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5 Seiten

Ein Paradies für Schwerverbrecher

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Ich hatte lang mit mir gerungen. Scheiß drauf, was soll schon noch passieren?
Ich bin 78 Jahre alt und laut der letzten Auswertung meines Körperscans hab ich noch 17 Tage.
Genau genommen, hatte die Batterie, die meine künstlichen Nieren, sowie meinen Herzschrittmacher mit Energie versorgte, noch eine Kapazität von 17 Tagen und 5 Stunden.

Das ist nicht viel, aber in 17 Tagen kann man eine Menge erleben.
Ok, sollte ich erwischt werden, muss ich meine letzten 17 Tage, die mir noch bleiben, in Haft verbringen.
Ich war schon oft in Haft, es macht mir nichts mehr aus. Das letzte Mal war 2046 gewesen.
Sechzig Tage plus Sozialstrafe wegen illegalem Goldbesitz. Es war ein Medaillon gewesen, das ich von meiner Mutter geerbt hatte.
Ich weiß bis heute nicht, welcher Teufel mich damals geritten hatte, es nicht bis zum Stichtag bei einer der staatlichen Stellen abzugeben.
Ich hatte es einfach behalten.
Mein Krankenversicherungsstatus wurde auf Level Vierzig gesenkt.
Als ich herausfand, dass einer meiner Mitbewohner mich verraten hatte und ich ihm eine in die Fresse gehauen hatte, bekam ich nochmal 180 Tage und mein Versicherungsstatus wurde
auf Level Zwanzig gesenkt. Ja, nun bekomm ich nur noch das Nötigste. Auf keinen Fall würde ich eine neue Batterie bekommen. Mit Level 20 bin ich ein Schwerverbrecher. Egal, was brauch ich schon noch?
Um 12:47 bestellte ich ein Robocar. Neunzig Sekunden später war es da. Ich verließ die Gemeinschaftsunterkunft und stieg in die fahrerlose Eierschale.
Ich nannte mein Fahrziel: „17. Ecke 20.“ und hielt mein Handgelenk unter den Scanner.
„Der Fahrpreis in Höhe von 108 Euro wurde erfolgreich von ihrem Konto abgebucht.“
Die Nutzungsbestimmungen wurden abgespielt und dann fuhr die Elektrokarre los.
Ich vermisse die alten Zeiten, als Privatpersonen noch selbst ein Auto besitzen durften.
Meine Güte, wie lang ist das her? Zwanzig Jahre? Dreiundzwanzig Jahre!
Das Gefühl, selbst ein Auto zu lenken, verblasst langsam. Ich mag nicht dran denken, es macht mich wehmütig.
Das Robocar erreichte das Ziel und wünschte mir einen angenehmen Tag.
Oh ja! Wenn alles klappt, wird es ein angenehmer Tag, dachte ich.
Auch wenn mir das Laufen zusehends Beschwerden bereitet, ja so ist das mit Versicherungslevel Zwanzig, da gibt es keine Orthese, noch nicht mal eine alte elektromechanische, wollte ich die letzte Strecke zu Fuß zurück legen.
Es ist besser, nicht das Endziel einem Robocar anzuvertrauen, das es im Bruchteil einer Sekunde allen möglichen Behörden zur Auswertung schickt.
Schließlich ist eine Flucht kein Kavaliersdelikt. Das kann einem locker zwei Jahre einbringen. Auch wenn man nur noch 17 Tage hat.
Ich lief bis zur nächsten Ecke und achtete sorgsam darauf, nicht bei Rot über die Ampel zu laufen. Das würde mich weitere 900 Euro kosten, die im selben Moment von meinem Konto abgezogen werden würden. Ich konnte mir keine weiteren Ausgaben leisten, 100.000 Euro kostet der Weg ins Paradies. Nicht mehr und nicht weniger.
Ein Hologramm vor einem Lebensmittelmarkt, warb für synthetische Milch, 27 Euro der halbe Liter. Das war verdammt günstig, aber wenn ich es schaffe, kann ich in wenigen Stunden echte Milch trinken. Echte Milch. Der Gedanke daran ließ mich schneller laufen.
13:20 Uhr. Ich erreichte das Ziel.
Vertretung der Vereinigten freien Staaten von Europa, stand auf dem glänzenden Metallschild.

Rechts und links vom Eingang hingen schlapp die weiß-blau gestreiften Fahnen mit den fünf Sternen herunter.
Kalter Schweiß perlte auf meiner Stirn und meine Beine schmerzten.
Was wenn es eine Falle war? Scheiß drauf, ich hab nichts mehr zu verlieren. Entweder 17 Tage Haft oder 17 Tage Paradies. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich drückte auf den altmodischen Klingelknopf. Es gab keinen Scanner. Die Sekunden verstrichen wie Stunden. Endlich wurde die Tür geöffnet.
„Kommen Sie rein“ sagte die Frau. Ich schätzte sie auf Ende 30. Sie führte mich in einen kleinen Raum, der sich gleich links im Flur befand.
„Setzen sie sich.“
Ich setzte mich.
„Stecken sie ihre Hand hier rein“ sagte sie und deutete auf den grauen Kasten, der vor mir auf dem Tisch stand.
„Sind sie sich ganz sicher?“ fragte sie.
„Natürlich“ sagte ich: „sonst wär ich nicht hier.“
„Ich lese zuerst ihre Daten aus. Wie sie wissen darf die Lebenserwartung nicht mehr als 20 Tage betragen.“
„Ich weiß…“ sagte ich.
„Die vereinbarte Summe wird abgebucht und danach lösche ich ihren Chip.
Fünftausend Euro der Summe werden, zum Tageskurs, umgerechnet auf ihren neuen Pass, den sie dann gleich erhalten, aufgeladen. Damit können sie direkt einkaufen oder auch Bargeld vom Automaten abheben.“
Bargeld, dachte ich. Es stimmte also wirklich. Es war keine Verschwörungstheorie.
„Ja“ sagte ich leise.
Der Apparat summte leise und ich verspürte ein leichtes Kribbeln in meiner Hand.
Nach zwei Minuten war schon alles vorbei.
Sie überreichte mir eine Plastikkarte.
„Herzlichen Glückwunsch. Sie sind jetzt Bürger der Vereinigten freien Staaten von Europa.“
Sie führte mich aus dem Raum hinaus, weiter den Flur entlang, durch einen Hinterausgang in einen kleinen Hof. Hier stand ein echtes Auto, zwar ein elektrisches, aber verdammt nochmal, das Ding hatte ein Lenkrad und hinter dem Lenkrad saß ein Mensch!
Sie öffnete die hintere Tür und ich stieg ein: „Alles Gute für sie. Auf Wiedersehen.“
Wohl eher nicht, dachte ich.
„Halten sie an der Grenze einfach ihren neuen Pass hin.“ sagte der Fahrer.
Ich nickte.
„Die Unterkunft und Verpflegung ist alles inklusive für maximal 20 Tage... aber das wissen sie sicher alles bereits.“
Ich nickte wieder.
An der Grenze kontrollierte ein echter Mensch meinen neuen Pass. Danach winkte er uns durch. Das war alles? So einfach? Warum war ich nicht eher gegangen, vor dreißig Jahren wäre es noch möglich gewesen.
Jetzt kommt man nur noch rein, wenn man ohnehin maximal noch 20 Tage zu leben hat.
Ich hab noch 17 und das Paradies kostet mich trotzdem 100.000. Es kostet immer 100.000, selbst wenn man nur noch einen Tag zu leben hat. Aber scheiß drauf. Ich schaue zum Fenster hinaus und sehe zum ersten Mal, seit vielen Jahren, Leben. Verdammt, das ist jeden Euro wert. Es ist laut, bunt und hektisch. Hier fahren Autos mit echten Motoren, ich sehe Leute mit Einkaufstüten.
Mein Gott, jetzt erst spüre ich, wie sehr ich das alles vermisst habe.
Der Fahrer hält und ich steige aus.
„Hotel Stadthof“ steht über dem Eingang. Das wird also meine Unterkunft für den Rest meines Lebens sein. Ich bin aufgeregt wie ein kleines Kind.
Eine echte Rezeption mit einem Mensch dahinter. Einem verdammt hübschen Mensch.
Die Frau mit den langen blonden Haaren schaut meinen Ausweis an, tippt etwa in einem Computer. Meine Güte, so ein Ding hab ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Seit dem die private Speicherung von Daten auf Datenträgern verboten war und alles nur noch in der Staatscloud gespeichert werden darf, hatte ich nie mehr einen eigenen Computer besessen.
Zimmer 238 sagte sie freundlich und reichte mir einen echten Schlüssel.
Ich ging quer durch die kleine Eingangshalle und noch ehe ich den Fahrstuhl erreichte, blieb mir fast das Herz stehen. Ich traute meinen Augen kaum zu glauben. Dort stand ein Zigarettenautomat.
Ich hatte davon gehört, aber hielt es für ein Gerücht.
Hastig lief ich zurück zum Tresen.
„Ist hier rauchen erlaubt?“
„Selbstverständlich“ sagte die Blonde.
Ich konnte es nicht fassen. Rauchen wurde schon vor mehr als 20 Jahren verboten und die Mindeststrafe lag bei 90 Tagen plus Sozialstrafe.
„Ich.. ich habe kein Kleingeld“ sagte ich fast hysterisch.
„Der Automat funktioniert mit ihrem Pass.
Zigaretten kosten fünf Mark.
Speisen, Getränke, Schwimmbad, Sauna, Kino, Stadtrundfahrten.. sind inklusive.“ sagte die Blonde und lächelte mich an.
„Eine genaue Liste mit allen Inklusivleistungen finden sie in ihrem Zimmer.“ fügte sie hinzu.
„Wie viel Geld habe ich auf meiner Karte? Können Sie das herausfinden?“ fragte ich und hielt ihr meinen Pass hin.
Sie schob ihn in ein Lesegerät und drehte den Bildschirm zu mir herum.
Ihr Guthaben beträgt 376 Mark, stand da.

Ich lief zum Automat, fand den Schlitz für den Pass und wählte die Sorte aus.
Meine Hände zitterten vor Aufregung als ich die Schachtel in der Hand hatte.
Wieder lief ich zum Tresen.
„Wo gibt es hier Feuer?“ meine Stimme überschlug sich fast.
Die Blonde hielt mir ein Streichholzbrief hin, auf dem der Name des Hotels aufgedruckt war.
„Feuerzeug, Kugelschreiber.. finden sie auch alles in ihrem Zimmer. “
Ich lief so schnell ich konnte zum Fahrstuhl, rief „Danke“ und drückte auf den Knopf.
Schon im Fahrstuhl riss sich die Packung Zigaretten auf und steckte mir eine in den Mund.
Im zweiten Stockwerk angekommen lief ich den Flur zunächst in die falsche Richtung, kehrte dann um und fand mein Zimmer.
Das Zimmer war großartig, ein großes breites Bett, ein TV-Gerät hing an der Wand. Es gab einen Tisch, einen bequemen Sessel. Neben dem Bett stand ein kleines Schränkchen.
Als ich die Tür zum Badezimmer öffnete, schossen mir die Tränen in die Augen.
Genau wie in meiner Kindheit. Ich war tief berührt. Eine Dusche, ohne Wasserbegrenzung und es gab eine Wanne. Eine richtige Badewanne. Ich drehte den Wasserhahn auf, um mich zu vergewissern, dass er nicht nur Attrappe war. Tatsächlich, es floss Wasser aus dem Hahn, ohne das man dafür bezahlen musste, ohne die Begrenzung von 4 Litern pro Tag.
Ich riss ein Streichholz aus dem Brief und zündete die Zigarette an. Ein heftiger Hustenanfall ließ meinen Brustkorb erzittern und der Rauch brannte in den Lungen. Scheiß drauf, es war so wundervoll.
Ich ließ mich aufs Bett fallen, starrte an die Zimmerdecke und rauchte. Eine und dann noch eine.
Es war jeden verdammten Euro wert.
Nachdem ich meine erste Gier überwunden hatte, blätterte ich in dem Prospekt des Hotels.
Man konnte für 69 Mark ein Auto mieten, einen ganzen Tag lang! Das werde ich mir für meinen letzten Tag aufheben. Auto fahren und dabei rauchen und Musik hören.
Aus dem Schränkchen neben dem Bett lag die Fernbedienung. Ich war überwältigt. Es gab hunderte Kanäle. Es wurde gesungen, getanzt, geschossen, Kochtöpfe angepriesen und diskutiert.
In meiner Gemeinschaftsunterkunft gab es nur zwei Kanäle. Natürlich nur in schwarz-weiß, das würde weniger Energie kosten und sei besser für die Umwelt, hatte man uns vor 25 Jahren erklärt und alle anderen Kanäle verboten.
Ich blieb kurz bei einer Nachrichtensendung hängen. Ein echter Mensch saß an einem Tisch und las Nachrichten vor.
„Die oberste Führerin der Neokommunistischen Partei Deutschland lehnt weiterhin jeden Dialog mit den Vereinigten freien Staaten von Europa ab. Währenddessen verschärft sich die humanitäre Lage in der abtrünnigen Teilrepublik Sachsen. Seit Dienstag werden keine Hilfstransporte mehr durchgelassen.“
Neben dem Nachrichtensprecher wurde ein Bild der obersten Führerin eingeblendet. Sie hatte sich in den letzten 40 Jahren nicht verändert. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich, ihr Versicherungslevel würde bei dreihundertsechzig liegen. Mit diesem Level kann man locker 250 Jahre alt werden.
Ich schaltete den Fernseher aus und öffnete das Fenster. Ich konnte mich nicht sattsehen an dem bunten Treiben auf der Straße. Das Geräusch vorbeifahrender Autos, Kinderlachen auf dem Bürgersteig und die Vögel in den hohen Laubbäumen. Alles war echt, keine Konserve, die man sich für 150 Euro in einem RealityRoom anhören konnte.
Das alles werde ich 17 Tage genießen können. 17 Tage, für die ich die letzten 10 Jahre gehungert hatte, um das Geld zusammenzusparen. Es hat sich verdammt nochmal gelohnt.
Ich zündete mir eine weitere Zigarette an und lächelte zum ersten Mal seit 45 Jahren.
 
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Kommentare  

Das freut mich. Ich bin ein Fan Deiner Geschichten
und warte gespannt auf eine neue.
Gruß


rosmarin (03.03.2023)

@ rosmarin
@ Stefan Steinmetz
Vielen Dank für die Kommentare. Ich war längere Zeit nicht hier, ich gelobe Besserung ;)


AndreaSam15 (02.03.2023)

Toll! Und das hast Du 2019 geschrieben. Das
nenne ich - seiner Zeit voraus sein -. Du weißt,
alles Fantastische, das niedergeschrieben wird,
wird einer Tages real. Und von dieser
unvorstellbaren Realität sind wir nicht allzu weit
entfernt. Wenn wir nicht nicht mit allen uns zur
Verfügung stehenden Kräften dagegen an
kämpfen. Heute könnte man diesen Text sogar
noch mit Klima, Corona, Krieg, hungern, frieren,
Wärmegemeinschaftsunterkünften im Winter,
Massengräbern und vielerlei Entsetzlichem
anreichern und zum Trost eine "Grüne Soße"
löffeln.


rosmarin (31.07.2022)

Gruselig, traurig und auf melancholische Weise
auch schön. Leider könnte diese Geschichte wahr
werden. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es
bereits anfängt. Ich hoffe, ich habe die Knete
beisammen, wenn meine letzten 20 Tage
beginnen.


Stefan Steinmetz (30.07.2022)

Ziemlich gruselige Vorstellung (und leider kein Utopie) und trotzdem musste ich lächeln. Ich hoffe wir werden nicht zu schnell zu Schwerverbrechern!

Daniel Freedom (12.09.2019)

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