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4 Seiten

Das normalste auf der ganzen Welt

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Losgehen, einfach nur losgehen. In Bewegung sein. Nicht anhalten und Moos ansetzten. Wer rastet, der rostet. Das weiß doch nun wirklich jeder. Immer weitergehen und offen für Neues sein. Und dabei stets das Alte nicht vergessen.
Schwierig. Vor allem für einen Menschen, der zu Routinen neigt; der es sich in unbewussten Tätigkeiten sehr schnell gemütlich machen kann; der froh ist, dass er das, was er hat, hat, und keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, vielleicht noch irgendetwas anderes haben zu wollen. Dem das Dasein, so wie es ist, völlig ausreicht und der nicht ständig irgendwelche Reize benötigt, damit er sich lebendig fühlen kann. Existenz pur. Und kein störender Wille, der da irgendwo dazwischen funken könnte.
Solch ein Dasein muss nicht unbedingt traurig sein. Seit Jahren kennt er ja gar nichts anderes mehr. Für ihn scheint es so, wie es ist, einfach richtig zu sein, weil mit dem Gefühl verbunden, dass die Verhältnisse stimmig sind; dass es gar nicht anders sein dürfte. Dass er als Person derart perfekt in seine Umgebung, in der er lebt, integriert ist, dass, sollte auch nur eine einzige dieser Komponenten fehlen, ihn selbst eingeschlossen, die Welt einfach nicht mehr so wäre, wie sie ist.
Ein Schmetterling fliegt vorbei. Reinhard überlegt, wann er das letzte Mal solch ein Wesen in seinem Leben gesehen hat, und kann sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. War das gerade vielleicht nur eine Täuschung gewesen?
Wer weiß?
Reinhard ist schon etwas älter. Und das Alter bringt nun einmal Veränderungen mit sich. Man ist nicht mehr so fit im Kopf, wie man es früher einmal gewesen ist. Oder gewesen sein soll. Auch körperlich baut man irgendwann wohl ab. Vielleicht handelt es sich dabei um einen schleichenden Prozess. Plötzlich merkt man, dass man die Treppen nicht mehr ganz so gut hinauf kommt. Mit kleinen, fast unmerklichen Dingen fängt es an, die sich steigern, nur ganz allmählich. Und man merkt die Veränderung erst dann so richtig bewusst, wenn es schon kurz vor seiner Vollendung steht.
Steckt Reinhard vielleicht gerade mitten in solch einem Prozess?
Kann schon sein.
Letztens hätte er die Treppe zu seiner Wohnung fast nicht mehr gepackt. Und dabei lebt er gerade einmal im 3. Stockwerk. Ist doch eigentlich eine lächerliche Höhe, wenn man mal etwas genauer darüber nachdenkt, oder etwa nicht? Früher hätte er diese verdammte Treppe im Laufschritt genommen. Generell war er früher eigentlich immer sehr schnell unterwegs gewesen. Heute ist das etwas anderes. Heute kommt er viel schneller außer Atem; muss zwischendurch auch mal eine Ruhepause einlegen.
Noch ein Schmetterling fliegt vorbei. Als auch dieser nicht mehr zu sehen ist, ist er sich fast sicher, dass ihm zumindest in diesem Fall sein Geist keinen Streich gespielt hat. Aber wer weiß das schon mit Sicherheit zu sagen? Wer kann sich bei so etwas schon hundertprozentig sicher sein?
Das Alter ist ein gebrechen, das sagen doch alle. Er hat noch von niemandem gehört, der von diesem Zustand geschwärmt hätte.
Gibt es wirklich Leute, die die ganze Zeit nur ihr Alter; ihren Ruhestand; ihre Rente im Blick haben? Die so ihr eigentliches Leben verpassen? Gibt es so etwas wirklich?
Reinhard muss kurz auflachen.
Er winkt ab. Ach, Quatsch. So etwas gibt es doch gar nicht. Man geht nur davon aus, dass es so etwas gibt. Alle Menschen wollen im hier und jetzt gut leben, und nicht erst, wenn sie hierzu eigentlich schon viel zu alt sind. Sie wollen doch alle eine Arbeit haben, die sie interessiert; die ihnen vielleicht, ja, und so etwas soll es tatsächlich auch geben, Spaß macht. Zumindest an manchen Tagen. Sie wollen ein Leben, das sie MIT ihrer Arbeit genießen können, und nicht erst ohne. Sie wollen, dass sie das dabei verdiente Geld auch wirklich zu schätzen wissen. Sie wollen Dinge damit kaufen, die ihnen zusätzlich noch mehr Freude bereiten.
Das Leben kann auch gut sein, verdammt nochmal. Wirklich. Es muss nicht unbedingt tragisch sein.
Tragisch wird es doch erst, wenn ein Mensch ein Leben lebt, das er eigentlich gar nicht leben möchte; es vielleicht nicht als sein eigenes empfindet; vielleicht auch das Gefühl hat, in irgendeiner Weise versagt zu haben.
Doch wie ist es bei ihm selbst? Hat er alles erreicht, was er erreichen wollte?
Reinhard wird plötzlich etwas vorsichtig. Denn ihm wird schlagartig bewusst, dass dies in seinem jetzigen Alter durchaus auch eine gefährliche Frage sein kann. Er ist jetzt in den mittleren Jahren angekommen. Er hat so viel hinter sich, wie er, zumindest wenn alles gut läuft, noch vor sich hat, oder zumindest haben könnte.
Waren alle seine bisherigen Entscheidungen wirklich richtig gewesen?
Schwer zu sagen.
Wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er sich hie und da anders entschieden hätte?
Sicher kann er nur sagen, dass er sich bei seinen Entscheidungen immer auf sein Bauchgefühl verlassen hat. Und wer auf seinen Bauch hört, der ist doch schon in seiner Mitte angekommen, oder etwa nicht?
Reinhard steht abrupt von der Bank auf, auf der er die ganze Zeit gesessen hat. Jetzt irgendwie erleichtert. Weshalb, das weiß er selbst gar nicht so recht zu sagen. Beschwingten Schrittes geht er weiter in Richtung des Supermarktes. Dort saust er förmlich durch die Regale. Er muss noch nicht einmal, wie sonst üblich, seine Einkaufsliste herausnehmen, um auch ja nichts zu vergessen. Er hat auch schnell das Bier in seinem Korb platziert und ist auch viel schneller als sonst an der Kasse. Diesmal hat er noch nicht einmal, wie sonst üblich, das unangenehme Gefühl, dass es an der Schlange direkt neben ihm viel schneller vorangeht. Es wäre ihm auch dieses mal irgendwie völlig egal.
Zuversichtlich geht er mit seiner Einkaufstüte in der Hand nach Hause, ohne auf der Bank genau in der Mitte des Weges eine Verschnaufpause einlegen zu müssen. Er pfeift währenddessen sogar ein Liedchen, das er gefühlt schon seit Jahrzehnten nicht mehr gepfiffen oder gehört hat, das aber früher einmal eines seiner absoluten Lieblingslieder gewesen war, bewältigt zu Hause die drei Stockwerke zu seiner Wohnung mit links, so wie früher, öffnet oben angekommen die Haustür, tritt ein, geht mit gezielten Schritten zu seinem heiligen Plattenspieler in seinem Wohnzimmer hin, entstaubt ihn etwas, legt seine Lieblingsplatte auf den Teller und dreht voll auf. Die Töne und vor allem der Bass dieser herrlich analogen Musik scheinen seinen ganzen Körper geradezu zu durchfluten; zu durchdringen; seine gesamten Moleküle in Schwingung zu versetzten. Er fühlt sich der Wirkung der Musik regelrecht ausgeliefert. Er schnappt sich eines der Biere aus der Einkaufstüte, die er einfach so achtlos beim Hereinkommen auf den Boden gelegt hat, macht die Flasche das erste Mal seit vielen Jahren wieder mit seinen Zähnen auf, spuckt den Deckel einfach so in eine Ecke, setzt das geöffnete Bier an den Mund, und trinkt es so gierig in einem Zuge aus, dass ein Großteil des Inhalts an seinen Wangen herunter auf seinen wuschelig weißen Teppich läuft. Als das Bier alle ist, lässt er die Flasche einfach so fallen und dreht sich nun, während er die angenehme Wirkung des Gerstensaftes in sich zu spüren beginnt, zur Musik aus seiner sündhaft teuren Anlage im Kreise herum, immer schneller und schneller, bis es ihm dabei so schwindelig wird, dass er sich einfach so auf seinen weichen Teppich fallen lässt. Mitten in die Bierlache hinein. Dort liegt er nun und lauscht wie betäubt den letzten Klängen des Liedes, während er mit aufgerissenen Augen an die Decke seines Wohnzimmers starrt. Er denkt nach. Was war nur aus ihm geworden? Wo ist der lebenshungrige Reinhard von früher geblieben, der wie wahnsinnig den Frauen hinterher gestiegen ist; der absurd laut dumme Musik gehört hat; der Alkohol bis zur Besinnungslosigkeit getrunken hat? War er dieser irre Typ überhaupt jemals gewesen? Oder spielt ihm auch hier wieder sein Geist einen dieser fiesen Streiche? Falls er wirklich einmal dieser Typ gewesen ist: Wer oder was hat ihn ihm dann ausgetrieben? Und noch viel wichtiger: Warum?
Das Lied ist zu Ende. Es ist wieder still in seiner Wohnung. Er liegt immer noch auf dem Boden auf seinem kuscheligen Teppich, den er so sorgfältig über all die Jahre gepflegt hat, mitten in der Bierlache. Er hat Bier verschüttet. Einfach so. Ohne darüber nachzudenken. Aus einer Laune heraus. Ist dies die Art von Veränderung, nach der er sich all die Jahre so sehr gesehnt hat, ohne sich dessen so recht bewusst gewesen zu sein? Wollte er das hier wirklich die ganze Zeit wieder haben, während er wie ein Sklave von der stumpfsinnigen Routine betäubt zu seiner Arbeit geschlichen ist? Während er an den Wochenenden seine Wohnung aufgeräumt und sich als großes Highlight auf einem dieser unsäglichen Streamingdienste eine dieser hirnrissigen Serien reingezogen hat?
Nein, denkt er wie aus dem Nichts heraus bei sich, und ist sich plötzlich ganz sicher: dieses Leben möchte er nicht wieder haben. Es ist Vergangenheit. Es passt einfach nicht mehr zu ihm.
Er steht auf, reibt sich seine Augen, so als sei er aus einem Alptraum erwacht, und sucht seine Wohnung nach seinem Handy ab. Er findet es. Es steckt am Kabel. Es musste aufgeladen werden. Der Akku ist jetzt wieder voll. Er nimmt es vom Netz, sucht die Nummer heraus, die er schon seit Jahren nicht mehr gewählt hat, und ruft Jutta an, geradeso, als sei es das normalste auf der ganzen Welt. Ist es aber nicht. Ganz im Gegenteil.
 
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