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Schwarze Schwäne - Weiße Schwäne, Teil 1 - AUF DEM STROM

Romane/Serien · Nachdenkliches
Vivaldi, der Winter: Hardy hat es mir oft vorgespielt, ich liebte diese mir unbekannte Musik, ich liebte auch das mit Hardy, Sex mit Hardy war das Beste, was ich jemals mit einem Mann erlebt habe. Und mit seinen vier Jahreszeiten passt Vivaldi gut zu diesem Drama, es ist so schrill mit diesen Geigen - und kurz darauf so sanft, so bestimmend, dann wieder so schrill, danach wieder penibel geordnet. Klirrender Frost und eisige Kälte trifft auf sanften Schnee. Mist! Vivaldi kommt meinem Geisteszustand sehr nahe - obwohl ich eher Joy Division liebe. Aber Vivaldi spielen sie nicht im Hawaii - und Joy Division leider auch nicht.

https://www.youtube.com/watch?v=p1qNOfdMyGA (Vivaldi - der Winter) Hören geht so: Den langen Link markieren, mit der rechten Maustaste in die Markierung klicken und im Menü auswählen: 'Link in neuem Fenster öffnen'. Video starten, das Fenster minimieren und hier weiterlesen. Ja hoffentlich! ;-)

Denn wieder einmal stehe ich im Hawaii kurz vorm Feierabend an der winzigen Tanzfläche und schaue den Leuten beim Tanzen zu. Jeder hier tanzt für sich alleine. Manche machen komische Verrenkungen, so wie der Typ mit den langen fettigen Haaren, der sieht aus, als ob er einen Fruchtbarkeitszauber zelebriert.
Komisch, dass ich gar nicht lachen kann. Das Lachen ist mir vergangen. Und mittlerweile muss ich feststellen, dass ich – oh Gott – ich bin eine dumme Ziege, eine blöde Kuh, ich bin so dämlich, dass ... Ach Mist!
Im Gegensatz zu damals bin ich klatschnass. Meine Turnschuhe sind nass, meine Jeansjacke vollgesogen mit kaltem Regen, aber ich spüre nicht viel davon, bin wie betäubt und denke nach:
Vor ein paar Monaten stand ich auch hier, ich glaube sogar, es war die gleiche Stelle und es war genauso kurz vor Feierabend. Feierabend ist im Hawaii um drei Uhr morgens, dann wird immer ‚La vie en Rose’, gespielt, nicht die originale französische Version, sondern eine beschwingte Instrumentalfassung. Jeder im Hawaii fürchtet den Augenblick, in dem ‚La vie en Rose’ gespielt wird. Denn dann müssen alle raus. Und dann? Viel gibt es nicht in dieser Stadt. Vielleicht das unsägliche ‚Kaffeekännchen’, das erst um drei Uhr morgens aufmacht und in dem seltsame Leute verkehren, wahrscheinlich handelt es sich um den menschlichen Restmüll der späten Nacht. Dann ist da noch die ‚Almhütte’, wo es bis fünf Uhr morgens was zu essen gibt. Ist aber nur was für Pärchen, Nutten und Zuhälter.
Nein, Appetit habe ich im Augenblick nicht, der ist mir vergangen. Mir ist schlecht, fühle mich miserabel. In beide Lokale werde ich nicht gehen. Wozu auch, was soll ich dort? Ich kann nicht vor mir selber weglaufen, ich werde zu Fuß nachhause gehen, und vielleicht bin ich zuhause so müde, dass ich sofort einschlafe und den ganzen Mist vergesse. Zumindest bis zum Morgen ... Ich befürchte aber, ich kann gar nicht schlafen.
Wie konnte ich so naiv sein, zu glauben, dass dieser Mistkerl sich ändert. Es war von Anfang an ein einziger Krampf mit uns beiden. Es war ein beschissenes Spiel, und ein Kampf war es auch. Wir haben uns belauert und behakt. Und ich habe das Spiel und den Kampf verloren. Ich habe IHN verloren, falsch, er hat mir nie gehört, also konnte ich ihn gar nicht verlieren. Nein, ich habe mich selber verloren im Laufe von nur ein paar Wochen, ich habe Sachen getan, die ich mittlerweile furchtbar bereue. Wie konnte ich nur?
Etwas schiebt sich in meinen Sinn, es ist wie ein Songtext. Ich habe drei Gedichte erfunden in meinem Leben, und das ist mein zweites, aber es existiert nur in meinem Kopf. Gedichte? Soweit ist es mit mir gekommen?

Der Strom ist so breit
und das Ufer so weit
und du treibst auf ihm
verletzt und benommen
Wirst du je ans Ufer kommen?

Manchmal läuft alles schief
wenn du denkst es läuft gut.
du bewahrst deinen Stolz
verbirgst Qual und die Wut

Man erobert dein Herz
wie ein Dieb in der Nacht
und quetscht es dann aus
hat vielleicht noch gelacht

Der Strom ist so breit
und das Ufer so weit
und du treibst auf ihm
verletzt und benommen.
Doch du wirst ans Ufer kommen!

ICH habe mir diesen sentimentalen Mist ausgedacht? ICH - Tony genannt - mit dem bürgerlichen Namen Antonie? ICH, die ich mich als total realistische Person sehe ohne romantische Gefühle und so ein Zeugs? Unglaublich! Warum? Weil ich zu diesem Zeitpunkt total daneben war? Könnte sein ... Aber jetzt bin ich noch mehr daneben, will heißen: Ich bin erledigt!
Ich habe in den letzten Wochen viel nachgedacht über mich, über mein Leben, warum ich so bin wie ich bin - und ich bin dabei auf unangenehme Wahrheiten gestoßen. Ist aber egal, denn nichts daran kann geändert werden.
Jedenfalls stehe ich wieder hier an der winzigen Tanzfläche im Hawaii, gedankenverloren wie vor ein paar Monaten im Mai - und genauso alleine wie im Mai.
Sei nicht so sentimental, sagt mein Hirn mir gerade. Stimmt, auch das ist falsch, damals war ich zwar alleine, aber heute weiß ich, was dieses Wort wirklich bedeutet.
Eine halbe Stunde vorher hatten Susanne und ich engumschlungen hier getanzt, und Susanne sah dabei so hingebungsvoll aus, wie sie normalerweise nur aussieht, wenn sie einen Mann anmachen will. Ich glaube aber, sie wollte MICH an diesem Abend anmachen. Warum? Susanne hat so viele Männer gehabt, dass ich sie kaum aufzählen kann, dagegen bin ich sexuell ein Waisenkind, obwohl ich drei Jahre älter bin als sie. Sie wollte es wohl mal mit einer Frau versuchen zur Abwechselung. Aber ich fühlte mich unbehaglich. Ich bin nicht lesbisch und werde es wohl auch nie sein. Und deswegen hörten wir nach einer Weile mit dem Tanzen auf und vergnügten uns getrennt. Vergnügten? Nein, das wäre zuviel gesagt.
Und ich stand genauso an der Tanzfläche wie jetzt, als mich auf einmal jemand von der Seite her anquatschte. Ich war erstaunt, dass jemand den Mut fand, mich anzuquatschen, denn ich bin nicht unbedingt die Frau, die in die Gegend signalisiert: Quatsch mich an! Ich bin eher die Abweisende, die Unnahbare, an die sich keiner rantraut. Und falls es dann doch jemand wagt, dann hat derjenige ein verdammt großes Selbstbewusstsein. So wie mein Exfreund Parker es hatte. Dieser Idiot!
Ich schaute vorsichtshalber nach links neben mich, aber da stand niemand außer einem langbärtigen Individuum, ich schaute draufhin hoffnungsvoll nach rechts - und da sah ich ihn. Er meinte mich. Unglaublich!
Er war so groß, und er sah so überwältigend gut aus! Tatsächlich hatte ich noch nie jemanden gesehen, der so gut aussah, und es hätte mir gleich auffallen müssen, dass so ein gutaussehender Typ mit einer wie mir nicht viel anfangen konnte – bis auf eines – aber wie gesagt, ich war naiv und dämlich. Und ich fühlte mich allein.
Ich will nicht mehr dran denken, die Sache ist vorbei, aber sie schmerzt. Nein, sie tut richtig weh, ich habe nicht damit gerechnet, dass sie so weh tun würde, ich dachte, ich hätte alles unter Kontrolle.
Wie passierte es? Ich habe viel erlebt in den letzten Monaten, manche Sachen sind ganz deutlich zu sehen, andere verschwommen, verschlissen und verblasst - die Chronologie stimmt wahrscheinlich nicht - aber meine deutlicheren Erinnerungen fangen an mit Silvester. Jetzt haben wir Mitte Oktober.
Stimmt ja, Silvester war ein Wendepunkt in meinem Leben. Warum Wendepunkt? Ich hatte die Schnauze voll von Parkers Betrügereien, hatte sie mir jahrelang gefallen lassen, hatte sie ausgeblendet, hatte sie verleugnet. Warum? Das weiß ich immer noch nicht. Ich habe mir eine lange Zeit alles von ihm gefallen lassen aus mir unbekannten Gründen, aber irgendwann war dann Schluss, Ende, aus und finito.
Vielleicht bin ich die Meisterin im Verdrängen von offenkundigen Tatsachen, vielleicht, vielleicht, vielleicht ... Und vielleicht sollte ich erst mal diese Tatsachen abhandeln, bevor ich zum befreienden Silvesterabend komme. Ja, es muss wohl so sein.
 
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Kommentare  

Danke, liebe Evi! Das Lockerflüssige kommt von der permanenten Ich-Form, man kann dadurch nahe rankommen an die Psyche der Hauptdarstellerin, es ist wie in einem Tunnel, wo man nichts außer sich selber wahrnimmt und nichts anderes sieht. Könnte auf Dauer nervig sein. Ich hoffe aber, du bleibt dabei.
Einen lieben Gruß sende ich dir.


Ingrid Alias I (16.04.2021)

Schön, wie du schreibst. So locker und flüssig, als würdest du mit dem Leser nur plaudern. Ich mag deinen Stil und bin neugierig, wie das Ganze nun weitergehen wird.
L.G


Evi Apfel (15.04.2021)

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