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11 Seiten

Mission Titanic - Kapitel 7

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 7 – Blinder Passagier


Nordatlantik, 19:38 Uhr

Ike öffnete vorsichtig die Kabinentür und lunzte durch den Spalt. Es war niemand mehr auf dem Korridor zu sehen. Nachdem die Stewards mit Trompeten das Dinner angekündigt hatten, begaben sich die meisten Passagiere zu den Speisesälen. Dies war eine günstige Gelegenheit für ihn, um unbemerkt zum Bug der Titanic zu schleichen. Eine unheimliche Stille umgab ihn, während er zügig die menschenleeren Korridore entlang lief, als würde er sich auf ein Geisterschiff befinden. Nur ganz schwach konnte er das permanente Schruppen und Schnaufen der Maschinen wahrnehmen, dass weit unten aus dem Schiffsrumpf hervordrang.
Ike wollte unbedingt vermeiden, dass ihn ein bekanntes Gesicht über dem Weg lief. Schließlich waren genügend Handwerker von Harland & Wolff an Bord, die zwar in Kajüten der unteren Decks untergebracht wurden, aber da sie nun mal zur Garantie-Gruppe gehörten, konnten sie ihm durchaus überall überraschend begegnen. Nicht zu vergessen war, dass auch Aaron an Bord war und er dem Lausebengel durchaus zutraute, dass er irgendwann heimlich aus seiner Kajüte schleicht, um die Titanic zu erkunden, obwohl ihm dies strikt verboten wurde. Aaron würde sicherlich einen Freudenschrei ausstoßen und sofort seine Kameraden herbeirufen, wenn er plötzlich vor ihm stehen würde. Ebenfalls befand sich sein ehemaliger Chef an Bord, der Schiffskonstrukteur Thomas Andrews, diesen Mann er auf gar keinen Fall begegnen wollte. Ike hatte ihn nämlich bezüglich seiner Kündigung mit einer Ausrede angelogen, dass er wieder zurück in die Niederlande zu reisen beabsichtigte, zu seiner Familie und seinen Freunden, weil ihn nun nichts mehr in Irland hielt. Diese Begründung hatte Mr. Andrews auch anstandslos hingenommen und nicht einmal versucht, ihn mit einer Gehaltserhöhung zu ködern, damit er seine Absichten noch mal überdenken würde.

Ike marschierte zügig durch die hell beleuchteten Korridore und eilte einige Treppenaufgänge hinauf. Hin und wieder begegneten ihm dennoch einige Passagiere, an denen er aber grußlos vorbeihuschte. Manchmal musste er sich kurzzeitig hinter einer ausgewachsene Topfpalme verstecken, diese man insbesondre bei den großen Treppenhäuser vorfand, oder er stellte sich einfach vor einer fremden Kabinentür und tat so, als würde er aufschließen, wenn gerade zu viele Leute anwesend waren und er einen unerlaubten Treppenaufgang benutzen musste. Um Mr. William Murdoch zu kontaktieren musste es ihm irgendwie gelingen, mindestens in die Nähe der Kommandobrücke zu gelangen. Dazu musste Ike jedoch zwangsweise die Bereiche der Ersten-Klasse betreten, wobei er sich keinesfalls erwischen lassen durfte.
Durch eine Luke gelangte er schließlich nach draußen und erreichte eine Stahltreppe, die hinauf zum Promenadendeck führte, allerdings war dieser Aufstieg bereits mit einer Eisenkette abgesperrt worden. Aber diese Barriere stellte nun wirklich kein großes Hindernis dar – er stieg einfach über die Kette, flitzte hinauf und eilte daraufhin die nächste Stahltreppe hoch, bis er endlich auf dem obersten Bootsdeck angekommen war.
Ike hatte sich seine Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen und seinen Mantelkragen hochgestellt, ging bei den Davits in die Hocke und versteckte sich zwischen zwei abgedeckte Rettungsboote. Es war bitterkalt. Er rieb sich die Hände und hauchte sie an. Oben auf dem Bootsdeck war der frostige Fahrtwind ganz besonders zu spüren. Er blickte kurz hinauf zum sternenklaren Nachthimmel und blies sichtbaren Atemhauch hinaus. Nach seinen Berechnungen zufolge müsste sich der Satellit zurzeit über den Nordatlantik befinden, also durfte Ike sich jetzt absolut keine Aufmerksamkeit erlauben. Als er rundherum keine Menschenseele erblickte, rannte er über das Deck, um sich im Schatten eines der riesigen Schornsteine zu verschanzen. Das Bootsdeck war schließlich stellenweise mit Scheinwerfer beleuchtet und er konnte es keineswegs ausschließen, dass ihm selbst zur späten Abendstunde keine Spaziergänger mehr begegnen würden.
Ike überblickte im Schutze der Dunkelheit einen Moment in gebückter Stellung das Deck. Er befand sich bereits oberhalb des Funkerraums und ungefähr zwanzig Meter weiter, hinter dem vordersten Schornstein, war schon das Dach der Kommandobrücke zu sehen. Er beabsichtigte sich erstmal hinter dem zusätzlichen Rettungsboot zu verstecken, dass am vordersten Schornstein befestigt war, um herauszufinden, ob William Murdoch diese Nacht das Schiff überhaupt befehligen würde. Als er gerade los sprinten wollte, wurde er plötzlich von hinten gepackt.
„Moment mal, Freundchen, was hast du hier zu suchen?!“, blökte der kräftige uniformierte Matrose, wobei er Ike am Kragen festhielt und ihn rüttelte. „Der Aufenthalt hier oben ist für schäbige Emigranten, wie du einer bist, strengstens verboten!“
Für einen Augenblick spielte Ike mit dem Gedanken ihn einfach zu überrumpeln und niederzuschlagen, aber da der kräftige Mann regelrecht brüllte, waren sogleich weitere Matrosen erschienen. Die anderen zwei uniformierten Männer beleuchteten mit ihren Taschenlampen sein Gesicht, sodass Ike blinzeln musste. Kapitulierend hielt er seine Hände hoch, woraufhin er nach Waffen abgetastet wurde. Ike war in dem Moment froh gewesen, dass er sich dazu entschlossen hatte, seine EM23 Schnellfeuerwaffe nicht bei sich zu tragen, sondern in seiner Kabine zu verstecken. Das einzige was sie in seiner Manteltasche fanden und ihm auch sogleich abnahmen, waren zwei Äpfel.
„Gentlemen, so beruhigen Sie sich doch bitte. Ich bin kein Emigrant, sondern ein Zweite-Klasse Passagier!“, betonte er. „Ich wollte mich nur ein bisschen umsehen, sonst weiter nichts.“
„Ach ja? Dann zeig uns mal dein Ticket, du Knilch.“
„Das, ähm … das habe ich selbstverständlich jetzt nicht dabei. Wenn es aber unbedingt nötig ist, dann führe ich Sie selbstverständlich zu meiner Kabine und beweise es Ihnen“, schlug Ike zähneknirschend vor aber hoffte insgeheim, dass sie ihm glaubten. Denn falls er nun durch das halbe Schiff abgeführt zu seiner Kabine gezerrt werden würde, wäre dies alles andere als unauffällig, zu allem Überfluss würde die Sicherheitszentrale mithilfe der unzähligen installierten Mikrokameras sicherlich mitbekommen, dass er sich auf der Titanic aufhielt.
Die Matrosen grinsten sich gegenseitig verstohlen an und nickten, denn falls er tatsächlich kein Dritte- sondern ein Zweite-Klasse Passagier war, wie er es behauptete, wäre dies sogar vorteilhafter für die Herrschaften, weil er aufgrund dessen kein Habenichts sondern zahlungsfähig wäre.
„Das würde dir auch nichts nützen, denn das hier ist ein Bereich der Ersten-Klasse! Wenn man es also genau nimmt, bist du ein blinder Passagier. Du hättest tiefer in dein Portemonnaie greifen müssen, um dich hier etwas umzuschauen, Arschling“, zischte ihn sogleich der andere Matrose an, wobei er ihm die Taschenlampe näher ins Gesicht hielt und ihn weiter blendete, während er genüsslich in seinen beschlagnahmten Apfel biss.
„Genauso ist es!“, führte der Kräftige schadenfreudig grinsend das Gespräch fort, packte ihn nochmal am Kragen und rüttelte ihn erneut, wobei er Ike genau in die Augen schaute. „Wir sollten diesen blinden Passagier zum Zahlmeister bringen, der wird sich um diese Angelegenheit schon kümmern und ihn unter Arrest stellen. Dann hat er, bis wir New York erreicht haben, genügend Zeit über seine Dummheit nachzudenken. Oder wie seht ihr das, Männer?“, fragte der Matrose zynisch in die Runde, woraufhin seine Kameraden ihm schäbig lachend zustimmten. Ike seufzte.
„Okay, hört mich bitte an, Gentlemen. Das ist doch nun wirklich nicht nötig“, lenkte er lächelnd ein. „Ich wusste einfach nicht, dass ich mich hier oben nicht aufhalten darf. Ehrlich! Daher bitte ich euch um Gnade, dass ihr mich einfach laufen lasst. Was habe ich denn schon Großartiges verbrochen? “
„Versuchst du uns etwa zu vergackeiern, Arschling? Es steht überall geschrieben, wer sich auf dem Schiff wo und wann aufhalten darf. Oder kannst du etwa nicht lesen? Außerdem sind alle Treppenaufgänge abgesperrt worden, diese Botschaft müsste selbst für einen Analphabeten verständlich sein.“
Ike erkannte, dass jetzt jegliche Ausrede vergebens wäre und er sich nur weiter verstricken würde, also versuchte er es mit der Taktik einen Unschuldigen zu mimen, indem er sich ängstlich verhielt, die Männer mit großen Augen gespielt hektisch anblickte und dabei sogar stotterte.
„I-ich entschuldige mich vi-vielmals für mein törichtes Benehmen, Sirs, und verspreche Ihnen, dass ich mich fortan an die Schiffsregeln halten werde. Bitte-bitte lassen Sie mich einfach laufen. Ich hab’s ja begriffen, dass ich etwas falsch gemacht habe“, bekundete er gespielt verängstigt.
„Ach, halt die Klappe, gar nichts hast du kapiert! Deine Einsicht schätzen wir zwar und wir nehmen deine Entschuldigung auch zur Kenntnis, aber leider ist das nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Wir dürfen dich nicht einfach so gehen lassen, denn wir sind dazu verpflichtet, dich dem Zahlmeister zu überliefern“, lächelte der Matrose überheblich. „Wo kämen wir sonst bloß hin, wenn jeder dahergelaufene Hanswurst auf der Titanic rumspaziert, wie es ihm beliebt? Dann wären wir ja praktisch überflüssig und arbeitslos obendrein, aber wir alle haben Zuhause ein paar Mäuler zu stopfen. Jetzt endlich kapiert?“
Sachtes Gelächter ertönte. Ike schaute abwechselnd in ihre schmunzelnden Gesichter, überlegte einen Augenblick, kniff dann seine Lippen zusammen und nickte stetig.
„Alles klar. Jetzt habe ich verstanden, Gentlemen“, antwortete er seufzend, knüpfte seinen Mantel auf, holte aus der Innentasche seiner Oberweste ein Geldbündel hervor, blätterte durch und hielt jeweils drei englische 10-Pfund Geldscheine in die Höhe, diese ihm sogleich aus der Hand geschnappt wurden. Doch der bullige Matrose war offenbar noch nicht zufrieden und starrte ihn an, wie er sein beachtliches Geldbündel wieder einsteckte.
„Tja Arschling, das reicht uns aber leider noch nicht. Noch lange nicht. Da musst du noch was locker machen, wenn wir dich laufen lassen sollen“, grinste er.
Daraufhin begann Ikes Gemüt zu brodeln an, trat einen Schritt näher, sodass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten, und stieß ihn mit dem Zeigefinger an.
„Jetzt hören Sie mir mal gut zu … Mister. Sie und Ihre ehrenwerten Kollegen überschätzen Ihre Position gewaltig. Denn ich glaube kaum, dass die White Star Line Korruption befürwortet, aber wir können dies gerne in Anwesenheit des Zahlmeisters ausdiskutieren und dann herausfinden, wer tatsächlich unter Arrest gestellt wird. Ich jedenfalls gehe davon aus, meine Herren, dass ihr auf der Rückfahrt nach Southampton dann nicht mehr im Dienst seid. Ich mache euch jetzt ein anderes Angebot, geehrte Sirs: Ihr lasst mich hier weiter umsehen, wobei ihr euch selbstverständlich zu verpissen habt, ihr dürft euer beschissenes Kopfgeld behalten und ich werde euch dafür nicht anschwärzen“, schlug Ike lächelnd vor. „Falls ihr es aber dennoch wagt, mich abzuführen, werde ich euch alle Mann wegen räuberischer Erpressung dran kriegen. Und wenn es sein muss, werde ich mich an den Kapitän wenden. Dann wird euch verfluchte Bande der Arsch aber mächtig aufgerissen werden, verlasst euch drauf!“, fauchte Ike.
Daraufhin blickten ihn die Matrosen überrascht an, wichen gar einen Schritt zurück und hielten einen Moment inne. Solch ein aussagekräftiges Argument hatten sie von einem Angsthasen, wie er zuerst zu sein schien, absolut nicht erwartet.
„Hört, hört, das sind starke Worte, mein Freund. Ziemlich starke Worte sogar“, antwortete der Kräftige, musterte ihn und blickte ihm finster ins Gesicht.
Mittlerweile wurden aufgrund der lautstarken Diskussion einige spazierende Herrschaften angelockt, die nun neugierig umherstanden und Ike anstarrten, als wäre er ein Verbrecher. Diese Situation war für Ike mindestens genauso unangenehm, wie auch für die Matrosen. Immerhin lag es keineswegs in ihrem Interesse, dass nun einige Passagiere erfahren, wie sie ihr Gehalt etwas aufzustocken versuchten.
„Na los, verschwinde endlich und lass dich hier oben bloß nie wieder blicken!“, ermahnte ihn daraufhin der dicke Matrose lautstark und schubste Ike zum Treppenabgang hinüber. Mit ernsten Blicken beobachteten sie ihn, wie er missmutig die Stahltreppe hinunterstieg und nach achtern im Dunkeln verschwand.
Ike musste sich selbst eingestehen, dass sein Plan doch nicht so einfach umsetzen war, wie er es sich`s vorgestellt hatte. Griesgrämig trottete er im Dunkeln den langen Weg zurück zum Achterdeck und überlegte dabei, wie er diese Nacht ungehindert nach vorne zum Bug des Schiffes gelangen könnte. Er schaute immer wieder hoch hinauf, wie die Matrosen ihn auf dem Bootsdeck verfolgten und ihm drohten, dass er endlich verschwinden sollte. Der eine Matrose nahm sogar seinen angebissenen Apfel und bewarf ihn damit, um ihn schneller zum Laufen zu ermutigen.
„Dein Gesicht haben wir uns gemerkt! Wenn du uns noch einmal in die Quere kommst, dann Gnade dir Gott!“, drohten sie ihm wütend.

Es war zwar erst Donnerstagabend und Ike hatte praktisch noch drei Tage lang Zeit seinen Beamer zu beschaffen, bevor die Titanic sinken würde, aber auf einem Schiff, wo man sich zwangsläufig begegnete und die fremden Gesichter bald jedermann zuordnen vermochte, war es für ihn ratsam, sofort zu handeln, bevor die Leute über sein merkwürdiges Verhalten aufmerksam werden würden. Außerdem hatte er sich bereits unbeliebt gemacht und dieser Vorfall würde sich unter allen Matrosen sicherlich rasch herumsprechen.
Auf dem Poopdeck angekommen schlenderte er zur hintersten, gerundeten Reling, zündete sich eine Zigarette an und blickte nachdenklich in die Dunkelheit. Über ihm flatterte die englische Flagge am Fahnenmast wild im Wind und unter ihm, mehr als zwanzig Meter tief, rauschte schäumendes Meerwasser, das von den Schiffsschrauben aufgewühlt wurde.
„Verdammt, was mach ich jetzt bloß?“, murmelte er verdrossen vor sich hin. „Wie komm ich heute Nacht an Murdoch ran? Es muss mir heute noch unbedingt gelingen … Es muss!“
Plötzlich vernahm er kratzende Geräusche von Pfoten, die auf dem Dielenboden entlang wetzten, ebenso ein hektisches Hecheln, als würde ein Tier angeflitzt kommen. Als er über seine Schulter blickte, sah er im Lichtschein der Scheinwerfer einen kleinen Hund, der ihn zunächst nur regungslos anstarrte. Als das Hündchen ihn dann sogar anknurrte und kläffte, schmunzelte er und ging in die Hocke.
„Nanu, was bist du denn für einer?“, sprach Ike beruhigend auf ihn ein. „Wem bist du denn ausgebüxst?“
Daraufhin wackelte sein gekringeltes Schwänzchen und er hechelte dabei. Der Mops nieste einmal, schüttelte sich und ließ sich von Ike schließlich problemlos streicheln. Das zuerst giftig wirkende Hündchen schien plötzlich total in Ike vernarrt zu sein, sprang auf seinen Schoß und schleckte sein Gesicht ab.
„Constantin! … Constantin! Constantin, wo steckst du schon wieder?!“, hörte Ike eine Frauenstimme rufen. Er erkannte eine ältere Dame, mit einem eleganten Abendkleid und einem riesigen Hut bekleidet, die über das Poopdeck stolzierte und ihren weiten Rock etwas anhob, um unter die Sitzbänken zu schauen.
„Ihr kleiner Racker ist hier, Ma'am!“, rief Ike und winkte ihr zu.
Die alte Dame tippelte ihm keuchend entgegen, wobei die Absätze ihrer schwarzen Lackstiefel auf dem Dielenboden klackerten.
„Gott sei Dank, Sie haben meinen Constantin eingefangen. Ich bin Ihnen sehr verbunden, junger Mann“, sprach die Dame hochgestochen und tupfte sich dabei mit einem Taschentuch das Gesicht ab. „Mein Constantin ist mir wiedermal weggelaufen, nachdem er sein Häufchen gemacht hatte, obwohl er mir mit seiner Pfote hoch und heilig versprochen hatte, diesmal gehorsam zu sein und nicht wieder auszureißen.“
„Sie sollten Ihren Hund lieber an der Leine lassen, geehrte Ma'am. Das Schiff ist sehr groß und er könnte in ein Schlupfloch geraten, wo er nicht mehr hinaus gelangt und ihn auch niemand mehr finden kann. Es wäre wirklich schade, wenn dem kleinen Burschen solch ein tragisches Schicksal widerfahren würde. Meinen Sie nicht?“
Die alte Dame lächelte.
„Möglicherweise haben Sie recht, junger Mann. Ich habe zwar bereits dutzende Kreuzfahrten unternommen, schon damals, als ich noch ein junges Ding war und mein Ehegatte noch gelebt hatte und kenne mich daher auf Dampferschiffen eigentlich gut aus. Aber die Titanic ist so unvorstellbar gigantisch, dass ich mich wahrscheinlich erst auf der Rückfahrt nach Southampton einigermaßen zurecht finden werde, wenn überhaupt. Constantin, sei jetzt artig und komm zu mir! Bei Fuß! Belästige den netten Herrn nicht!“, befahl sie ihrem kleinen Hund, doch der Mops fühlte sich bei Ike pudelwohl und genoss stattdessen seine Streicheleinheiten, als seinem Frauchen zu gehorchen. Plötzlich runzelte die alte Lady die Stirn und blickte Ike verwundert an.
„Dass sich mein Constantin von Ihnen einfach anstandslos streicheln lässt, ist bemerkenswert, junger Mann. Normalerweise bellt er jeden Fremden andauernd an, und schnappt auch gerne mal zu.“
Ike streichelte das Hündchen, knuddelte ihn und ließ sich von ihm weiter abschlecken. Für einen Moment war gar etwas wie Heiterkeit in seinen blauen Augen zu erkennen. Dann erhob er sich.
„Na ja, wissen Sie … vor nicht allzu langer Zeit besaß ich selbst einen Hund. Einen Schäferhund allerdings. Sie hieß Laika. Hunde spüren sowas möglicherweise“, antwortete Ike niedergeschlagen, während er den niedlichen Mops streichelte und ihn dabei nachdenklich anschaute.
„Oh, ist Ihr Hund etwa gestorben?“, hakte die Frau interessiert nach.
„Nein, Ma'am, Laika geht es bestens und sie ist nun in sehr guten Händen. So leid es mir tat, aber ich musste sie verlassen“, antwortete er betrübt.
Sie neigte ihren Kopf seitlich und schaute ihn mittleidig an.
„Das tut mir wirklich sehr leid für Sie. Und selbstverständlich auch für Ihre Laika, denn Ihr Hund vermisst Sie ganz bestimmt ebenso.“
Die alte Dame war ganz entzückt und wollte von Ike unbedingt die traurige Geschichte hören, wie er seine Laika bekommen und letztendlich abgeben musste. Aber erst nachdem sie von ihm erfahren hatte, dass er hundertprozentig kein 3. Klasse Passagier war schlug sie ihm vor, dass er sie hoch hinauf zum Promenadendeck begleiten sollte, um mit ihr dort gemeinsam zu spazieren. Ike war immerhin ein gutaussehender junger Kerl und obendrein ordentlich gekleidet – mit solch einer attraktiven Begleitung war die betagte Lady keineswegs abgeneigt, sich in der späten Abendstunde vor allen Augen der Gesellschaft zu präsentieren. Mögen sie doch alle glauben, was für einen tollen Burschen sie da als Enkelsohn hatte. Oder vielleicht glaubte die eine oder andere hochnäsige Lady sogar neidisch, er wäre gar ihr Liebhaber? Bei diesem Gedanke musste die alte Dame sich kurz verschämt die Hand vor dem Mund halten und schmunzeln. Dann tätschelte sie seinen kräftigen Arm.
„Wären Sie so freundlich, mich zu begleiten? Ich überlasse Ihnen auch gerne die Führung von Constantin. Er scheint ja Freundschaft mit Ihnen geschlossen zu haben“, meinte sie lächelnd, dies Ike dankend annahm, indem er anstandshalber seine Schirmmütze abzog und eine Verbeugung andeutete. Seine makellosen Manieren hatten der Dame schließlich geschmeichelt und sie überzeugt. Die betagte Engländerin hatte sich in Ikes Arm eingehakt und ließ sich von ihm führen. Nun hinderte ihn kein einziger Matrose daran, die Bereiche der Ersten-Klasse zu betreten.

Ike schwelgte in Erinnerungen und dachte momentan sogar nicht an sein Vorhaben, den 1. Schiffsoffizier William Murdoch zu kontaktieren und erzählte stattdessen der alten Dame enthusiastisch, wie er seine Laika damals vor drei Jahren auf dem Frühjahrsmarkt in Belfast ausgesucht und gekauft hatte, wie er mit seinem Hund gemeinsam seine Freizeit verbracht und wie Laika seiner Ehefrau einst das Leben gerettet hatte. Er spazierte mit der alten Dame über das hellbeleuchtete Promenadendeck, erzählte von seinem Hund und wie er von der Niederlande nach Irland gereist war, dass seine Ehefrau an einer Krankheit gestorben war, sein Onkel in Amerika ihm nun ein Erbe hinterlassen hatte und tischte ihr weitere Lügen auf, während sie in der späten Abendstunde immer wieder das Schiff umrundeten.
Aus allen Fenstern strahlten Lichter heraus und rege Gespräche, sowie die Musik des Orchesters war bis hinaus auf dem Promenadendeck zu hören. Hin und wieder begegnete dem ungleichen Paar einige angetrunkene Herren, mit Zylinderhut und Frack bekleidet, die in der frischen Luft eine Zigarre rauchten und dabei Scotch tranken. Das Promenadendeck war in der Abendstunde sehr belebt. Von überall her hörte man rege Gespräche und Gelächter, selbst sturzbetrunkene Leute traf man dort an, wobei diese sich dennoch weitaus besser benahmen, als die Trunkenbolde in einer Hafentaverne. Es begegneten ihnen aber auch vornehme Ehepaare beim nächtlichen Spaziergang, die genauso wie sie eingehakt waren und sie freundlich begrüßten. Ike hatte mittlerweile aufgrund seiner privilegierten Stellung als Vorarbeiter bei Harland & Wolff genügend Erfahrung gesammelt, um zu wissen, wie er sich auch in der High Society des anfänglichen Zwanzigsten Jahrhundert verhalten musste – Immer demütig grüßen, immer freundlich sein und dem Gentleman stets schmeicheln, welch Glückspilz er doch sei, solch eine wunderschöne Frau geheiratet zu haben, auch wenn er insgeheim die Meinung vertrat, dass dies gar nicht der Wahrheit entsprach.

Nachdem Ike die reiche, bejahrte Engländerin anstandshalber bis vor ihre Kabine auf dem B-Deck geführt hatte, zum vorderen Bereich des Mittelschiffs, sie sich nun nach einer weiteren kleinen Konversation von ihm endgültig verabschiedet und die Kabinentür endlich verschlossen hatte, atmete Ike erleichtert auf und lehnte seinen Kopf gegen die Tür. Jetzt befand er sich endlich in der unmittelbaren Nähe der Kommandobrücke. Er eilte den Korridor entlang, öffnete eine Tür und befand sich außerhalb, direkt über dem Bugdeck. Dort war der Fahrtwind ganz besonders frostig zu spüren, woraufhin Ike seinen Mantelkragen wieder hochstellte und mit kurzen flotten Schritten eine Stahltreppe hinunterstieg. Der Zutritt auf dem Bugdeck während der Übersee war allerdings für jeden Passagier verboten, weil dort die akute Gefahr bestand, bei stürmischem Seegang über Bord zu fallen. Es folgte noch eine Stahltreppe hinunter, und dann endlich erreichte er das riesige Bugdeck der Titanic.
Er blieb stehen, blickte hinter sich und starrte zu einer verschlossenen Luke von der er wusste, dass diese zum Frachtraum führte. Er hielt kurz inne und horchte erschrocken auf, weil er glaubte, eine bekannte Stimme vernommen zu haben. Einen Moment verweilte er noch – Ike kniff seine Augen und lauschte –, aber als er nichts weiter hören konnte dachte er, dies war nur Einbildung gewesen.
„Es hat sich eben wie die Stimme von Rijken angehört“, nuschelte er vor sich hin. Einen Moment verharrte er noch und horchte, versuchte aus dem Geräusch des heulenden Fahrtwindes, vermischt mit dem Rauschen des Meeres, irgendwelche Stimmen zu vernehmen. Aber als er nichts mehr hörte, schüttelte er mit dem Kopf, weil er sich erinnerte, dass Marko Rijken in Southampton von UE-Agenten abgeführt wurde. Es war also unwahrscheinlich, dass sich sein Erzfeind ebenfalls auf der Titanic befand, schließlich hatte Rijken zurzeit einen anderen Auftrag zu erledigen, entsann er sich.
Ike lief in der Dunkelheit langsam über das riesengroße Bugdeck, ging an der Verladeluke vorbei, passierte die imposanten Stahltrossen, die zum Festzurren des Schiffes an einer Hafenmole dienten, betrachtete die mächtigen Stahlketten des Ankers, lief am Ankerkran vorbei, lehnte sich letztendlich ganz vorne gegen die zugespitzte Reling und zündete sich eine Zigarette an. Der Fahrtwind wehte ihm eisig entgegen und er hörte intensiv die Wellen gegen den Schiffsrumpf aufschlagen. Er blickte mit seiner Nickelbrille hoch hinüber zur hell beleuchteten Kommandobrücke, und lächelte. Der 1. Schiffsoffizier William Murdoch befehligte diese Nacht tatsächlich die Titanic. Nun musste er sich nur noch irgendwie bemerkbar machen.
 
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