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13 Seiten

Die Rache der Hexe

Spannendes · Kurzgeschichten
Bamberg 1575.
„Stirb, du Hund.“ Der Mann lässt vor Schreck seine mühselig gesammelten Kräuter fallen. Er hat nichts im Unterholz knacken hören. Kein Rauschen außer das in den Bäumen. Dabei sind seine Sinne so scharf. Sorgfältig geschliffen wie das Beil eines Henkers. Mit vor Schreck geweiteten Augen springt er auf seine Füße. Augenblicklich rennt er los.
Meister Walther Amend flieht durch die Nacht. So gut ihn seine fünfzigjährigen Beine noch tragen. Die Mütze ist ihm vom Kopf gerutscht, ungehindert fällt der Regen auf seinen kahlen Schädel. Das Wasser rinnt in seinen Nacken, über sein Gesicht; verfängt sich in seinem struppigen schwarzen Kinnbart, saugt sich im Kragen seiner wollenen Kutte fest.
Gehetzt wirft der Mann einen Blick über die Schulter. Unter seinen Schnürstiefeln quatscht das Wasser. Plötzlich steht er bis zum Knie im kalten Nass. Einer der vielen Flussarme hier im langgezogenen Sumpf südlich des Deutschordenschlosses. Eine schmucke Residenz von außen. Drinnen ein düsteres Kellergewölbe, in dem die Hexen eingesperrt und gemartert werden.

Für diese Gedanken hat der Fliehende keine Zeit. Er hastet in den Bachlauf hinein, stolpert über einen Stein, schlägt lang hin. Hände und Ärmel sind vom Matsch besudelt, nachdem er sich wieder aufgerichtet hat. Panisch wirft er einen Blick nach hinten. Sie hat aufgeholt. Und ihm fällt das Laufen immer schwerer. Die Kutte hat sich mit dem Wasser vollgesogen, fällt immer wieder zwischen seine Beine, als würde im Sumpf eine Krake ihre Arme nach ihm auswerfen. Erneut fällt er Knie voran in ein moorastiges Loch.
Hat er anfangs noch mit seinen Flüchen den Teufel verwünscht, so geht er nun in das Beten über. Die Augen kann er dabei nicht von seiner Jägerin lassen.
Er sieht, wie sie über den Bach schwebt. Ihre nackten Füße berühren nicht einmal die Wasseroberfläche. Wie ein Geist eilt sie auf ihm zu. Diese Frau in Weiß, die schimmert, als würde sich das Mondlicht in ihrem Untergewand brechen. Denn mehr trägt sie nicht am Leibe. Meister Walther Amend hat nur ein Problem: Es scheint kein Mond in dieser stürmischen, wolkenverhangenen Nacht.
In Todesangst ruft er seine letzten Kraftreserven ab. Von denen scheint der breitschultrige Mann genug zu haben. Wie ein gebrechlicher Greis wirkt er nicht. Von seiner Beschaffenheit her ist nicht ersichtlich, warum er vor einem Weibe Reißaus nimmt. Die Furcht schürt etwas Anderes: Er kennt diese Frau.
Das schlammige Wasser spritzt ihm bis ins Gesicht, als er einen weiteren Arm der Regnitz nimmt, der Fluss, der die Frankenstadt speist.

Mit letzter Puste erreicht er die große Allee, die vom Süden her auf das Kloster zuführt. Erst als er durch das Gebüsch springt, sieht er das Licht vor sich. Hart prallt er mit dem Amtsschreiber Francken Bruckmann zusammen. Dessen Laterne schlägt auf dem Fahrweg auf und erlischt.
Meister Walther Amend rappelt sich unverständliches Zeug grunzend auf. Ohne den Bürger weiter zu beachten, rennt er seinem kleinen Wohnsitz entgegen. Ein steinernes Haus am Ende der Stadt. Seit vielen Generationen wohnt seine Blutlinie darin. Sein Urgroßvater war der erste, der von den Ratsherren den Beinamen Amend bekam aufgrund der Lage seines Heimes. Anfangs als Spott gedacht für die außerhalb der Bürgerschaft stehenden Scharfrichter und Henker, hat sich der Name sowie der damit verbundene Beruf etabliert. Meister Walther Amend ist wie all seine Ahnen Scharfrichter und Henker in Personalunion. Seine Hartnäckigkeit, mit der er die vor vierzehn Monaten eingesetzte Jagd auf die Hexen verfolgt, hat ihn den Zunamen „Hexenbrenner“ eingebracht. In seiner Gegenwart indes wagt kein Mensch dieses Wort zu gebrauchen.
*
Am nächsten Morgen fährt eine Kutsche vor. Meister Walther Amend stockt der Atem. Nur das Schnauben der Pferde ist zu hören. Darein mischen sich die Schritte des edel gekleideten Gastes. Komtur Wernlin Indefrey höchstpersönlich stattet dem Scharfrichter einen Besuch ab. Das hat nichts Gutes zu bedeuten, weiß der Fünfzigjährige.
In Bamberg übt der Komtur alle Befugnisse der Obrigkeit aus. Auch die der Gerichtsbarkeit. Wünscht Herr Wernlin Indefrey jemanden zu sprechen, ordert er ihn in seine Residenz. Herzubringen hat den Gewünschten der Büttel. In Bamberg, wo es eine wie 1492 in Nürnberg eingeführte Polizey noch nicht gibt, obliegen die Dienstbotengänge beim Scharfrichter. Bei ihm, Meister Walther Amend.
Es gibt nur einen Grund, weshalb der Scharfrichter nicht mit einem Botengang beauftragt worden ist; er selber steht im Zentrum gerichtlicher Aufmerksamkeit. Mit schlackernden Knien geleitet Meister Amend den Komtur in seine kleine Amtsstube, gleich rechts neben der Eingangstür.

„Eine stürmische Nacht.“ Komtur Indefrey wickelt die Ärmel seiner Robe auf und greift zum kleinen Likörglas, in das der Gastgeber einen Schluck Branntwein gegossen hat.
„Man mochte nicht vor die Tür gehen.“ Der Scharfrichter stürzt sein bernsteinfarbenes Getränk in einem Zug herunter. Missmutig beäugt er seinen Gast, der keine Anstalten macht, die Aussage zur letzten Nacht zu präzisieren.
„Waren sie nicht?“ Wernlin Indefrey stellt sachte das feine Kristall auf den kleinen Tisch, nachdem er nur daran genippt hat. Sein Stuhl scharrt über den Holzbohlenboden, als er ihn vom Tisch abrückt, um ans Fenster gehen zu können.
Interessiert schaut er aus dem Ausguck auf die Straße. „Manchmal können Menschen nicht schlafen und stehen nachts am Fenster.“ Jedes einzelne Wort spricht der Komtur mit äußerste Bedacht, ohne seine Nase von der kleinen Butzenscheibe zu nehmen. „Und wenn im Haus gegenüber eine Kerze angezündet wird, erkennt der einsame Nachtwandler auf der anderen Straßenseite sogar den Zustand der Kleidung desjenigen, der gerade sein Zündholz ausbläst.“
„Ich war nur kurz eine Ziege einfangen. Der Sturm hatte das Gatter aufgeschlagen.“ Der Scharfrichter spürt, wie seine Lüge ihm das Blut ins Gesicht schießen lässt. Genau in diesem Moment dreht der Komtur sich um.
„Dass diese törichten Dinger sich unbedingt in den Sumpf verirren müssen.“ Kopfschüttelnd geht der mächtigste Mann Ellingens zurück an den Tisch. Im Stehen trinkt er seinen Branntwein aus. Das Glas gegen das Licht drehend berichtet er wie beiläufig, dass heute Morgen im Sumpf die Leiche des Amtsschreibers Francken Bruckmann gefunden wurde. Arg zugerichtet. „Da musste jemand einen großen Hass auf den Mann gehabt haben“, beendet Wernlin Indefrey seinen Bericht. Aufmerksam rollt er seine aufgekrempelten Ärmel wieder glatt, bevor er zu Stock und Hut greift.

Das Herz schlägt dem Scharfrichter bis zum Hals. Schweiß macht sich auf seiner Stirn breit, als er dem Leiter des geistlichen Ritterordens beim Einsteigen in dessen Kutsche zuschaut. Ein Mann, mit dem nicht zu spaßen ist. Das weiß der Scharfrichter aufgrund langjähriger Zusammenarbeit.
Insgeheim zweifelt der alte Haudegen, dass ihm der Komtur seine Ausrede abgenommen hat. Hätte er den hohen Herrn aber gesagt, Kräuter mit betäubender Wirkung gesammelt zu haben, um die Hexen bei der peinlichen Befragung zu beruhigen, hätte der Komtur, der gleichzeitig Richter der Ordensprovinz ist, unweigerlich erkennen müssen, dass der Henker letzte Nacht im Sumpf gewesen ist. An jenem unsäglichen Ort, an dem der Amtsschreiber seinen Mörder getroffen hat.
*
Betäubungsmittel und heilsame Salben. Wie viele nützliche Dienste haben sie dem Henker schon geleistet. Manch ein Geständnis hätte er ohne seine medizinischen Zusatzkenntnisse nicht herauspressen können. So aber kann er die Wunden notdürftig behandeln, die er den angeklagten Frauen und Männern während der Tortur beigebracht hat. Damit sie die vom Gesetz her vorgeschriebenen Pausen zwischen den einzelnen Runden der peinlichen Befragung überleben können. Schließlich darf laut Vorschrift ein Foltergang nur eine Stunde dauern. Danach war eine Pause zur Besinnung einzuhalten. Zum Abwägen, ob man eine neue Runde an Schmerzen ertragen oder lieber durch ein Geständnis der gut inszenierten Zerstörung des Körpers entgehen will.
Anderseits steht auch der Scharfrichter unter Druck. Wer nach drei Folterrunden nicht gesteht, gilt als unschuldig. Das muss jeder Henker zu unterbinden wissen, schließlich hat er eine Familie zu ernähren.
Meister Walther Amend erinnert sich an die guten Dienste seiner Beruhigungstees. Frauen haben es dadurch besser ertragen, wenn er ihnen den Brustreißer angesetzt und vor dem Ziehen sein Werkzeug gedreht hat; Männer hielten lange mit zusammengebissenen Zähnen stand, wenn er die Zwinge der Daumenpresse immer weiter zusammendrehte. Nie vergessen wird er das Bild, wie Ansgar Blumenfeldt eine viertel Stunde lang in den Spanischen Stiefeln durch die Folterkammer spazierte und erst ohnmächtig wurde, als er das Blut aus seinen Spezialschuhen quellen sah.

Meistens bringen diese eher zaghaften Methoden noch kein Geständnis hervor. Sehr zum Wohl des Scharfrichters. Je mehr Foltergänge er in Rechnung stellen kann, desto besser geht es ihm, seiner Frau und seinen Kindern. Aus diesem Grund ist auch die zweite Runde der peinlichen Befragung noch nicht lebensbedrohlich. Glühende Zangen kommen zum Einsatz, um an befindlichen Stellen das Fleisch zu rösten; Abkneifer befreien die Angeklagten von Fingern und Zehen. Immer wieder gerne erinnert er sich an die gerade einmal zwanzigjährige Berbelin Dorn. Ihr Nachname brachte ihn auf die Idee, sie auf die Streckbank zu binden. Dummerweise hatte er ihr vorher den gespickten Hasen gezeigt, deshalb musste er ihr einen Kinnhaken versetzen, um ihr heftiges Wehren zu unterbinden. Das Gefühl, wenn ein schöner Bauch und eine weiche Brust unter den mit Eisenstacheln gespickten Walze nachgeben, kommt Meister Amend wie eine kleine Entschädigung für den Spott vor, mit dem die Ratsherren den von den Bürgerrechten Ausgeschlossenen bedenken.
Jene, die ihn in Brot und Gnaden gestellt haben. All jene, die er nicht enttäuschen darf. Die von ihm erwarten, spätestens in der dritten Runde ein Geständnis zu erhalten. Nur dann dürfen sie die angeklagte Person auf dem Schafott vom Leben zum Tode überführen.

Um seine Dienstherren nicht erzürnen zu lassen, kommen in der dritten Runde der Befragung der spanische Bock, das Rad, die Schädelschraube und abermals die Streckbank zum Einsatz. Irgendwann gestehen sie alle. Es ist nur eine Frage des Schmerzes.
Diese Erinnerungen wirbeln dem alten Mann durch den Kopf wie Blätter in einem Herbststurm über die Feldwege. Gedankenversunken steht er am Fenster, an dem am Morgen noch der Komtur stand. Eigentlich will er nicht, aber er muss. Notgedrungen schließt er das kleine Schränkchen unter seinem Sekretär auf und holt das schwere Buch mit dem ledernen Einband hervor. Minutenlang lässt er es auf seinem Schoß liegen. Unablässig streicht er über die reichhaltige Verzierung des Buchdeckels. Mit einem Seufzer klappt er es auf und blättert emsig die Seiten um. Bis er das Gesuchte gefunden hat. „Nach Jahr und Tag“, murmelt er leise vor sich hin.
An diesem Tag schweigt er beim Abendessen und geht sehr zeitig zu Bett.
*
Morgens wird er durch das Geläut der Kirche geweckt – der Totenglocke. Demnach muss ein hohes Tier gestorben sein. Für einen wie ihn würde sich kein Diener des Klerus an die Seile hängen.
Walther Amend wirft sich den Gehrock über und hastet auf die Straße. Die ihm Entgegenkommenden biegen schnell in eine Gasse ab, drücken sich in Hauseingänge und tuscheln hinter vorgehaltener Hand mit dem Hausbewohner. Jede und jeder macht einen weiten Bogen um ihn.
Nicht, dass er dieses nicht gewöhnt sei. Als Henker meidet ihn immer mehr als die Hälfte der Gemeinde. Dass es heute dahingegen alle sind, lässt ihn erschauern.

Vier Namen stehen in der Aktennotiz über Ottilie Tannhäuser. In seinem schweren, ledernen Einband, der noch zuhause auf dem Tisch liegt: Der Amtsschreiber Francken Bruckmann, der Henkersknecht Oßwalt Thalmann, der Richter Wernlin Indefrey und seine Wenigkeit, Scharfrichter und Henker Walther Amend. Es sind genau ein Jahr, sechs Wochen und mittlerweile fünf Tage vergangen, seitdem Ottilie Tannhäuser als erste Hexe Bambergs ihre Seele hat im Feuer reinigen lassen dürfen. Ein Jahr, bis die Einspruchszeit verjährt. Sechs Wochen, bis das Landgericht wieder tagt. Seine Sitzungsperiode beträgt drei Tage. Ab diesem Zeitpunkt sind die Erbansprüche rechtsgültig.
„Also seit zwei Tagen“, räsoniert der Scharfrichter mit einem schiefgezogenen Mund. „Eigentlich ein Grund zum Feiern. Wenn es nur nicht diese kleine Pestbeule gäbe, die seit zwei Tagen den Erben das Leben schwer machen will: Die Weiße Frau.“
In Sagen aus dem Harz ist es die Seele einer unschuldig eingemauerten Frau. Der Scharfrichter weiß, hier in Bamberg handelt es sich um eine andere Person.
Ottilie Tannhäuser. Er sieht sie vor sich, als sei es erst gestern gewesen. Wie sie vor ihm stand. In der Gütlichen Befragung, dem ersten der drei Teilschritte des Verhörs. Natürlich aller Kleider entledigt, um sie zutiefst zu demütigen. Diese Frau aus hohem Adel, reich und vor kurzem erst verwitwet.

Lange musterte er damals die wunderschöne Frau schamlos. Auf seiner Suche nach dem Hexenmal umrundete er den Leib vielmals. Seiner leisen Aufforderung, sie möge gestehen, mit dem Teufel gebuhlt und für den langen Regen im Frühjahr verantwortlich zu sein, der das Korn faulen ließ, kam sie erwarteter Weise nicht nach.
Im gleichen Stolz behielt die als Hexe Angeklagte die Ruhe, als er, Meister Walther Amend, ihr in der zweiten Runde, dem Territion, die Folterwerkzeuge vorführte und ihr gar plastisch vor Augen führte, wie jedes einzelne dieser Hilfsmittel ihren begehrenswerten Körper malträtieren würde.
„Stück für Stück werde ich deinen makellosen Leib zerstören, deinen widerstandsfähigen Geist brechen. Wunden und Schorf werden dich entstellen, dein Haar wird fettig sein, deine Nase gebrochen, deine Finger ausgerenkt. Ich werde dich zu dem machen, was du angeklagt bist: Eine Hexe! Das ist meine Aufgabe. Wenn ich dich zum Richtplatz führe, darf niemand im Volk mehr Zweifel an deiner Schuld hegen.“ In einer selbstgefälligen Art stellte der Henker an jenem Tage seine Werkzeuge zurück. Es lag ihm schon auf der Zunge, das Opfer um Hilfe zu bitten. Beim Aufräumen; nicht beim Retten seiner Seele.

Ottilie Tannhäuser hatte als Antwort nur Tränen. Sie verstand nicht, wieso sie in dieses Verhängnis geraten war. Nie hatte sie sich etwas zu Schulden kommen lassen. Warum griff jetzt der Hexenwahn auch auf ihre Stadt über?
Der Scharfrichter studierte die Mimik der Angeklagten genau. Sein Wild war angeschlagen.
„Anfangs beteuern alle ihre Unschuld. Was für eine Schmach. Erkläre mir bitte, was dich bewegt, mitzuverfolgen, wie sich Schönheit in Schmutz verwandelt. Bis du zu dem Scheusal geworden bist, für das man dich angeklagt hat, Metze?“ Ein Kopfnicken zum Henkersknecht Oßwalt Thalmann, mehr war nicht von Nöten, um ihn aus der Dunkelheit heraustreten zu lassen und die armselige Frau auf ihren Stuhl zu fesseln.
Derweil strich sein Meister fast schon liebevoll über die gerade auf den Tisch gestellte Daumenpresse. Es entlockte dem einfältigen Henkersknecht ein lustvolles Blitzen der Augen.

Oßwalt Thalmann. Francken Bruckmann. Wernlin Indefrey. Walther Amend. Erneut hämmern die Worte in die Schädeldecke des Scharfrichters, wie die Spitzhacke eines Bergmanns in das erzhaltige Gestein. Je näher er auf der alten Allee dem Kloster kommt, desto mehr meint er, sein Kopf müsse platzen. Um sich Erleichterung zu verschaffen, hockt er sich hinter einen Baum.
Ein Fuhrwerk rollt knatternd und polternd heran. Auf seiner Höhe hört er die Kaufleute reden. Sie sprechen vom mysteriösen Tod des Komturs.
„Ob sein Ableben im Zusammenhang steht mit seinem Besuch beim Scharfrichter?“, hört Meister Walther Amend die Worte des jüngeren Kaufmanns, bevor das laute Quietschen und Knarzen der Wagenräder die Stimmen übertönt.
Auf der Stelle macht der Henker kehrt. Er hat alles in Erfahrung gebracht, was er wissen muss. Bisher hat er immer seinen Buben geschickt, um den Knecht Oßwalt Thalmann zu holen. Heute ist eine Ausnahme. Mit großen Schritten eilt er in die Stadt, durch die engen Gassen, in denen es nach Pferdeäpfeln und Unrat stinkt.

Beim Anwesen des Schmiedes biegt er vom Marktplatz in eine schmale Straße ein. Die untersten Sandsteinquader des Hauses weisen am Eck starke Kerben aus. Hervorgerufen von den Wagennarben der Fuhrwerke, die um die Ecke kratzen mussten, um vor Schließung des Tores die Stadt zu verlassen.
Kurze Zeit später steht der Scharfrichter vor dem Steinhaus, in dem sein Knecht wohnt. Wohnte. Mit großen Gesten erzählt die alte Hebamme, die in diesem Haus ebenfalls zur Miete wohnt, von der überstürzten Flucht des Mannes in den Morgenstunden. Bei ihrer hektischen Erzählung über den Henkersknecht und den Gerüchten über die Weiße Frau, die zwei Holzfäller in der Nacht gesehen haben wollen, rutschen viele graue Strähnen unter ihrer Haube hervor. Die Weiße Frau, sie ist also noch da. Wie erwartet. Warum sollte sie auf halbem Wege stecken bleiben. Oßwalt Thalmann. Francken Bruckmann. Wernlin Indefrey. Walther Amend. Vier Mal Vergehen. Vier Mal Schuld.
Der Scharfrichter bedankt sich mürrisch. Nachdenklich trottet er zurück. Das Necken der Gassenjungen dringt nicht an sein Ohr. Wie die Alten haben diese Bengel schnell gelernt, wen man unbestraft beleidigen darf. Sofern man sein Gesicht bedeckt hält, damit der eigene Hals nicht einstmals Bekanntschaft mit dem Schwert des Henkers machen muss.

„Oßwalt Thalmann ist geflohen. Wie passend. Er, der alte Amend wird es zu nutzen wissen. Was für ein deutliches Schuldeingeständnis. Thalmann entzieht sich aus nur einem einzigen Grund den Fängen der Gerichtsbarkeit, er ist schuld. Die mächtigen Herren des Klosters können ihre Augen nicht vor dieser Tatsache verschließen. Ab jetzt steht nicht mehr der Scharfrichter unter Mordverdacht“, zischen Gedankenblasen zwischen seinen Zähnen hervor wie die Luft durch die Nüstern schwer arbeitender Ackergäule.
Trotzdem ist Meister Amend nicht zufrieden, als er den Heimweg antritt. Die Gefahr der Anklage zu Mord scheint sich von ihm abgewendet zu haben. Es ist leider nicht die Bedrohlichste in diesen Tagen. Denn er weiß, sein Knecht hat nur aus einem einzigen Grund seine Beine in die Hände genommen: Die Weiße Frau.
„So ganz dumpf scheint er demnach nicht zu sein, Walther“, führt der Henker Selbstgespräche, „Du solltest dir an ihm ein Beispiel nehmen.“
*
Ottilie Tannhäuser.
Ja, Komtur Wernlin Indefrey hatte ein gutes Händchen gehabt, als er das Hexenfieber nach Bamberg holte. Mit der schönen Tannhäuser begann der Geldsegen. Wie ein Kugelblitz rollten die Anschuldigen, sogenannte Besagungen, durch die wohlhabende Bürgerschaft.
Hexenprozesse waren teuer und sehr langwierig. Die Regel der bewiesenen Unschuld nach drei Foltergängen wurde bei Hexen und Ketzern ausgesetzt. Schließlich stritt man hier mit dem Teufel, da brauchte es mehr Zeit und Kraft.
In Rechnung gestellt werden die Kerkerhaft und das Essen, jeder einzelne Foltergang, die Hinrichtung sowie in Auftrag gegebene Gutachten. Können die Hinterbliebenen die Rechnung nicht vollends begleichen, werden die Anverwandten als Schuldner hinzugezogen, zu guter Letzt sogar die Gemeinde. Oftmals entspricht der Wert eines Hexenprozesses dem eines großen Steinhauses. Prächtige Vergütungen erhalten der Richter, in diesem Fall Komtur Indefrey, der Scharfrichter und sein Knecht sowie der Amtsschreiber, der bei Folterungen und den Prozessen Protokoll führt. Und nicht selten wird dem Klerus der Grund und Boden zugesprochen, wenn es keine Erben mehr gibt.

In einigen Regionen Frankens können sich wohlhabende Bürger von den Anschuldigungen frei kaufen. Nicht so in Bamberg. Hier kommt es nicht zu einer einzigen Begnadigung. Dank der eisenharten Führung des Komturs und der unübertroffenen Handfertigkeit des Scharfrichters, der jeder und jedem das Schuldgeständnis entlockt.
Meister Walther Amend weiß, viele Seelen, die dem reinigenden Feuer übergeben werden, sind frei von Schuld. Unter seinen Qualen würde selbst Richter Wernlin Indefrey gestehen, mit dem Teufel im Bunde zu stehen. Aber der Tross ist ins Rollen gekommen, würde er, der Scharfrichter, sich weigern, die Voraussetzung für die Bereicherung zu erwirken - die Geständnisse - würde er selber brennen. Zu viele Geheimnisse der Nutznießer kennt er, als dass diese einen Abtrünnigen leben lassen täten. Unter diesen Umständen kann er sein Gewissen mit Leichtigkeit in die Schranken weisen. Und schlecht geht es ihm bekanntlich seit Beginn der Hexenprozesse nicht.
Dieses macht er sich gerade bewusst, als er an der Taverne bei den vier Linden vorbei marschiert.
*
Mit der Zeit ist es draußen dunkel geworden. Walther Amend sitzt in der Taverne bei seinem vierten Humpen Bier, als drei sehr junge Männer hinein poltern. Alle haben sie ein Gesicht aufgesetzt, als wüssten sie, welche Siege der König zu Bayern in diesem Jahr noch erringen und wer der nächste Papst werden würde. Drei Holzschemel scheuern über dem Boden, als sie diese unter dem Tisch hervorziehen, an dem der Scharfrichter sitzt.
„Vermisst du deinen Knecht nicht?“ Der Schaum schwappt über, als der Rädelsführer der kleinen Gruppe seinen Bierkrug kraftvoll auf den Tisch haut. „Wir haben ihn auf der Allee nach Nürnberg tanzen sehen.“
„Drei Meter über dem Boden.“ Spott tropft aus den Worten des zweiten Gesellen wie Öl aus den Mühlsteinen einer Rapsmühle.
„Sein Halstuch war mit kunstvollen Knoten versehen“, kichert der Dritte, „genau so penibel wurde ihm die Haut vom Körper gezogen.“
„Wer mag nur so einen Zorn auf den armen Kerl gehegt haben“, affektiert reibt sich der Rädelsführer mit dem Zeigefinger über die Nasenspitze, „und vor allem, wer anderes als der Henker persönlich ist über jeden Schritt seines Knechtes unterrichtet?“
Walther Amends Augen blitzen wie Dolche, als er sich rabiat erhebt. Das Hohngelächter, das ihm auf dem Weg nach draußen verfolgt, versucht er aus seiner Wahrnehmung zu wischen, wie Suppenreste aus seinem struppigen Kinnbart. Kaum ist er in der dunklen Gasse, wird sein Gang stockend. Als ginge er auf einem hauchdünn zugefrorenen See.

Zuhause in der Diele hängt er Umhang, Stock und Hut an den Haken. Die Stille irritiert ihn. Es ist noch nicht so spät, dass alle schlafen. Außerdem hat er Licht in der Küche gesehen.
„Woher kommt dieses Unbehagen?“, sagt er sich leise. Seine Hand schwebt über dem Türgriff. Er wagt ihn nicht zu drücken. Drei von vier sind schon gegangen. Wann wird der Tod den letzten holen? Ihn, den selbsternannten Hexenbrenner zu Bamberg.
Der Scharfrichter drückt sein Ohr an die schwere Eichentür. Ist da nicht ein Wimmern zu hören? Was mag ihn erwarten hinter dem schweren Holz? Die Angst, die sich in ihm ausbreitet wie Kälte in einem Körper, der im Eis eingebrochen ist, schnürt ihm die Kehle zu. Er weiß, er selber ist derjenige, den das Eis nicht mehr tragen kann. Zu schwer geworden an Schuld. In den letzten vierzehn Monaten. Seitdem die Hexen in der kleinen Deutschordenstadt brennen.
Die Schreie der Frauen, er hört sie wieder. Sie versengen seine Ohren, seine Haut. Dieser Höllenlärm an Schmerz, der die Wahrheit mit in die Flammen genommen hat.
Das Schattenspiel in der Nacht. Auf dem Podest. Mit dem Absterben der Feuerzungen begrub er jedes Mal sein schlechtes Gewissen, seine Reue. Nie verschwendete er einen Gedanken daran. Bis ihm im Sumpf die Weiße Frau erschienen ist.

Ottilie Tannhäuser! Mit dem Teufel verbunden. Seit alter Zeit. Zu Recht hat er sie gerichtet, er, Meister Walther Amend. Ein Trost sind ihm diese Überlegungen nicht. Er weiß, nur durch einen Zufall ist er vor paar Nächten dem Tod entronnen. Dank des Unglücksraben Francken Bruckmann, der Mann mit der schönsten Handschrift der Stadt.
Die Hand des Henkers ist feucht. Mit Bedacht legt er sie auf den Türgriff. Teile in ihm warnen ihn, dort nicht einzutreten. „Der Gevatter ist zurück. Der Gevatter ist zurück“, hört er die lästernden Gesänge der Gassenjungen. Die Noten hüpfen durch die Luft, wie die von den Buben geworfenen Kieselsteine über das Wasser.
Die Tür knarzt verräterisch in den Angeln, als der Fünfzigjährige sie öffnet. Geblendet von dem Kerzenlicht kneift er die Augen zu. Im Flur ist es eben so schön dunkel gewesen. Ein vortrefflicher Ort, sich vor dem Grauen zu verstecken. Jetzt umhüllt ihn Licht, doch es ist kein Heiligenschein. Sein Herz bleibt für Sekunden stehen. Was für ein schreckliches Bild!

„Treten Sie ein, Teufelsknecht Amend.“ Kalt fliegen ihm die Worte um die Ohren. Wie die Schneebälle, wenn er mit seinen Kindern im Winter tobt.
Jetzt können seine Tochter und sein Sohn sich nicht einmal die Nase kratzen. Sie sind gefesselt und gekettet, hergerichtet zur Vollstreckung.
„Erinnerst du dich an meinen Burschen, Teufelsschuft Amend?“
Die Worte prallen von den Wänden ab, verdoppeln, vervierfachen sich. Fassungslos schaut der Mann mit dem kahlen Schädel auf seinen Jungen. Er kniet mitten in der Küche, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, den Kopf in die Ausbuchtung des Richtblocks gelegt. Auf dem nahbei stehendem Küchentisch funkelt das große und scharfe Richtschwert.
„Nur zu, Meister Amend. Walten Sie Ihres Amtes. Sie kennen sich aus, eine Klinge zu führen. Mein Kleiner hat es erfahren dürfen vor einem Jahr, sechs Wochen und nunmehr sechs Tagen.“
In der Ecke steht die Weiße Frau, die Arme vor der Brust gekreuzt: „Sie stehen tief in meiner Schuld, mein Herr. Doch ich will gnädig sein. Sie können sich freikaufen, wenn . . .“ Ottilie Tannhäuser lässt ihren Blick verachtend durch die Küche kreisen. Vom Henker, zum Schwert. Von der Klinge zum Strafe erwartenden Sohn. Von dem Knienden zu den seitwärts stehenden Ehefrau und Tochter.

„Inzest!“ Das Wort der Weißen Frau schneidet wie ein Messer in weiche Butter in das Fleisch des Scharfrichters.
Auf Inzest steht die Todesstrafe. Komtur Wernlin Indefrey hatte damals wenig Mühe, einen Mann in Geldnöten zu kaufen, der vor dem Gericht die Tochter und den Sohn der Tannhäuser bezichtigte, Unzucht miteinander begangen zu haben. So waren mit einem Schlag die Erben ausgeschaltet. Den Sohn enthauptete der Scharfrichter auf dem Block, Tochter und Mutter wurden gemeinsam in einen Kessel aus Pech gestellt. Das war die Besonderheit in Bamberg. Das Pech wurde entzündet, um die Hexen in stundenlanger Qual zu Tode zu bringen. Dieses Rösten dauerte viel länger als das Brennen auf dem Scheiterhaufen.
In genau so einem Kessel stehen jetzt seine Tochter und sein Eheweib. Eine Fackel ist in einem Wandhalter eingesteckt. Ihre Flamme zittert unruhig, als wolle sie endlich ihre Tat vollbringen, das Pech entzünden. Der Ruß dieses unheilvollen Lichtes brennt dem Henker in der Nase, legt sich auf seinen Gaumen. Sein Geschmack wird schal. So schal wie die Angst um seine Angehörigen.
Noch schmettert der Henker die gerade in ihm aufkeimenden Geistesblitze als unvorstellbar ab. Doch mit Grauen muss er feststellen, je länger er über die oder ich grübelt, desto beherrschender wird das Ich.
Immer schon hat er Opfer gebracht. Das ist sein Beruf. Darin kennt er sich aus. Viehdiebe, Kindsmörderinnen, Hexen, sie alle bringen ihr Opfer vor Gott. Er ist nur der Bote.

Mit eisernem Entschluss setzt der Familienvater mit der Fackel das Pech in Brand, hebt er sein Schwert über den Kopf. Für das Wehklagen seiner Angehörigen ist er taub.
Das Schwert zischt durch die Luft. Wie es auf den Hals des Sohnes trifft, wandelt es sich in einen Gänsekiel. Mit einer zweiten Handbewegung schickt die Weiße Frau eine kräftige Windböe zu dem Kessel. Die Flammen verabschieden sich mit einem letzten Blaken.
„Die Armen haben es nicht verdient. Genauso wenig wie meine Familie, die Ihr und Euresgleichen aus reiner Habgier ausgelöscht haben.“
Meister Walther Amend bricht auf die Knie. Die Weiße Frau schwebt aus ihrer Ecke, gleitet über den kauernden Sohn hinweg, landet hinter dem Mann mit dem gnadenlosen Willen. In den Kragen gepackt schleift sie ihn aus der Küche, über den Flur, in die Amtsstube.
Widerstandlos lässt sich der Mann auf dem gut gepolsterten Stuhl fesseln. Ottilie Tannhäuser holt das große Kassenbuch vom Tisch. Die Seiten zu ihrem Prozess aufgeschlagen, legt sie es auf den Schoß des Mannes. Hinter ihm stehend liest sie laut vor. Bis zum Seitenende. Dann beendet sie mit einer Drahtschlinge ihr Werk am Henker Amend.

Am nächsten Morgen läuten in der Stadt für den Scharfrichter keine Glocken. Dementgegen begleiten die Vögel singend die in den Himmel ziehende Seele der Wiedergängerin. Luzifer und Gott haben entschieden, das Wirken der lebenden Ottilie zur Bewertung heranzuziehen, welche Tür die arme Frau zu nehmen hat, um die Zwischenwelt zu verlassen. Lange ist ihr weißes Kleid am tiefblauen Morgenhimmel zu sehen.



*

Anmerkung: Das Thema der Hexenverbrennung in Bamberg habe ich in dem unter dem Pseudonym Mats Hoeppner herausgebrachten Mystery-Thriller "Bronzetod" vertieft.
 
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