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5 Seiten

Die Kinder von Brühl 18/ Teil 4/ Heimat und Sehnsucht/ Episode 14/Die Schockstarre das Grab der Urgroßeltern und die dunklen Schatten

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
"Nein! Nein! Nein!", schrie Rosi und rannte los. Richtung Brühl. "Nein", schrie sie wie von Sinnen. "Das kann doch nicht wahr sein."
"Ist es aber", schrie auch Karlchen, der mit Jutta hinter Rosi rannte. "Ich war dabei. Auf dem Hackklotz. Mit dem Beil. Überall ist Blut! Und Freia hat so laut geschrien!"
Völler Angst und Entsetzen kamen Rosi, Jutta und Karlchen in Brühl 18 an. Panisch rannten sie in den Hof.
Richard war noch dabei, die Spuren seiner Missetat zu verwischen. Im wahrsten Wortsinn. Aus einem Zinkeimer fischte er immer wieder ein blutgetränktes Tuch aus dem Eimer mit der rotbraunen Brühe. Freias Blut.
Als er die Kinder bemerkte, blickte er kurz auf. Mit seinen große, traurigen Augen sah er die Kinder verständnislos an. Schüttelten seinen Kopf und machte weiter.
"Mörder! Mörder!", schrie Rosi verzweifelt. "Wo ist Freia? Warum hast du das getan?"
Mit ihren Fäusten schlug Rosi auf Richard ein. Immer wieder. Bis es ihm zu viel wurde und er ihre Hände festhielt. "Nun ist aber Schluss", knurrte er. "Hör auf mit dem Geschrei", sagte er böse. "Was willst du überhaupt von mir?"
"Mörder! Mörder"!, schrie Rosi weiter. "Wo ist Freia?"
Angelockt von dem Geschrei, hatte Frau Schmids ihren Kopftuchlockenkopf über die Mauer gereckt. "Was ist denn los?", wollte sie wissen. "Was schreit ihr denn hier so rum?"
Jutta und Karlchen hatten bis jetzt, wie erstarrt, stumm an der Tür zum Hof auf einer Stelle verharrt.
"Der ist ein Mörder", sagte Jutta.
"Wer ist ein Mörder?", wollte Frau Schmids wissen.
Karlchen zeigte mit dem Finger auf Richard. "Der", sagte er. "Und jetzt tut der so, als sei nichts gewesen. Aber ich war dabei."
"Ach du Schreck", sagte Frau Schmids."Der arme Hund."
Erschreckt verkroch sich Frau Schmids hinter der Mauer.
*
Brühl 18 befand sich in einer Art Schockstarre. Es war ungeheuerlich, was geschehen war. Ein lautes Schweigen lag über dem ganzen Haus. Eine Sprachlosigkeit, die alle erfasst hatte. Nur Walti und Gitti plapperten munter vor sich hin. Sie waren noch zu klein, um diese Tragik zu verstehen. Wie auch. Dazu waren ja nicht einmal die größeren Kinder imstande. Auch Else nicht. Nur Richard tat so, als sei alles in schönster Ordnung. Als hätte er jetzt nur einen Fresser weniger. Er hat auch nie gesagt, wohin er Freia gebracht hat. Beerdigt hat er sie bestimmt nicht.
'Vielleicht hat der Freia im Mist vergraben', kam Rosi ein Gedanke. Doch sie Verwarf den Gedanken sofort wieder. Das wäre zu gefährlich. Es könnte ja ein Fuchs kommen. Der Freia riecht. Und sie ausbuddeln. Oder die Krähen und die Raben. Die fressen auch tote Tiere. Oder ein Raubvogel.
'Aber man weiß nie', dachte Rosi.
Also untersuchte Rosi in den nächsten Tagen den Mist. Eifrig stocherte sie mit einem Stock in den Abfällen herum. Doch sie fand keine Spur von Freia.
*
Die Tage vergingen. Der Alltag kehrte wieder ein. Ohne Freia. Doch die Tat lag wie ein dunkler Schatten über Brühl 18. Wie der Schatten der Großmutter. Der Rosalie. Der Mutter von Otto. Die Else eines Tages tot auf dem Dachboden gefunden hatte.
Als Rosi, als sie noch ganz klein war, wissen wollte, woran die Großmutter, also ihre Urgroßmutter, gestorben ist, hatte Else gesagt: "Ich darf nicht darüber reden. Sprich nie wieder davon."
Doch eines Tages hat Else doch darüber gesprochen. Und zwar, als sie und Rosi mal gemütlich zusammen saßen. Was ja wirklich höchst selten vorkam.
"Ich hatte es auch nicht einfach als Kind", hatte Else gesagt. "Du weißt, dass mich meine Eltern schon mit dreizehn Jahren hierher geschickt haben. Zu den kranken Großeltern."
"Ja, hatte Rosi gesagt, "zu dem Opa mit der Schuppenflechte, der immer gerufen hat: 'Bringt mir das Kind. Bringt mir das Kind'."
"Ja", seufzte Else. "Genau der."
"Und dann hast du die Großmutter tot auf dem Boden gefunden", erinnerte Rosi Else. "Aber du hast nie gesagt, woran sie gestorben ist."
"Ich durfte es nicht. Ich musste mein Wort geben."
"Aber jetzt kannst du es mir sagen", sagte Rosi. "Es ist doch schon so lange her."
"Es ist schwer", sagte Else. "Aber dieses Schweigen liegt wie ein dunkler Schatten über der Familie. Besonders über Brühl 18."
"Nun sag schon", sagte Rosi, "vielleicht verschwindet dann der dunkle Schatten."
"Meine Großmutter", brachte Else endlich stockend heraus, "hat sich auf dem Boden erhängt."
Vor Schreck blieb Rosi die Sprache im Hals stecken. Nach einer Weile sagte sie mitfühlend: "Und du hast sie gefunden. Wie sie so da hing."
"Ja", sagte Else unter Tränen. "An einem Balken."
"Schrecklich. Schrecklich."
Es war wirklich schrecklich. Was Else erlebt hatte. Und sie war in Rosis Alter. Gerade mal dreizehn Jahre alt.

Rosi stellte sich vor, wie Else die Leiter hinauf klettert. Warum auch immer. Dann steht sie auf dem Boden und entdeckt die Rosalie. Ihre Oma.
So, als würde sie selbst dieses dreizehnjährige Mädchen, die Else, sein, sieht Rosi vor ihrem geistigen Auge Else auf dem Dachboden stehen. Erstarrt. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen.
Rosalie hängt an einem Balken. Um ihren Hals einen dicken Strick. Der Kopf ist zur Seite gekippt. Die Augen weit aufgerissen. Der starre Körper baumelt im leisen Luftzug hin und her.
Verwirrt wischt sich Rosi über die Augen. Was für ein unseliges Bild.
"Schrecklich, schrecklich", wiederholte sie. "Was hast du dann gemacht?", fragte sie Else.
"Ich fing gleich an zu schreien", sagte Else. "Bis der Großvater kam. Der hat sie dann abgeschnitten. Vor meinen Augen. Die Großmutter hatte die Augen noch offen. Es war so schrecklich."
"Und dann?", fragte Rosi leise.
"Dann musste ich den Arzt holen. Wegen des Totenscheins. Darauf schrieb der Arzt dann Herzversagen."
"Herzversagen?"
"Ja."
"Aber das stimmte doch nicht", sagte Rosi.
"Natürlich nicht", sagte Else. "Aber wenn auf dem Totenschein Selbstmord gestanden hätte, wäre die Großmutter nicht kirchlich beerdigt worden."
"Was wäre dann geschehen?"
"Die Großmutter wäre dann vor der Friedhofsmauer verscharrt worden. Wie ein räudiger Hund", fügte Else traurig hinzu. "Ohne Namen. Und ohne Datum. So, als hätte es sie nie gegeben."
"Das ist ja wirklich ganz traurig", sagte Rosi.
"Und was noch trauriger ist", berichtete Else weiter, "Mein Großvater hat mir verboten, jemals darüber zu sprechen. Und jetzt habe ich mein Wort gebrochen. Das ist eine große Sünde."

Eine große Sünde. Was sollte Rosi dazu sagen. Eine große Sünde. War Elses große Sorge. Keiner sollte das Geheimnis, das wie ein dunkler Schatten über Brühl 18 lag, erfahren. Else sollte das Geheimnis tief in ihrem Herzen begraben. Als wäre es damit aus der Welt geschafft. Nun hatte sie ihr Wort gebrochen. Doch anstatt sich befreit zu fühlen, hatte sie noch eine Last mehr zu tragen. Eine 'große' Sünde.

"Mama", sagte Rosi, "sollte mich jemals Jemand nach dem Geheimnis fragen, werde ich die Wahrheit sagen."
"Wer sollte dich denn danach fragen?", fragte Else. "Außer uns weiß doch keiner davon."
"Und wenn ich sage, dass ich es sage, wenn es doch Jemand wissen wollen sollte", trumpfte Rosi auf, "ist es ja keine Sünde."
"Immer und überall hat der Teufel seine Hand im Spiel", sagte Else nachdenklich. "Und Gott natürlich auch."
"Vielleicht gehören die Beiden ja zusammen", sinnierte Rosi. "So wie Tag und Nacht."
"Auch eine Version", stimmte Else Rosi bei. "Aber es kommt darauf an, wer die Übermacht hat."
Damit war das Gespräch beendet.
*
Allmählich kam es Rosi vor, als würde sie den Teufel mehr lieben als Gott.
Was natürlich wieder eine Sünde war. Doch der Teufel schien ihr Freiheit zu bringen. Der Gott Angst und Gefangenschaft. Jetzt. wo das große Schweigen wieder über Brühl 18 lag. Und die dunklen Schatten immer länger wurden.
"Sonst wäre sie an der Friedhofsmauer verscharrt worden", hörte Rosi Else sagen. "Wie ein räudiger Hund."
Vielleicht hat Richard Freia ja auch an einer Mauer verscharrt. Vielleicht
an der Friedhofsmauer. Da würde sie bestimmt keiner suchen.
"Mama ", sagte Rosi nach einigen Tagen des Schweigens zu Else, "ich geh mal zum Friedhof. Das Grab von deinen Großeltern gießen."
"Mach das", war Else einverstanden. "Wir waren ja schon lange nicht dort. Und geregnet es es auch länger nicht."

Auf dem Weg zum Friedhof überkam Rosi wieder das große Heulen. Sonst war auf fast all ihren Wegen Freia neben ihr her gesprungen. Jetzt lief sie allein durch die Straßen. Einsam und verlassen. Bestimmt würde sie nie wieder fröhlich sein können.
Traurig lief Rosi am Kino vorbei. Sie machten keinen Abstecher zu dem langen Gang, der zum Kino führte. Die Vorankündigung des neuen Spielfilms Casablanca mit Ingrid Bergmann interessierte sie auch nicht. Zumal Else gesagt hatte, dieser Film sei eine gekürzte Fassung. Und nur eine schnulzige Liebesgeschichte.
Schnurstracks lief Rosi zum Friedhof. Es gab noch einen alten Friedhof. Aus dem sechzehnten Jahrhundert. Dort stromerte sie manchmal herum. Obwohl die Wandelgänge kaum noch zu erkennen waren. Auch auf den uralten Grabsteinen war die Schrift kaum zu entziffern. Überall wuchs meterhohes Gras. In den verwilderten Büschen hauste so manch Getier. Und die Äste, die der Sturm von den uralten Bäumen gerissen hatte, lagen überall herum.
Dieser alte Friedhof schien Tausende unergründliche Geheimnisse zu bergen. Besonders die übergroßen Skulpturen zogen sie immer wieder aufs Neue an.
Doch heute interessierte Rosi nur Eines. Das Grab der Urgroßeltern. Und die Mauer. Einige Meter davor.
Eilig lief Rosi an der Kapelle vorbei. Hin zum Grab. Am Ende eines schmalen Wiesenstreifens. Nicht weit von der Friedhofsmauer entfernt.
'Vielleicht hat Richard Freia hier an der Mauer verscharrt', dachte Rosi.
Doch eine andere Stimme in ihr sagte; 'Das kann nicht sein. Der kommt doch nie hier her.'
"Eben drum", erwiderte Rosi laut.
Rosi nahm eine von den Gießkannen, die an der Wasserstelle standen und lief damit zur Mauer. Zweimal lief sie mit der Gießkanne in der Hand die Mauer entlang. Immer in der Hoffnung, einen neuen Hügel, frisch aufgeschüttete Erde oder irgendeine Spur von Freia zu finden. Vergebens. Alles war wie immer.
Enttäuscht lief Rosi zurück. An der Wasserstelle füllte sie die Gießkanne und goss die fast verwelkten Blumen auf dem Grab. Dann setzte sie sich auf die Bank neben der Grabstätte.
"Ja", sagte sie zu den Urgroßeltern. "Ihr habt eure Geheimnisse auch mit ins Grab genommen. Eure Sünden. Und eure Lügen."

Nachdenklich schaute Rosi in den Himmel. Teilnahmslos zogen die Wolken ihre Bahn. Wohin nur?
"Ja, wohin?", wandte sie sich wieder an die Urgroßeltern. "Wohin seid ihr gegangen?"
Die Urgroßeltern waren keine guten Menschen. Gott würde sie niemals am 'Tag der Auferstehung' in sein Himmelreich holen. Einen bösen, alten Mann. Und eine Selbstmörderin. Niemals. Und Richard, diesen Hundemörder, auch nicht. Wie konnte Else sich den nur als Mann nehmen. Da hatte Berta schon mehr Glück. Otto hatte sich ja vom Raufbold und Trinker in einen Prediger verwandelt. Nachdem ihm damals Gott in einer goldenen Wolke erschienen war.
Ihr Mann dürfte nicht rauchen. Und nicht trinken. Und er müsste sportlich sein. Braune Augen haben. Und dunkle Locken.
Bei diesen Gedanken sah Rosi plötzlich den Flüchtlingsjungen Walter vor sich. Wo mag der jetzt sein?

Der Gedanke an den Flüchtlingsjungen Walter hatte Rosi einen kleinen Teil ihrer Traurigkeit genommen. So schien es ihr jedenfalls. Sie sprang auf und lief in Brühl 18. Hier setzte sie ihre Suche nach Freia fort. Hartnäckig untersuchte sie nochmal die Erde mit den Abfällen im Mist. Hinter dem Mist. Vor der niedrigen Mauer zu Schmids Garten, Hinter dem das Grundstück mal dem Großvater gehört hatte. Und er es im Suff verspielt haben soll. Aber sie fand keine Spur einer Veränderung. Auch nicht vor der Mauer mit dem Zwetschgenbaum davor.
So lag auch diese Tat fortan wie ein dunkler Schatten über Brühl 18.

***
Fortsetzung folgt
 
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Kommentare  

Danke liebe Else, ja, so war es damals. Aber Du
bringst uns mit Deinen wunderschönen Fotos und
kurzen Texten ja auch die Natur ein Stückchen
näher. Oder machst zumindest darauf
aufmerksam. Das ist doch schon mal was.
Gruß von


rosmarin (21.06.2024)

Spannend und herzzerreißend geschrieben. Welch eine Story. Ich kann mir alles sehr bildhaft vorstellen. Gut, dass wir nicht zu solchen Zeiten leben müssen. Auf der anderen Seite gab es damals wenigstens vielmehr Natur, in der man sich austoben konnte.

Else08 (19.06.2024)

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