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Schatten (1)

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Sie gingen Hand in Hand über das goldgelbe Feld. Ihre Schatten folgten ihnen leise Schritt für Schritt in Richtung Sonne. Nur das Zirpen der Grashüpfer war zu hören und ihre kleinen Füße hinterließen schwache Abdrücke im sandigen Boden. Die Schatten folgten ihnen still ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen.
Die Luft war klar und in der Ferne waren nichts als Felder und Wiesen zu sehen. Der Geruch von Heu, Mais und Dünger lag ihnen in der Nase. Sie erreichten ihr Versteck, den riesigen Baum am Ende des Feldes. Die alte Buche hatte ihre besten Tage hinter sich und die Rinde war rissig und rau aber Schatten und Kühle spenden konnte sie immer noch so gut wie in Kindheitstagen.
Die beiden setzen sich in den Schatten. Ihre Rücken an den Baum gelehnt und immer noch Händchen haltend. Die Schatten hatten sich verzogen oder waren ihre eigenen Wege gegangen.
Tim kramte aus seinem Rucksack die Flasche Eistee und hielt sie Judy hin. Sie nahm drei kräftige Schlucke und lächelte ihn an. Er lächelte zurück, trank und sah über das Feld, über dem ab und zu ein Rabe kreiste.
„Was sollen wir machen? Runter zum See?“, fragte er.
„Lass uns noch eine Weile sitzen. Hier ist es kühl und mir gefällt es, wie der Wind um den Baum streicht und uns in der Nase kitzelt.“
Tim musste wieder grinsen und sah zu dem Raben. Er war gerne mit Judy zusammen. Sie war wie er. Eigentlich ein Träumer und Einzelgänger aber als sie vor vier Monaten hierher gezogen war und sie gemeinsam zur Schule gingen, waren sie wie Pech und Schwefel. Sie klebten jeden Tag aneinander und er war einfach glücklich sie gefunden zu haben. Sie ergänzte ihn und sie hatten Spaß, jede Menge Spaß und trotzdem kam auch das Träumen nie zu kurz. Einfach nichts tun. Rumzulaufen, Steine in einen See schnippen oder einfach nur auf einer Wiese zu liegen, um die Wolken zu betrachten. Zuzuschauen wie aus ihnen Löwen oder Nashörner wurden, nur um im nächsten Moment gleich wieder ihre Form zu ändern und was ganz anderes zu werden, wie ein Auto oder ein Flugzeug. Am besten waren die Dinosaurier dachte Tim, aber die waren echt selten zu sehen.
Er schaute wieder zu Judy. Sie hatte die Augen geschlossen und ihre Hand lag schlaff in seiner. Sein Lächeln löste sich auf, wie die Schleierwolken über ihm. „Judy, alles klar bei dir? Hey du, bitte veräpple mich nicht, das ist nicht wirklich witzig.“ Aber er wusste es besser, hatte es gewusst bevor die Wörter aus seinem Mund sprudelten. Es stimmte etwas nicht.
Er schüttelte sie sanft aber nichts geschah. Dann schrie er sie an: „Tu mir das bitte nicht an. Nein. Ich brauche dich. Mach deine Augen wieder auf!“
Ihre Lider bewegten sich und tatsächlich öffnete sie die Augen und er sah den Schleier über ihren sonst strahlenden grünen Augen. Sie verdrehten sich, suchten Halt, fanden keinen und schlossen sich wieder.
Er rüttelte wieder an ihr. Dieses Mal kräftiger. Wieder das Flimmern ihrer Augen. Zu und auf, zitternd und Angst machend. „Bitte Judy, bleib bei mir. Bleib wach!“ Noch ein Schütteln und ihre Augen fanden endlich Halt in seinen. Ein winziges Lächeln um ihren Mund erschien. „Was ist los? Bin ich eingeschlafen. Ich fühle mich…, so schlapp und todmüde.“
„Ich weiß es nicht Judy, du machst mir Angst. Du warst total weggetreten.“
Der Schleier auf ihren Augen wich zurück aber das Strahlen wollte einfach nicht erscheinen.
„Ich bring dich nach Hause. Aber du musst mir helfen!“
Er half ihr beim Aufstehen und mit ihrer Hilfe nahm er sie Huckepack. Es waren gut zwei Kilometer bis zu ihrem Bauernhof. Und es war heiß. Aber er gab nicht auf. Den ganzen Weg trug er sie. Sie half wenn sie bei Bewusstsein war aber immer wieder merkte er, wie sich ihr Körper entspannte und sich das Gewicht fast verdoppelte. Er schaffte es irgendwie nach Haus mit ihr.
Er konnte sich abends überhaupt nicht mehr daran erinnern, wie beschwerlich der Weg gewesen war. Die Angst sie zu verlieren überstrahlte einfach alles.
Er lag in seinem Bett und wartete. Wartete auf Nachricht und hoffte und betete, dass alles in Ordnung kommen würde.

Es klopfte und sein Vater betrat sein Zimmer. Tim suchte in seinen Augen nach Antworten aber sein Papa war verdammt gut im Bluffen.
Er setzte sich neben ihn aufs Bett und streichelte ihn wie so oft durch die Haare.
„Judys Vater hat eben angerufen. Es geht ihr soweit gut im Moment. Aber sie muss noch zur Überwachung ein paar Tage im Krankenhaus bleiben und es sind auch noch nicht alle Ergebnisse der Untersuchungen da. Also im Klartext heißt das wohl, dass die Ärzte im Moment noch nicht wirklich wissen, was deine Freundin hat.“
„Kann ich sie besuchen?“ „Ich denk schon, dass du morgen nach der Schule hin kannst. Ich werde dich fahren.“ „Danke Papa!“ „Kein Problem mein Freund. Tue ich gerne für dich.“ Es gab den üblichen Kuss auf die Stirn. An der Tür blieb er stehen und sah Tim an. „Ich wollte dir noch sagen, dass ich stolz auf dich bin und du heute Mittag alles richtig gemacht hast. Andere hätten sie vielleicht einfach alleine dort liegen lassen. Aber du hast sie nicht im Stich gelassen. Das hat mich schwer beeindruckt und Judys Eltern auch. Ich soll dir danke sagen für alles. Aber ich denke das werden die zwei auch noch persönlich machen. Und jetzt versuch zu schlafen.“

Sie umarmten ihn und Judys Mutter hatte Tränen in den Augen als er im Krankenhaus ankam. Sie sagten so oft danke, dass er total nervös wurde und überhaupt nicht wusste, was er sagen sollte.
„Nun geh schon rein, sie wartet“, sagte Judys Vater und erlöste ihn mit einem Lächeln.
Sie lächelte und ihre Augen glänzten wieder. Eine Last, wie ein tonnenschwerer Stein fiel ihm von der Seele. Er ging zu ihr und nahm ihre Hand. „War ich sehr schwer?“ „Ach was, du bist leicht wie eine Feder. Gut meine Knie haben die ganze Nacht gezittert aber sonst war alles okay.“ Sie lachten. „Wann darfst du wieder nach Hause? Ich will zum Baum oder zum See und alleine ist das echt doof.“ „Ich weiß nicht, Mama redet ein wenig um den heißen Brei herum und die Ärzte sehen ziemlich ratlos aus. Sie wollen noch mehr Untersuchungen machen. Keine Ahnung warum. Es geht mir eigentlich wieder gut.“
Sie unterhielten sich noch lange. Die Ärtze kamen und gingen. Ihre Eltern kamen und gingen und die zwei versanken in ihrer eigenen Welt.
Irgendwann kam Tims Vater und es wurde Zeit zu gehen. Tim drückte noch mal ihre Hand und sah nach draußen. Am Horizont sah er die Felder und hinter ihnen die langsam sinkende Sonne. Es sah aus, als würde die Sonne dort nach Hause kommen. Die Häuser und Menschen warfen lange Schatten und ein Rabe flog am Fenster vorbei...
 
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