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2 Seiten

Alternativen

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Tom ist recht guter Laune. Das ist selten. Meistens ist er eher schlecht gelaunt.
Aber er ist ja noch jung. Gerade einmal 27 Jahre alt. Kann später noch besser werden. Vielleicht wenn er dann älter und weiser geworden ist.
Tom mag das Theater. Da geht er sehr gerne hin. Es macht seine Laune meist nicht besser, aber es zeigt ihm oft ein Leben, das er selbst nicht hat, auch nicht haben will, aber es zeigt ihm zumindest eine Alternative. Und eine diesbezügliche Alternative ist gut. Selbst dann, wenn es, wie meist, gar nicht erstrebenswert ist. Aber schon ganz alleine das Wort „Alternative“ hört sich gut an. So gut, dass man es sich zumindest mal anschauen kann.
Tom liest auch. Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund. Zwar bringt ihm auch das nichts, aber man muss ja etwas tun. Als Mensch. Allerdings aus der Sicht von Tom am besten irgendetwas, bei dem man nicht direkt mit anderen Menschen zu tun hat. Höchstens indirekt. So wie beim Theater. Denn die Mitmenschen sind es, die Tom so griesgrämig machen. Zumindest kommt es ihm oft so vor. Er versteht sie einfach nicht. Und sie verstehen ihn nicht. Passt ja dann auch wieder irgendwie.
All die Menschen, mit all ihren Bedürfnissen und Ansichten. Ansichten, die meist nur wenig reflektiert sind; von denen sie meist selbst gar nicht wissen, wo sie denn überhaupt hergekommen sind.
Versucht Tom mit einem seiner Mitmenschen zusammen mal zu verstehen, woher denn die Ansichten kommen könnten - auch in der Hoffnung, dass so auch für ihn das Gespräch ein wenig interessanter werden könnte, und damit auch seine Mitmenschen -, dann bekommt er es meist mit den heftigsten Widerständen zu tun, mit denen man überhaupt zu tun bekommen kann.
Tom ist mittlerweile der Ansicht, dass seine Mitmenschen, anders, als es bei ihm der Fall ist, oft gar nicht wissen wollen, woher deren Ansichten kommen. Manchmal kommt es ihm sogar so vor, als können sie es gar nicht wissen wollen, einfach weil sie Angst davor haben, was dabei herauskommen könnte; was zuvor dabei verdrängt worden ist. Weil sie vielleicht auch Angst davor haben, dass es sie verändern könnte; vielleicht gar dass das, was sie erreicht haben, so gefährdet wird; dass sie plötzlich nicht mehr im Stande sind, Dinge zu tun, die sie vorher getan haben.
Ist vielleicht er selbst der Einzige auf der ganzen Welt, der exakt genau dies über sich wissen will? Genau dies, was all die anderen Menschen um ihn herum eben nicht über sich wissen möchten; wissen können; wissen sollen?
Plötzlich hält er in seinem Gedankengang kurz inne.
Nicht wissen sollen...
Hm, vielleicht ist es tatsächlich so. Vielleicht wäre die Gesellschaft gar nicht möglich, so wie sie ist, wenn alle genau dies wissen wollen würden, was sie nicht wissen sollen; wenn jeder sich hinterfragt; wenn jeder fähig ist, sich selbst, seine Bedürfnisse, und damit die Grundlagen seiner eigenen Ansichten, zu verstehen. Denn dann würde jeder plötzlich auch dazu fähig werden, sich selbst zu verändern, und zwar ohne dass die Gesellschaft diesen Prozess gezielt mitgestaltet hat. Vielleicht würden wir dann manche Dinge, von denen die Gesellschaft will, dass wir sie wollen, eben nicht mehr wollen, und hätten auch bestimmte Ansichten nicht, von denen die Gesellschaft will, dass wir sie haben.
Sind dann vielleicht gar nicht so sehr seine Mitmenschen seine Gegner bei diesem Erkenntnisprozess, wie Tom immer gemeint hat, sondern viel mehr die Gesellschaft, die seine Individuen gezielt zu eben jenen Individuen macht, die die Gesellschaft braucht, um so funktionieren zu können, wie sie funktioniert? Mit all ihren Scheinfreiheiten, insbesondere im Bereich des Konsums; mit all ihren Klassen und Schichten, die deshalb auch nur sehr schwer zu durchbrechen sind; mit all ihren gesellschaftlich unterschiedlich bewerteten und damit auch vergüteten Berufsständen und damit verbundenen unterschiedlichen Chancen im Leben, etc?
So wird es wohl sein...
Und Tom ist wieder schlecht gelaunt, obwohl er doch ganz zu Anfang für seine Verhältnisse recht gut gelaunt war.
Träge greift er zu seinem Smartphone, und schaut sich das Programm der diversen Theater in seiner Stadt an. Das braucht er jetzt. Als Alternative. Selbst wenn es keine gute Alternative sein sollte.
Aber das Wort hört sich ja so schön an....
 
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