38


4 Seiten

Das eigene Bedürfnis

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Manchmal ist es schon ganz OK. Manchmal mag ich es sogar. Meistens aber nicht. Meistens nervt es eigentlich nur. Vor allem, weil ich mit niemandem darüber sprechen kann. Da ist niemand, der es verstehen könnte oder auch nur glauben würde. Denn es gibt keinen Anlass dafür. Es bleibt eine Behauptung. Eine fantastische Behauptung noch dazu. Die Person müsste an das Übernatürliche glauben können. Aber wer tut dies heute schon in dieser durch und durch rationalen Welt? In dieser Welt, die gezielt durchgeplant worden ist; alles lediglich als ein kleines Rädchen fungiert, das sich in das große Ganze einzufügen hat? Fügt es sich nicht ein, muss es sich verändern. Verändert es sich nicht, wird es ständig gerieben, zerrieben, vielleicht gar, wenn es nicht aufpasst, zermalmt.
Er fühlt sich dadurch in sich eingeschlossen; von der Außenwelt isoliert. Die Dinge geschehen um ihn herum. Er durchschaut sie zwar mit Hilfe seiner Fähigkeit tiefer; eingehender; allumfassender, als die meisten anderen Menschen, die er kennt. Zumindest kommt es ihm manchmal so vor. Doch im Grunde kann er nichts damit anfangen. Er kann es niemandem offenbaren, weil es ihm niemand glauben würde. Sie würden ihn bestenfalls als harmlosen Irren abstempeln und schlimmstenfalls gar als gefährlichen Irren. Im letzten Fall könnten sie ihn sogar einsperren, gegen seinen Willen. Ihm Medikamente rein pfeifen, ebenso gegen seinen Willen. Vielleicht würden diese seine Fähigkeit, seine Gabe, tatsächlich unterdrücken. Vielleicht würden sie es vermögen, ihn ein Stück weit angepasster zu machen; auch zu funktionieren; ein Stück mehr sein lassen, wie all die anderen um ihn herum. Vielleicht wäre solch ein Leben tatsächlich ein klein wenig weniger schmerzhaft, als das jetzige. Denn sie würden ihn betäuben; seine Sinne und damit auch seine Gabe unterdrücken. Dann wäre auch er ein Zombie; wäre auch er vielleicht so ähnlich, wie sich die meisten anderen um ihn herum für ihn anfühlen.
Ja, so sieht er sie. Die meisten wenigstens. Als Zombies. Dieses Wort gefällt ihm in diesem Zusammenhang besonders gut, weil Zombies, zumindest die Version, die er kennt, hirnlose Geschöpfe sind. Sie müssen sich von den Gehirnen anderer ernähren; sie aussaugen. Sie infizieren sich gegenseitig. Tragen es so von einem Wirt zum nächsten. Und am Ende saugen sie sich alle gegenseitig aus. Und werden dabei immer hirnloser.
Er möchte aber keiner dieser Zombies sein. Er möchte so sein, wie Gott ihn nun einmal erschaffen hat. Der Mensch hat doch gar kein Recht, einen anderen Menschen bis in sein Sein hinein zu verändern. Denn so, wie der Mensch erschaffen worden ist, genau so ist es auch richtig. Deshalb hat die Gesellschaft die Aufgabe, einen Umgang mit ihm zu finden, und nicht umgekehrt.
Aber da ist nun einmal auch die Soziologie in der Welt, die einen Plan am Reißbrett der Vernunft entworfen hat, wie das gesellschaftliche System beschaffen sein muss, damit es nach der größtmöglichen Maxime funktionieren kann; damit es bestehen kann, gegen den Willen der Konkurrenz; gegen das Sein anderer Staaten; gegen deren Interessen und nur ab und zu mal auch mit. Da ist die Psychologie, die den Menschen geistig und seelisch zu durchleuchten versucht, um die Wirkmechanismen dahinter verstehen zu können; um vor allem zu verstehen, wie man das Individuum am besten in eine gewollte Richtung beeinflussen kann und wie man dies auch in Bezug auf Menschenmassen vermag. Alles nach einem Plan entworfen. Alles soll sich in das Gesamtbild einfügen; in die Gesellschaft, sowohl geistig als auch seelisch, also ganzheitlich. Der gesamte Mensch wird erfasst, systematisch nach seinem Nutzen beurteilt und ihm sein Platz zugewiesen. Hat er keinen Bock auf seinen Platz, wird er kurzerhand dazu gezwungen. Die Soziologen als die Ingenieure, die die perfekte Maschine (Gesellschaft) am Reißbrett entworfen haben. Und jedes Individuum darin nur ein kleines Teilchen, das bestenfalls mechanisch und möglichst ohne Seele seine Aufgabe darin erfüllt.
Er funktioniert nicht. Sein Teil fügt sich da einfach nicht ein. Er akzeptiert die Maschine nicht; deren Art und Weise und vor allem auch den entfremdenden Aspekt dahinter. Diese gezielte Entmenschlichung, die mit solch einem Plan zwangsläufig einhergehen muss. Das Austauschbare eines Individuums. Es geht ihm also um die Bewertungsgrundlage dessen an sich.
Keine Frage: jedwedes System hat auch Nutznießer. Aber jede dieser entworfenen Maschinen übervorteilt stets bloß eine Minderheit und unterdrückt hierfür systematisch die Massen. Doch dies will einfach niemand hören. Denn es ist schädlich für das Getriebe; treibt Sand hinein und sorgt wenn nicht für Stillstand, dann doch für Verlangsamung. Vielleicht die zwei verhasstesten Wörter unserer Zeit überhaupt. Etwas, das niemand hören möchte; das niemand sagen möchte; ein Unwort geradezu, das nur als Kritik aber niemals als Losung, noch nicht einmal als Beschreibung taugt. Weil das Innehalten mit Faulheit gleichgesetzt wird; ebenso auch das Nachdenken über etwas. Vor allem wenn es nicht mit sichtbarer Handlung verbunden wird. Es führt zu Verzögerungen in der Lieferkette. Und da alles von allem abhängig ist, ist Verzögerung der Feind. Zeit ist Geld und Geld ist Macht. Also ist Zeit gleich Macht.
Niemand denkt mehr an die Bedürfnisse des Individuums. Niemand hat Zeit dazu. Sie glauben, dass die Bedürfnisse des Individuums gleichzusetzen sind, mit den Bedürfnissen der Gesellschaft. Dabei stimmt dies in keiner Weise. In Wahrheit wollen sie, dass die Bedürfnisse des Individuums die Bedürfnisse lediglich einer Minderheit in der Gesellschaft befriedigen. Zum eigenen Bedürfnis wird dies erst indirekt durch die Reaktion der Minderheit darauf. Lediglich dadurch, dass eine Sanktion ausbleibt oder eben nicht.
Ein Trick also, der dahintersteckt.
Und angesichts all dessen soll von ihm nun verlangt werden, dass er dabei mitmacht; dass er funktioniert? Dies soll für ihn ein nachvollziehbarer Grund sein?
Ist es nicht.
Tatsächlich wäre es nur durch Drogen, äh, Pardon, durch „heilende“ Medikamente zu erreichen. Eigentlich verständlich, oder etwa nicht?
Und er soll nun ausgerechnet eine Gesellschaft, die seine Existenz; sein Dasein strikt ablehnt, auch noch gut finden? Ist das nicht etwas zu viel verlangt? Steckt hinter all dessen nicht auch eine himmelschreiende Arroganz? Die Idee des Humanismus, dass man die Arbeit der Gestaltung der Wirklichkeit, aber auch die des Menschen, nicht mehr nur Gott überlässt, sondern dem Menschen selbst?
Der Dorn im Auge des Betrachters soll herausgezogen und entschärft werden. Der Blick soll klar sein, selbst wenn man versucht, etwas zu verändern, das man gar nicht versteht. Denn würde man es wirklich verstehen, dann bräuchte man es doch gar nicht erst zu ändern, oder etwa nicht?
All dies geht in seinem Kopf vor sich, während der Psychiater vor ihm sitzt, und ihm irgendwelche belanglosen Fragen stellt, auf die er keine Antwort hat. Er hat zwar den Impuls, seinem Gegenüber all dies zu erklären, doch wofür? Er würde es doch nur als ein Wahnsystem interpretieren; es als ein Symptom uminterpretieren; letztendlich es als Werkzeug gegen ihn selbst verwenden.
In der Psychiatrie landen doch eh immer nur die, die nicht die Macht besaßen, sich dagegen zur Wehr zu setzen; die nicht das ausreichende Funktionsniveau hierzu hatten; die der Umwelt nicht genug entgegenzusetzen hatten.
Er verschließt sich noch weiter; fühlt sich nur noch umso mehr missverstanden, obwohl er eigentlich gar nichts gesagt hat.
Kann Schweigen nicht manchmal mehr ausdrücken, als es jedwedes Wort vermögen könnte, oder gar Sätze? Handelt es sich nicht auch dabei nur um Kommunikation, aber um eine, die dem Gegenüber die Möglichkeit offen lässt, die weiße Leinwand zu bemalen, ohne dass diesem dabei die Hand gereicht und der Pinsel für es geführt wird? Handelt es sich dabei nicht um die einzige Möglichkeit des Zuvorkommens? Gibt es überhaupt eine größere Höflichkeit, die dem Gegenüber gewährt werden kann?
Vielleicht nicht. Doch eines ist sicher: es beinhaltet auf jeden Fall auch die Möglichkeit des Missbrauchs dieser eigentlich als höflich gemeinten Geste.
Noch eine Frage des Psychiaters, auf die er nicht antwortet weil er einfach keine Antwort darauf parat hat.
Wer entscheidet überhaupt, ob etwas ein Wahnsystem ist, oder nicht? Kann es sich denn nicht auch bei der Sichtweise des Psychiaters um ein Wahnsystem handeln? Kennt er überhaupt seinen gesellschaftlichen Auftrag, oder führt er nur ihm vorgegebene Methoden aus, die er niemals selbst richtig hinterfragt geschweige denn überprüft hat?
Wie sollte er ihm all dies, was ihm gerade durch den Kopf geht, nur verständlich machen? Wie nur? Wie könnte dies gelingen?
Er seufzt.
Dies bringt den Psychiater kurz aus dem Konzept, wahrscheinlich deshalb, weil es sich hierbei um ein Anzeichen für eine seelische Regung handeln könnte.
Er schaut traurig auf den Boden.
Damit scheint der Psychiater wieder zufrieden zu sein.
Und die Sitzung ist für heute beendet.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Noch keine Kommentare.

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Geld  
Der Wandel tobt  
Das Geheimnis  
Die letzte Reise  
Die blöde Katze  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De