein lückenhaftes Gebiß, die Zähne waren braun.
"Hast du...?"
"Hast du Knete?"
Das Mädchengesicht grinste verschlagen. Janos zog einen zusammengefalteten Hunderter aus der Manteltasche, gab sie ihm.
Marinski nahm das Geld, steckte es achtlos weg.
"Die Preise sind gestiegen!"
"Wie...wieviel?"
"Sagen wir das Doppelte! ...Bin kein Unmensch!"
Marinski zog ein Messer aus der Manteltasche, ließ es aufspringen und pulte zwischen seinen Zähnen. Seine Hände waren dreckig. Am linken kleinen Finger blitzte ein Pfennig großer Diamant.
Janos schloss die Augen, sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Eine ungeheure Wut kroch in ihm hoch. Er schlug ihm das Messer aus der Hand, packte ihm am Kragen, zog ihn hoch, ganz dicht zu sich heran.
Marinski zeigte nicht die geringste Angst, seine Lippen kräuselten sich verächtlich.
"Mann, bleib' ganz cool, ja?"
"Wo ist sie?"
Janos Stimme klang heiser, drohend.
"Nimm die Pfoten weg!"
Widerwillig ließ er ihn los.
Betont langsam hob Marinski sein Messer auf, steckte es ein.
"Begrüß mich... du Arsch!"
Janos beherrschte sich mühsam, zwang sich ihm die Hand zu geben! Er fühlte das kühle Glas, die kleine Einmalspritze im Plastikpäckchen. Erleichtert steckte er es in die Manteltasche.
Marinskis Augen wurden schmal, er schlenderte ein paar Schritte zurück, rief: "Das Zeugs ist turbogeil!"
Er lachte glucksend, ging rasch weiter, verschwand in der Menge.
Janos wandte sich ab. Seine Schritte wurden immer größer, wurden schneller. Er rannte die Rolltreppe hinauf. Sein Herz klopfte laut, sein Puls raste. "Es muss sein! Es muss sein! Ich hab's ihr versprochen! Ich hab's versprochen!"
Erschöpft lehnte er sich an den nächsten Laternenpfahl.
"Ist Ihnen nicht gut?"
Eine alte, weißhaarige Frau mit grauem Hütchen und grauem Staubmantel sah ihn freundlich an.
"Es... es ist nichts, danke!"

Janos ging zum Stationszimmer. Dr. Lorentzen, Leitender Oberarzt, stand auf dem kleinen schwarzen Emailschild.
Er klopfte an. Als keine Aufforderung kam, trat er einfach ein. Ein älterer Mann mit Goldrandbrille saß hinter dem weißen Schreibtisch. Er nannte seinen Namen. Der Arzt musterte ihn, lächelte kühl, zeigte auf den Stuhl. Widerstrebend setzte er sich hin.
"Sie wollten mich sprechen!"
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Dr. Lorentzen nickte.
Sie ist schon tot, durchzuckte es ihn, atmete tief durch, fragte stockend: "Ist...ist Sophie, ich meine meine Frau... tot?"
"Nein!"
Der Arzt nahm die Brille ab, strich sich über die Augen. Er wirkte müde, überaus abgespannt.
"Und...?" Hoffnung lag in Janos Stimme.
"Herr Breitner! Ich ...ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll!"
"Sie wird also sterben?"
"Ja!"
"Wie ...wie lange noch?", fragte er mit leiser, rauer Stimme.
Der Arzt hob resigniert die Schultern, ließ sie wieder sinken.
"Wie lange!" ,schrie Janos, sprang auf, der Stuhl fiel nach hinten.
"Ihre Frau ist im Finalstadium. Heute? Morgen? Vielleicht nächsten Monat? Ich kann's beim besten Willen nicht sagen! Diese Krankheit hat ihre eigenen Regeln!"
Die Hoffnung zerbrach. Er griff in die Manteltasche, spürte das kalte Glas, das Plastik knisterte. Also doch, dachte er.
Dr. Lorentzen hob die Hand, die nur Hilflosigkeit ausdrückte.
"Danke, Doktor! Ent...entschuldigen Sie, dass ich..."
Janos hob den Stuhl auf, rückte ihn wieder an seinen Platz. "Kann ich jetzt zu meiner Frau?"
Der Arzt nickte, stand auf, reichte ihm die Hand.
"Bleiben Sie nicht lange! Ihre Frau ist sehr geschwächt! Vermutlich wird Sie nicht einmal merken, dass Sie sie besuchen!"
Janos drehte sich um, ging hinaus, stand auf dem Flur.
Die Zeit schien stillzustehen. Die Wände waren weißgestrichen.
Die Linoleumfliesen spiegelten sich im grellen Licht der Neonröhren. Es roch nach Desinfektionsmittel, Medikamenten und Fußbodenpflege. Wie eine Marionette setzte er einen Fuß vor den anderen. In einer Nische standen ein paar weißgestrichene Stühle mit bunt bedruckten Kissen, auf dem kleinen wackeligen Tisch ein überquellender Aschenbecher.
Die Fenster des langen Flures waren weit geöffnet.
Der Wind blähte die Vorhänge auf. Es war bitterkalt.
Sophie, dachte Janos, sie muss sterben! Mein Gott, warum bloß?
Er stand vor dem Krankenzimmer.
Ein Kruzifix mit einer kleines Weihwasserschale hing in Augenhöhe an der rechten Seite, links die Nummer 19.
Wieder griff er in die Manteltasche, spürte die kalte Ampulle, die Plastikspritze.
Er lehnte sich an den Türpfosten. Eine unbändige Angst kroch in ihm hoch. Schweiß trat auf seine Stirn. Sein Mund wurde trocken. Mit der Zunge fuhr er sich über die Lippen.
Er schloss die Augen. Sophie gaukelte durch seine Sinne. Sophie, als sie noch kerngesund war.
Sophie, die Attraktive - Sophie, die Gutgelaunte.
Sophie, die am Sterbebett ihrer schwerstkranken Mutter zusammengebrochen war, verzweifelt weinte, immer wieder rief:
"So will ich nicht sterben Janos, so nicht! Versprich mir, dass du ein Ende machst, wenn es hoffnungslos ist! Versprich mir das, Janos! Versprich mir das!"
Ja, hatte er damals gesagt, ganz einfach ja!
Er fuhr sich müde über die Augen. Und jetzt? Vor ein paar Tagen hatte Sophie darauf bestanden, dass er sein Versprechen einlöst.
Sophie, die Lebensgierige, lag hinter dieser Tür, wartete auf Janos - wartete auf Erlösung, die er ihr bringen sollte.
Der Tod würde kommen! Bald!
Er drückte die Klinke nieder! Leise schnarrte die Tür auf.
Dämmriges Licht und wohlige Wärme, die murmelnd aus der Heizung kroch, empfing ihn. Im Lichtschalter blinkte ein kleines Dauerlicht, darunter ein roter Knopf. Langsam näherte er sich dem Bett, um das eine knisternde Sterilfolie gehüllt war. Schritt für Schritt trat näher - blieb neben dem Infusionsständer stehen.
Er griff in die Manteltasche, zog die kleine Ampulle heraus. Mit fahrigen Fingern brach er die Kapsel ab und zog den tödlichen Inhalt in die Spritze.
Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, rann ihm in die Augenbraue, blieb darin hängen.
Ich... ich kann es nicht, schoss es ihm durch den Kopf. Die Kanüle der Spritze blinkte kurz auf, ein Tropfen rann an der Nadel herab.
Abrupt stach er damit in die Infusionsflasche, drückte den Inhalt hinein. Er spürte wie sein Mund trocken wurde. In düstere Gedanken versunken zog er die Kanüle raus, schraubte sie ab und steckte sie in die kleine harte Plastikhülle zurück.
Er glaubte keine Luft mehr zu bekommen - er musste raus.
Schwer atmend lehnte er sich gegen die Wand, versuchte seinen Atem rhythmisch unter Kontrolle zu bekommen. Drinnen lag Sophie. Tropfen für Tropfen würde der Tod näher kommen - sie erlösen! Vielleicht warte gar nicht die Erlösung auf sie - vielleicht kam etwas viel Schlimmeres auf sie zu.
In seine düsteren Gedanken mischten sie leise schmatzende Schritte auf Linoleum, die lauter wurden - näher kamen. Er erkannte die Nachtschwester. Schwester Innocetia vom Heiligen Orden der... er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Er wusste nur, dass sie still und sanft war, ihre gelblichen Hände, übersät mit Altersflecken, auch kräftig zupacken konnten.
Sie kam direkt auf ihn zu, blieb vor ihm stehen. Ihre gütigen blauen Augen, eingerahmt in einen Kranz feiner Fältchen, suchten die seinen.
"Herr Breitner", grüßte sie freundlich und legte ihre Hand auf seinen Arm. Leicht zog sie ihn von der Tür von Zimmer 19. Widerstrebend folgte er ihr.
"Kommen Sie mit! Ihre Frau ist aufgewacht! Sie verlangt nach ihnen!"
"Mei...meine Frau?", stammelte Janos verwirrt, warf einen prüfenden Blick zurück.
"Nun..", erwiderte Schwester Innocentia, "es ging ihr nach der Chemotherapie gar nicht so gut, deshalb haben wir sie ein bisschen länger auf der Intensivstation gelassen!"

 
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Kommentare  

Da offenbart sich eine leidenschaftliche Erzählerin.. spannend, flüssig und mitreißend aufgeschrieben.

Trainspotterin (16.10.2002)

Du liebes Bisschen!
Ich habe die Geschichte in einem Rutsch durchgelesen, konnte nicht aufhören. Immer diese überraschenden Turning points - das nenne ich Spannungsaufbau!
Zunächst glaubte ich, es handle sich hier um die Geschichte eines Drogensüchtigen auf der Suche nach dem nächsten Schuss, um sich die Realität zu "versüßen". Dann würgte ich am Kloß im Hals wegen der Szene an Sophies Bett, war mir bis zum Schluss nicht klar: Schafft er's, oder schafft er's nicht..? - Und dann das Ende. Der Hammer.
Mörder wider willen.
Wenn ich jemals eine Story gelesen habe, auf die das Wort "Spannung bis zum letzten Augenblick" zutrifft, dann diese. Alle Achtung und Hut ab!
5 Punkte - Sehr gut.


Gwenhwyfar (15.10.2002)

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