Kapitel 15 – Last Order
Ike kam aus der Bürobaracke heraus, steckte Daumen und Zeigefinger in den Mund und pfiff sein Schreinerteam zu sich, die seine Aufforderung sogar während des Aufheulens der Bohrmaschinen und der etlichen Hammerschläge vernahmen. Gewöhnlich benutzten die Vorarbeiter eine Trillerpfeife, um die Aufmerksamkeit ihrer Arbeiter zu erlangen, denn in den Werkstätten herrschte ständig ein unglaublicher Lärm. Besonders wenn die Dampfmaschinen und Laufbänder eingeschaltet waren.
Als die Schreiner sich um Ike versammelt hatten verkündete er, dass jeder Mitarbeiter aus dem Titanic-Team nach Dienstende im Nelson`s Pub zum Umtrunk eingeladen sei. Dann trat er vor die jungen Lehrburschen, die ihn ehrfürchtig anschauten und dabei ihre Schirmmützen in ihren Händen hielten. Ike betonte, dass diese Einladung nicht für die Lehrlinge gelten würde und keiner von ihnen sich dort blicken lassen dürfte.
Nach dieser Ansage jubelten die Arbeiter und boxten sich gegenseitig freudig auf die Arme. Der Holländer scheint vielleicht doch kein so schlechter Kerl zu sein, meinten daraufhin einige aus dem Team. Ike klatschte aufdringlich in seine Hände und scheuchte die Männer wieder an die Arbeit zurück, wobei die Lehrjungen enttäuscht ihren zugeteilten Gesellen folgten.
„Das ist so unfair und voll gemein!“, zischte ein Junge, zweites Lehrjahr verärgert. „Wir dürfen ständig nur die Drecksarbeit machen und wenn es mal was zu feiern gibt, dann sollen wir bleiben wo der Pfeffer wächst.“
„Mach dir nichts draus“, tröstete Aaron seinen Artgenossen und fasste ihm freundschaftlich an die Schulter. „Wenn wir später Gesellen sind … Niemals werde ich so gemein zu meinen Lehrlingen sein, wie sie uns behandeln. Das verspreche ich!“
Ike hatte seinen Plan wohldurchdacht. Die berüchtigtsten Trinker aus seinem Team mussten nämlich zusätzlich die Mittagsschicht übernehmen und somit rechnete er mit allerhöchstens einer handvollen Leute, die allesamt brave Familienväter waren und selten um die Häuser zogen. Bis auf seinen Zimmermannsgesellen Bob und seine Stammtischanhänger von denen allgemein bekannt war, dass sie regelmäßig ihr Feierabendbier tranken, bevor sie nach Hause gingen. Und dabei machte es keinen Unterschied, ob Bob nun Nachtschicht oder sogar auch mal samstags arbeiten musste. Aber seinetwegen hatte er ja auch zum gemütlichen Umtrunk im kleinsten Kreise ausgerufen. Zudem hatte die Woche erst begonnen und kein normaler Mensch würde schon am helllichten Dienstagnachmittag übermäßig trinken, wenn er am nächsten Morgen wieder früh aufstehen musste, dachte er sich. Außerdem schätzte Ike seine Arbeiter für bescheiden ein, wenn ihr Chef eine, allerhöchstens zwei Runden Bier ausgeben würde. Sie werden sich bestimmt geschmeichelt fühlen und es ihm danken. Besonders der trinkwütige Bob würde sich sicherlich über das spendierte Guinness erfreuen und ihn endlich als einen Freund akzeptieren. So sein Plan. Danach werden alle gewiss anstandslos zurück zu ihren Familien gehen. Ike rieb sich frohlockend die Hände. „Manchmal übertreffe ich mich sogar selbst“, lobte er zuversichtlich seine ausgetüftelte Idee.
Bobs Mundwinkel verzierten sich zu einem hämischen Grinsen und er rieb sich verheißungsvoll die Hände, weil Ike sich mit dieser Einladung seiner Meinung nach selbst zum Schlachthof geführt hatte. Nämlich direkt ins Nelson`s Pub, dort wo McMurphy praktisch wie ein Vorarbeiter angesehen wurde und das absolute Sagen hatte, weil er in dieser Kneipe der Chef des Stammtisches war.
Jetzt war die einmalige Gelegenheit endlich gekommen, den arroganten Schnösel eins auszuwischen. Bob beabsichtigte einen Anschlag auf Ikes Portemonnaie zu verüben. Die Zeche sollte in die Höhe getrieben werden, bis Ike ausfallend werden würde. Sicherlich wird dem Holländer eine überhöhte Rechnung nicht gefallen und wird daraufhin bestimmt seinen Unmut mitten im Nelson`s Pub freien Lauf lassen. Somit würde sich der Vorarbeiter van Broek vor allen Leuten bloßstellen, woraufhin man ihn zukünftig gar den knausrigen Holländer nennen würde. Und mit einem geschickten Anstacheln, malte sich Bob in seinen Gedanken aus, könnten durchaus ein paar Ohrfeigen schallen. Er war jedenfalls davon überzeugt, dass dieser Nachmittag interessant werden würde.
Bob meldete sich bei seinem Vorarbeiter Mr. van Broek vorschriftsmäßig ab, mit der Begründung, er müsse seine Notdurft verrichten. Stattdessen aber eilte Bob in die anderen Werkstätten, in denen seine besten Kumpels arbeiteten und ließ verlauten, dass nach Feierabend im Nelson`s Pub eine große Sause stattfindet.
„Der Holländer hat heute scheinbar Geburtstag, denn er gibt einen aus. Alles ist umsonst. Sagt jedem der keine Mittagsschicht hat, dass sie herzlich eingeladen sind. Jetzt zeigen wir einem Holländer mal, was ein Ire so alles vertilgen kann. Also, sauft und fresst so viel ihr könnt, Männer!“, verlautete Bob seinen Kumpanen, während er ihnen freundschaftlich auf ihre Schultern klopfte. Die Werftarbeiter waren begeistert und freuten sich auf diesen Feierabend, wie schon lange nicht mehr zuvor.
Das Nelson`s Pub war eine kleine Hafenkneipe und galt als eine der verruchtesten Wirtshäuser in Belfast, die ausschließlich von katholischen Werftarbeitern besucht wurde. Selbst ein Protestant, in Begleitung katholischer Freunde, hätte sich niemals dorthin gewagt. Schließlich wusste jeder, dass dort McMurphy verkehrte, dieser die Herrschaft über den Stammtisch hatte und die Baptisten abgrundtief hasste. Aber Bob war in dieser Hinsicht tatsächlich kulanter geworden und falls ein anständiger Protestant dennoch unbedingt das Nelson`s Pub betreten wollte, forderte er dafür Sauf-Zoll, wie er es gerne nannte. Diese Maßnahme bedeutete, dass derjenige der gesamten Stammtischrunde allererst einen ausgeben musste, um bleiben zu dürfen.
Der Name dieser Hafenkneipe wurde nicht zu Ehren des berühmten englischen Admirals Lord Horatio Nelson benannt, wie mancher vermuten würde, sondern der Schankwart benannte die Schänke nach seinen eigenen Vornamen.
Nelson war ein untersetzter Typ, der selten seinen Melonenhut absetzte, oftmals schlecht gelaunt war, sein Servierfräulein Sophia stets herumscheuchte und ständig seine Gäste selbst wegen Nichtigkeiten anmotzte. War der Aschenbecher wieder überfüllt, ermahnte er die Stammgäste sich gefälligst mit dem Qualmen zu zügeln und im gleichen Atemzug schnauzte er Sophia an, weil sie wiedermal ihre Pflichten vernachlässigt hatte, die Aschenbecher nicht rechtzeitig geleert zu haben. Stieß jemand versehentlich sein Bierglas um, hieß er denjenigen einen dämlichen Tölpel, schleuderte ihm einen Lappen ins Genick, zwecks selber sauber machen, und drohte diesen bei nochmaliger Ungeschicktheit den Zapfhahn zuzudrehen, was bedeutete, dass der tollpatschige Gast für den Rest des Abends auf ein leeres Glas starren müsste.
Es tat absolut nichts zur Sache, ob die Kneipe an manchen Abenden brechend voll oder wie so oft nur der Stammtisch besetzt war; Nelson verhielt sich generell mies gelaunt und pöbelte seine Kundschaft auch dann an, wenn sie fröhlich waren und ständig lachten. „Euer Gelächter geht mir langsam auf den Wecker. Entweder ihr haltet die Schnauze beim Saufen, oder ich werfe euch alle hochkantig raus und mache die verdammte Bude jetzt gleich dicht!“, brüllte er dann.
Und wehe dem der es wagte, Nelson unwirsch zu begegnen oder sich gar beschwerte, dann geriet er richtig in Rage und wies diesen Kerl sofort hinaus mit der Begründung, dass er Unfreundlichkeit in seinem Wirtshaus nicht duldet.
Nelson`s Pub war Nelsons eigenes kleines Königreich, wo er sich unantastbar fühlte, eigensinnig regierte und dort nur seine Gesetze zählten, weil er über die Macht des Durstes verfügte. Kein Trunkenbold wagte es mit Nelson zu diskutieren, denn er drohte gerne damit frühzeitig die Last Order auszurufen und erteilte rasch ein Hausverbot. Sobald der dickliche Kerl mit dem buschigen Schnauzbart zornig wurde, interessierte ihn sein Umsatz nicht mehr sonderlich. Vielmehr erfreute es Nelson, dass er eine gewisse Macht ausüben konnte und jeder sofort kuschte wenn er drohte, kein Bier mehr auszuschenken oder die Kneipe noch vor Mitternacht zu schließen.
Wenn ein Fremder herein kam dessen Nase ihm nicht passte, weil dieser eventuell Ärger machen könnte, benötigte es lediglich ein Fingerschnippen und die Stammgäste beförderten diesen Störenfrieden beherzt im hohen Bogen hinaus auf die Straße. Pöbelte der Fremde dann immer noch vor der Haustüre herum oder wagte es gar wieder hineinzugehen, dann lernte dieser Bob McMurphy näher kennen, woraufhin man diesen Mann nie wieder zu Gesicht bekam. Jedenfalls nicht mehr in diesem Viertel. Dafür belohnte Nelson den Stammtisch, obwohl er äußerst geizig war, stets mit einer Runde Freibier, die aufs Haus ging. Nur sein Servierfräulein Sophia, auf die er angewiesen war, erwies ihm stetig mangelnden Respekt.
Sophia trat generell schlampig auf – die kurzen rotblonden Locken standen ihr ständig ungekämmt zu Berge und der Schultersaum ihres Kleides hing oftmals schief, sodass der Träger ihres Büstenhalters hervorblitzte. Dann erntete sie besonders gierige Blicke, worüber Sophia sich keinesfalls störte, weil es ihr schlichtweg egal war. Sie scherte sich nicht im Geringsten darum, was die Leute über sie dachten und rauchte und trank ungehemmt in der Öffentlichkeit. Manch einer belustigte sich über ihre Hexennase, doch zur bestimmten Abendstunde, wenn der Alkohol zu genüge durch die Blutbahn rauschte, machten ihre lasziven Blicke noch jeden Trunkenbold an.
In der Gesellschaft galt solch ein Auftreten zweifelsohne als skandalös, aber im Nelson`s Pub war die Frau mit den auffälligen Augenrändern und rauen Stimme besonders beliebt, wenn Sophia ihren Alkoholpegel erreicht hatte, lieblicher wurde, mittrank und ihren wohlgeformten Hintern ungeniert auf so manchen Schoss schmiegte. Daraufhin boomte das Geschäft weshalb Nelson oftmals darüber hinweghörte, wenn sie ihn bei internen Unstimmigkeiten einen widerwärtigen Halsabschneider schimpfte, der sowieso keinen mehr hochkriegt.
Sophia sagte man nach, dass sie für ein paar irische Pfunde sehr lieb sein würde. Jedoch die Tatsache des pikanten Gerüchts herauszufinden war ein gewagtes Unterfangen, denn die launische Dame neigte dazu rasch aufbrausend zu kontern und scheute nie davor zurück, einem aufdringlichen Gast eine schallende Ohrfeige zu verpassen, wenn ihr nicht nach derben Scherzen zumute war. Sie mochte vielleicht nicht die hübscheste Magd in Belfast sein, dennoch stellte sie Ansprüche und ließ sich ausschließlich von den gutaussehenden Männern bezirzen.
Sophia wohnte direkt eine Etage über Nelson`s Pub; diese taffe Bedienung verstand es allemal, einen Gast der mindestens 1,8 Promille intus hatte, zu verführen und ihm das Geld aus der Tasche zu locken, damit auch sie auf ihre Kosten kam. Und wenn ihr ein Mann besonders gefiel, war sie keineswegs davon abgeneigt, nachdem die Lichter im Nelson`s Pub erloschen waren, diesen mit hinauf in ihre Stube zu entführen.
Als Ike ungeahnt die Tür des Nelson`s Pub öffnete, grölten ihm dreißig trinkwütige Iren am helllichten Nachmittag entgegen, die zugleich mit ihren Fäusten mächtig auf die Tische schlugen, bis der geschmückte Weihnachtsbaum in der Ecke sachte erzitterte und die Kerzenflammen wild umhertanzten.
Abgestandener Zigarettenrauch schwebte in der Luft. Erstaunt, völlig überrascht, weitete Ike seine Augen, als ein kräftiger Elektroinstallateur aus dem Olympic-Team ihn herzlich umarmte, ihn sogar unbekümmert statt Mr. van Broek, einfach nur Ike nannte und er sich im Namen aller für seine Großzügigkeit bedankte. „Großzügigkeit?“, fuhr es Ike erstaunt heraus. Ja, die Großzügigkeit dafür, dass er auch das Olympic-Team zum gemütlichen Umtrunk eingeladen hatte. Ike blickte völlig verdutzt auf die genervte Bedienung Sophia, die grad dabei war, unzählige ineinander gestapelte Biergläser im Waschbecken zu spülen.
Er schaute erstaunt auf die Kuckucksuhr an der Wand. Unfassbar. Es war grad mal eine dreiviertel Stunde vergangen, nachdem die Firmenschelle von Harland & Wolff den Feierabend eingeläutet hatte, und die durstige Meute hockte schon vor versammelten Tischen und hatte bereits literweise Biere vertilgt. Die Zeche musste mittlerweile schon höher sein, als er es sich ausgerechnet hatte.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“, rief der Elektriker, umarmte Ike abermals freudig und klopfte ihm beherzt auf seinen Rücken. Wieder rumpelten Fäuste kräftig auf allen Tischplatten, sodass sogar der Boden leicht vibrierte.
Ein ungeschriebenes Kneipengesetz besagte, wie es auch in der heiligen Bibel geschrieben steht: Vor Gott sind alle Menschen gleich. Wer auch immer eine Schänke betritt, der wird beim Vornamen genannt und sei es der König von Großbritannien und Nordirland. Die Trinklaune der irischen Werftarbeiter wurde aber keineswegs getrübt als Ike verzweifelt klarstellte, dass er eigentlich erst im Mai Geburtstag hätte und sich dies nur um ein Missverständnis handeln würde.
Daraufhin blickten ihn sechzig Augen erwartungsvoll an, aber als sekundenlange Stille herrschte, begann Bob wieder mit dem Klopfen auf dem Tisch, woraufhin jeder ihm nachahmte und die Bude wieder bebte. Ob nun Geburtstag oder nicht, das spielte überhaupt keine Rolle. Maßgebend war, dass der Zapfhahn bis zum Anschlag aufgedreht wurde und alles umsonst war. Für Ike gab es jetzt kein Zurück mehr.
„Sláinte, auf das der spendable Holländer lange lebe!“, riefen die Männer mit erhobenen Gläsern. „Ein Hoch auf den Holländer!“, brüllten die Kneipengäste zugleich. „Sláinte!“, ertönte es nochmal im Chor. Dann wurde laut gelacht und etliche Biergläser stießen zusammen.
Sophia war sogleich wieder gut gelaunt und entzückt, als sie Ike erblickte und ließ es sich nicht entgehen, ihm augenblicklich ihre Sympathie entgegen zu bringen und nutzte jede Gelegenheit, ihn unauffällig zu berühren. Sie setzte ihr charmantestes Lächeln auf, so wie sie es nur selten tat, fasste ihm zaghaft an die Hüfte, zupfte mit ihren Fingern an seinen Hosenträgern und schmiegte sich dabei an ihn heran, bis Ike ihre prallen Brüste zu spüren bekam.
„Na, mein hübscher Vorarbeiter. Dich habe ich ja noch nie hier gesehen. Was darf ich dir denn anbieten?“, hauchte sie mit ihrer rauchigen Stimme verführerisch in sein Ohr.
Behutsam setzte Ike grinsend seinen Bowler auf ihre abstehenden Locken. Er richtete den Melonenhut etwas seitlich und blickte sie an.
„Wie süß du aussiehst. Nun ähnelst du Marlene Dietrich etwas.“
Sophia runzelte die Stirn und blickte ihn ernst an.
„Marlene … Wer? Ich habe zwar keine Ahnung, wer zum Teufel diese Krautfresserin ist, aber wage es ja nicht, dich über mich lustig zu machen!“, antwortete sie spitz.
Ike schluckte unauffällig. Er hatte die deutsche Schauspielerin und Sängerin versehentlich dieser Zeit zugeordnet, dabei war Marlene Dietrich noch gar nicht berühmt und zurzeit sowieso noch ein kleines Mädchen. Ike hatte sich verhaspelt.
„Tja ähm … Ich meinte selbstverständlich, dass du jetzt Mary Pickford etwas ähnelst.“
„Mary Pickford? Die Schauspielerin? Seit wann trägt die denn einen Männerhut?“, fragte sie verwundert. Dennoch lächelte sie ihn charmant an.
Sophia wandte sich von ihm ab und schlenderte auffällig mit dem Hintern wackelnd zum Stammtisch hinüber. Sie behielt Ikes Bowler auf ihren Kopf, hielt das Tablett in ihren Händen, stolzierte voran und blickte kurz schmunzelnd hinter sich. Der Neue gefiel ihr, auch wenn er sie frech mit einer Deutschen verglichen hatte, was nicht unbedingt als der geschickteste Anmachversuch galt, wenn man damals einer irischen Frau ein Kompliment machen wollte.
Sophia beugte sich über den Stammtisch, wobei man tief in ihr Dekolleté einsehen konnte. Die Augen der Männer weiteten sich. Sie nahm einen der glotzenden Werftarbeiter frivol die Zigarette aus dem Schnabel, steckte sich diese selbst in ihren Mund und räumte die geleerten Biergläser hastig auf das Tablett. Die Stammtischmänner stießen sich heimlich gegenseitig an, damit auch niemand es verpasste, ihre beachtlichen Brüste aus nächster Nähe zu betrachten.
„Passt mir ja auf den Weihnachtsbaum auf, ihr Hohlköpfe. Wehe dem, wenn einer von euch im besoffenen Kopf den Christbaum umschmeißt, dann kriegt ihr es mit mir zu tun“, moserte Sophia, wobei die Zigarette in ihrem Mundwinkel sachte wackelte.
Die Feierlaune im Nelson`s Pub war ungefähr so zu vergleichen, als wenn bereits Silvester wäre. Es wurde gelacht, laut gesungen und viel getrunken. Bob grinste breit über die Backen, als er wiedermal die Gelegenheit auszunutzen sah, Sophias knackigen Hintern zu tätscheln, was er leidenschaftlich gerne tat.
„Ach, Sophia. Du bist doch sowieso meine Allerbeste. Sei doch so lieb, mein Schätzchen, und bring uns noch eine Runde. Und wenn du gerade dabei bist, ich habe einen Bärenhunger. Dein Gulascheintopf soll hervorragend schmecken. Davon hätte ich jetzt gerne einen riesengroßen Teller voll.“ Vom Appetit angeregt, leckte sich Bob kurz über die Lippen und knetete zugleich ihre wohlgeformten Pobacken.
„Der Holländer dort drüben auf dem Barhocker, also mein Boss, bezahlt alles. Nun sei ein artiges Mädchen, schwing deinen hübschen Hintern in die Küche und mach dem lieben braven Onkel Bob sein leckeres Happi-Happi. Zum Nachtisch hätte ich dann gerne etwas von deinem hausgemachten Vanillepudding mit Preiselbeeren, meine Süße. Der Chef zahlt alles“, lächelte er.
„Beweg du doch deinen fetten Arsch in die Küche und mach dir selber was, Bob. Du siehst doch, dass ich keine Zeit für Sonderwünsche habe“, antwortete sie monoton und zerrte sogleich seinen Arm von ihrem Rock.
„Lass das Bob, sonst muss ich dir wieder eine scheuern!“, ermahnte sie ihn, als sie sich zwischen allen besetzten Tischen zwängte und wieder hinter den Tresen verschwand. Gelächter am Stammtisch erklang. „Die hat`s dir jetzt aber gezeigt.“
Bob ärgerte und beschwerte sich augenblicklich bei Nelson. Er war hungrig, zudem beabsichtigte er schließlich van Broeks Zeche in die Höhe zu treiben und verlangte von Nelson, dass er Sophia sofort in die Küche scheuchen sollte, damit sie ihm sein Gulasch zubereitet. Oder irgendwas anderes, Hauptsache es wird teuer.
„Halt doch deine verdammte Schnauze, McMurphy!“, zeterte Nelson zornig. „Euer ständiges Genörgel geht mir langsam auf den Geist! Was soll ich denn machen, wenn sie dafür keine Zeit hat? Sophia hat recht. Geh in die Küche und mach dir deinen beschissenen Fraß doch selber. Der Preis bleibt aber gleich … Zuzüglich Trinkgeld! Und falls dir das nicht passt, McMurphy, du weißt ja wo die Tür ist“, lächelte Nelson mit hasserfüllten Augen.
Stunden vergingen. Es wurde munter gelacht und dabei literweise Bier getrunken. Nelson stach bereits das dritte Fass an. „Zum Kotzen aber auch“, brummelte er griesgrämig vor sich hin, obwohl dieser Nachmittag einen hohen Tagesumsatz versprach. „Was müssen diese Vollidioten schon wieder am helllichten Tage feiern und sich voll laufen lassen?“
Ike saß beschwipst und etwas schief auf dem Barhocker, lümmelte auf dem Tresen und begutachtete die imposante Schiffsglocke aus purem Messing, die direkt über dem Ausschank hing. Diese diente dafür, um Nelsons wohlverdienten Feierabend einzuläuten. Wenn der Schankwart daran läutete bedeutete dies: Last Order. Dann durfte nur noch ein letztes Mal ein einziges Getränk bestellt werden und danach war Schluss.
Neben ihn hockte der Nieter Jefferson. Ike hatte soeben sein zweites Glas Guinness leegetrunken und hickste. Vor ihm standen aber noch weitere drei gefüllte Biergläser mit abgestandenem Schaum und jeweils der dazu gehörige Schluck Whiskey. Jefferson redete ununterbrochen auf ihn ein und jedes Mal, wenn er sein Guinness vertilgt und den Whiskey hinterher gekippt hatte, bestellte er sogleich bei Nelson die gleiche Getränkekombination nochmal, sowie auch für Ike. War ja alles umsonst. Doch Ike kam da nicht hinterher.
Mit leicht erröteten Kopf und einem zugekniffenen Auge schwankte Ike sachte auf dem Barhocker, und schaute grinsend umher. Seine dunklen Haarsträhnen standen lustig ab. Er rülpste leise.
Die Feierlaune der Werftarbeiter hatte nun ihren absoluten Höhepunkt erreicht. Immer wieder ertönten lautstarke Trinksprüche, die den spendablen Vorarbeiter lobten und zum Weitertrinken animierten: „Auf den allerbesten Vorarbeiter von Queens Island: Ike van Broek! Hip-Hip!“, rief es aus einer Ecke, woraufhin der ganze Saal: „HURRA!“ brüllte. „Hip-Hip: HURRA! Hip-Hip: HURRA! Sláinte!“, ertönte es lautstark in der Hafenkneipe und lautes Lachen folgte.
Ike dankte es stets, indem er die Hand hob, über die sitzende Meute blickte und breit grinste. Und immer wieder erklangen Trinkhymnen, die aus vollem Halse gegrölt wurden, sodass es mittlerweile bis hinaus auf die Straße zu hören war. Ike, der zuvor niemals so viel Alkohol konsumiert hatte, schwankte etwas und war nun in den Fängen trinkfesten Iren, die ihn an diesen Dienstagnachmittag nicht so leicht davon gehen lassen würden, denn schließlich würde dies einen wahren Feierabend bedeuten, weil dann der kostenlose Zapfhahn zugedreht werden würde.
Bob lümmelte unterdessen mit verschränkten Armen auf der Tischplatte des Stammtisches und blickte grimmig drein. Mittig stand der überfüllte Aschenbecher, worüber an einer Messingverzierung eine kleine Glocke befestigt war, die dazu diente, um die Aufmerksamkeit der Bedienung zu erlangen, falls der Stammtisch Nachschub benötigte. Bobs listiger Plan, seinen Vorarbeiter aus der Reserve zu locken und ihn irgendwie bloßzustellen, schien offenbar gescheitert zu sein. Missmutig beobachtete er Ike, wie er sich ausgelassen amüsierte und seine eigenen Kollegen und beste Freunde ihn ständig mit Ausrufen lobpreisten. Ike van Broek hatte sich offensichtlich bei allen beliebt gemacht und die hohe Zeche, die ihn erwartete, schien dem Holländer scheinbar nicht zu beunruhigen. Also musste Bob eine alternative Strategie anwenden, um Ike irgendwie zu provozieren und fing an, lautstark Holländerwitze zu erzählen.
„Männer, hört mich an! Warum glotzen die Holländer lächelnd aus dem Fenster, wenn ein Gewitter über das Land zieht und es blitzt und donnert?“, fragte er in die Menge. Stillschweigen herrschte, bis auf ein belustigtes Grunzen irgendwo aus einer Ecke war zu hören.
„Weil die Holländer denken, dass sie fotografiert werden.“
Die Leute schlugen ihre Fäuste auf die Tische und lachten Tränen. Ike dagegen fühlte sich peinlich berührt, lachte aber gezwungen mit. Dann stand Bob auf, hielt seine Arme in die Höhe und versuchte die lachende Meute wieder zu beruhigen. Als dies ihm nach einer gewissen Zeit gelungen war, posaunte er einen weiteren Holländerwitz hinaus.
„Männer, hört zu! Was ist ein Holländer mit einem Zahnstocher im Arsch?“, fragte Bob lautstark und blickte ernst in die Runde. Wieder war nur ein kurzes Prusten oder Hüsteln zu hören.
„Ein Käsespieß“, antwortete er lächelnd und zog dann genüsslich an seiner Zigarette.
Die Mannschaft johlte und jeder hielt sich vor Lachen die Bäuche, bis auf Ike, der sich ein Lächeln regelrecht aufzwängen musste. Als Ike mittlerweile sein drittes Glas Guinness halb geleert und sogar einen Whiskey hinterher gekippt hatte, verfinsterte sich seine Miene und forderte Bob auf, augenblicklich seinen Mund zu halten. Bob winkte ihm vom Stammtisch freundlich zu und versicherte ihm, dass er keine Holländerwitze mehr erzählen würde.
„Na klar, Boss. Selbstverständlich. Ich erzähle keine Witze mehr … Aber einen habe ich noch, Männer. Diesen Witz darf ich euch nicht vorenthalten“, verkündete er woraufhin die Menge sogar mit ihren Füßen trampelten, bis der Weihnachtsbaum bedrohlich wackelte und die Kerzenflammen wild flackerten.
„Warum tragen die Holländer eigentlich immer Holzschuhe?“, fragte er in die stille Runde. Bob blickte nur auf ratlose Gesichter, die ihr Prusten unterdrückten und mit ihren Schultern zuckten.
„Weil sie glauben, somit über das Wasser laufen zu können.“
Fäuste schlugen wuchtig auf die Tische, wobei erneut Tränen gelacht wurden. Das lautstarke Amüsieren schien kein Ende zu finden, doch Ike fühlte sich im angetrunkenen Zustand nun endgültig persönlich angegriffen und vorgeführt.
„Bob, jetzt reicht es endgültig!“, motzte Ike sichtlich zornig.
Stille herrschte daraufhin. Niemand lachte mehr. Ike griff nach seinem Tabaksäckchen, drehte sich eine Zigarette, schwelgte in seiner Macht – niemand wagte sich, das Wort zu ergreifen –, paffte und blickte Bob mit einem gekniffenen Auge an. McMurphy hohnlächelte, zog kräftig an seiner Zigarette, inhalierte den Zigarettenrauch und blies es durch seine breiten Nasenlöcher wieder raus.
„So macht man das, mein holländisches Schnuckelchen. Mach mal nach. Bist du ein Mann oder etwa nur eine Maus?“, griente er listig.
Schließlich wusste er, dass Ike erst kürzlich mit dem Rauchen angefangen hatte. Aber Ike paffte nur bislang, hatte Bob selbst beobachtet.
Sachtes Prusten drang aus manchen Mündern, was aber sogleich wieder verstummte, als Ike scharf in die Runde blickte. Nur das Ticken der Kuckucksuhr und ein Hüsteln hier und dort unterbrach die ungewohnte Stille. Ike schnaufte abfällig, zog genauso wie es Bob ihm vorgemacht hatte an seiner Zigarette, inhalierte und weitete sogleich aufgeschreckt seine Augen, krümmte sich und hustete minutenlang.
Alle lachten und klopften kräftig auf die Tische. Als Ike endlich seinen Hustenanfall überwunden hatte, richtete er sich auf und stieß seinen Barhocker wütend um.
„Was gibt`s da zu lachen, ihr irischen Mistfliegen? Scheinbar musste erst ein wahrer Mann aus der Niederlande nach Irland kommen, um euch zu zeigen, wie man Schiffe baut!“, brüllte er leicht lallend dreißig Männer mit einem gekniffenen Auge giftig an. „Ihr seid doch allesamt nur dumme Akteure, die nicht einmal wissen, was Penicillin ist!“
Funkstille herrschte. Sechzig Augen blickten ihn regungslos an. Was meint er damit, fragte sich jeder? Bis auf Bob. Er lächelte, zog genüsslich an seiner Zigarette und nickte stetig. Dann warf er die Fackel in das Pulverfass.
„Männer, hört mich an. Vorarbeiter hin oder her, aber das müssen wir uns von einem holländischen Bastard nun wirklich nicht gefallen lassen. Oder? Schieben wir ihm doch sein beschissenes Penidilinum … oder wie auch immer das heißt, in seinen verfluchten Adonis-Arsch, bis er es wieder herausauswürgt!“
Nach dieser Kampfansage weitete Sophia ängstlich ihre Augen.
„Leute, gebt mir bitte auf den Weihnachtsbaum acht“, waren ihre letzten Worte, bevor sie das Tablett fallen ließ und sich hinter dem Ausschank duckte, genauso wie auch Nelson es schleunigst tat.
Sogleich packte der erste Werftarbeiter Ike grob am Kragen und holte mit der geballten Faust aus. In diesem Moment verstummte Ikes höhnisches Gelächter, sein Blick verfinsterte sich und eh die heranschnellende Faust ihn traf, schlug er blitzschnell seinem Angreifer die Stirn gegen dessen Nase.
Ächzend stürzte dieser Mann zurück, knallte gegen einen besetzten Tisch und riss dabei alle darauf stehende Getränke mit auf den Boden, die daraufhin zersplitterten. Und noch bevor irgendein Anwesender reagierte, geschweige denn realisierte, was gerade geschah, schlug Ike einen weiteren Nebenbuhler mit einem Fausthieb nieder, ging runter zum Spagat, drehte sich einmal um seine Achse und zog somit vier weiteren Rivalen die Füße unter dem Boden weg, die daraufhin stürzten und mit ihren Köpfen hart aufschlugen.
Holz krachte, Glas zerbärste, sogar der Kronenleuchter an der Decke vibrierte. Ike sprang sofort wieder auf, hämmerte dem nächsten seinen Ellenbogen ins Gesicht, der ebenfalls im hohen Bogen auf einen weiteren besetzten Tisch aufschlug und Glas zersplittern ließ. Die verdutzten Männer am Tisch kippten samt ihren Stühlen rückwärts um.
Ike schnappte sich einen Barhocker, hielt diesen mit beiden Händen fest und holte damit weit aus, um einen weiteren Angreifer außer Gefecht zu schlagen, der grad brüllend auf ihn zustürmte. Dabei zerschmetterte Ike mit dem Barhocker ausversehen den Kronleuchter an der Decke, wobei er verdutzt nach oben schaute und sich deshalb einen mächtigen Kinnhacken von irgendeinem Werftarbeiter einhandelte. Glasscherben regnete es von Oben herab und Ike stürzte rücklinks zu Boden. Er rappelte sich aber sofort wieder auf, drehte sich um die eigene Achse und trat dem Widersacher gegen die Brust, der daraufhin rückwärts zurückflog und weitere Angreifer umstieß.
Ike packte Jefferson – der immer noch seelenruhig auf seinem Barhocker saß, schmunzelte und gerade unbekümmert eine Zigarette anzündete –, kurzerhand an seinen Haaren und stieß sein Gesicht wuchtig gegen die Schiffsglocke.
GONG: Last Order und Ring frei!
Jefferson fiel vom Barhocker und rutschte langsam die Ausschankvertäfelung herunter und hielt sich schmerzverzehrt die Stirn. Die abgeknickte Zigarette steckte dabei immer noch in seinem Mundwinkel. Sogleich konzentrierte sich Ike auf Jimmys Stimme, die ihm wie aus einem Nebel zurief: „Ike, denk an deine Defensive. Schütze deine verdammte Visage, wenn du nicht irgendwo in einer Gosse eines wildfremden Jahrhunderts zusammengedroschen enden willst!“
Sogleich hob er seine geballten Fäuste zu einer klassischen Boxerdeckung, schützte sein Gesicht und drehte sich dabei langsam im Kreis herum wobei er die Männer, die ihn umzingelten, abwechselnd scharf in die Augen blickte. Jetzt galt es trotz alledem behutsam zu reagieren, denn was hätte er schon davon, wenn er seinen eigenen Handwerkergesellen die Knochen brechen würde und sie daraufhin arbeitsunfähig wären? Außerdem musste er auf der Hut sein, damit die aufgebrachten Urväter ihn nicht selbst krankenhausreif schlagen, was diese nämlich beabsichtigten.
Plötzlich stürmte Jefferson, ein Mann wie ein Bär, der den ganzen Nachmittag mit ihm friedlich palavert hatte, mit Gebrüll auf ihn zu. Die Sache mit der Schiffsglocke hatte er ihm offensichtlich für übel genommen. Ike reagierte blitzschnell, wich seinen heranschnellenden Fäusten aus, rammte ihm das Knie in seinen Bauch und verpasste ihm einen mächtigen Kinnhacken, sodass Jefferson mit beiden Beinen abhob, auf den Tresen stürzte und auf der glatten Fläche entlang schlitterte. Dort stieß er jedes Bierglas um und landete letztendlich scheppernd im Getränkeregal, worin die guten Whiskeyflaschen sowie Brandys und andere teuren Spirituosen deponiert waren, rücklings hinein. Ächzend spukte Jefferson einen Zahn sowie Blut aus.
Das war Bobs einmalige Chance, darauf hatte er schon so lange sehnsüchtig gewartet. Daraufhin hatte er den ganzen Nachmittag gar hinausgearbeitet, endlich die Gelegenheit am Schopfe zu packen, die säuberlich strahlenden Zähne des großmäuligen Holländers in seinen legendären Ledersäckchen zu verstauen. Wutentbrannt sprang er auf den Stammtisch und hechtete ihm kurz entschlossen entgegen. Einen mächtigen Kampfschrei stieß Bob dabei aus, als er direkt mit ausgebreiteten Armen auf ihn zuflog. Beide klatschten gegen die Theke, wobei die Eichenvertäfelung einriss und ein Barhocker dabei zertrümmert wurde. Bob saß obendrauf und schlug ihm wütend seine geballte Faust ins Gesicht. Ikes Hinterkopf schlug auf den Boden auf. Er konterte aber sogleich damit, dass er ihm die Stirn gegen sein Gesicht wuchtig rammte. Bob taumelte rückwärts auf einen besetzten Tisch und riss alle sitzenden Gäste sowie Biergläser um. Ike rieb sich schmerzverzehrt seine Stirn. Das hatte unheimlich wehgetan, stellte er fest.
„Verdomme, was für einen harten Holzschädel Bob doch hat“, dachte er sich insgeheim. Und immer noch nicht war McMurphy außer Gefecht gesetzt!
Stühle krachten und gefüllte Biergläser zersplitterten. Ike erhob sich leicht schwankend und richtete seine schwingenden Fäuste gegen ihn. Er keuchte.
Bob richtete sich wieder langsam auf und schüttelte sich, krempelte seine Ärmel hoch und war grad dabei, Ike erneut zu attackieren. Solange Bob McMurphy nicht endgültig niedergeschlagen wurde, war er nicht mit ihm fertig. Seine blutige Boxernase wischte er sich einfach mit dem Ärmel ab und starrte ihn weiterhin feindselig an.
„Bob, Schluss jetzt! Lass uns Freunde sein. Sei jetzt endlich friedlich! Wir trinken noch einen und vergessen die ganze Sache. In Ordnung? Ich werde keine Meldung an die Geschäftsführung machen, was heute passiert ist. Einverstanden?“, schlug Ike keuchend vor.
Bob tupfte mit dem Ärmel seine blutende Lippe trocken und fühlte an sein geschwollenes Auge.
„Trinken? Oh ja, Freundchen. Du wirst trinken … Und zwar das Latrinenwasser aus dem Scheißhaus, wenn ich mit dir fertig bin!“, sprach Bob gehässig, als er wieder brüllend auf ihn zustürmte. Ike streckte sein Bein, in dessen Stiefelsohle Bob direkt hineinrannte und seine breite Stirn traf. Rücklings taumelte er auf den Stammtisch zu und stieß darauf nieder, woraufhin die Tischbeine einbrachen und der Aschenbecher mitsamt der Glocke durch die Luft wirbelten. Bob lag samt der Tischplatte auf dem Boden, alle Viere von sich gestreckt und schüttelte sich kurz, bevor er sich wieder langsam aufrichtete und ihn abermals zu attackieren versuchte.
Aber Bob stockte, weil Nelson plötzlich eine doppelläufige Flinte in die Luft hielt und schoss. Ein lauter Gewehrschuss knallte, wobei Holzsplitter des Dachgebälks zerbärsten. Sofort lud Nelson nach und zielte mit dem Gewehr auf den Kneipenmob. Aus der doppelläufigen Mündung qualmte es sachte. Niemand rührte sich, alle standen still.
„Sofort aufhören … Schluss jetzt! Die Party ist vorbei. Geht alle nach Hause. Jeder sofort raus hier! Und du McMurphy, du blöde Sau hast es vermasselt. Hausverbot … Auf Lebenszeit!“
Nun, es ging so einiges zu Bruch. Hauptsächlich Biergläser, Stühle, Tische, diverse Whiskeyflaschen; das Kruzifix über der Eingangstüre hing auch etwas schief. Das Gemälde, auf dem Jesus Christus mit seinen Jüngern zu sehen war, die gerade das Abendmahl zelebrierten, war auch heruntergefallen und lag mit dem Rahmen in einer Bierpfütze. Nicht zu vergessen war, dass der Kronleuchter ebenfalls völlig zerstört wurde und nur noch Metallstangen schräg von der Decke runterhingen.
Sogar ein geschlossenes Fenster war zerbrochen, weil Jefferson einen Barhocker Ike entgegengeworfen hatte, er sich aber rechtzeitig geduckt hatte und die Sitzgelegenheit nun in allen Einzelteilen draußen auf dem Kopfsteinpflaster lag.
Der Kuckuck sprang soeben das sechste Mal aus dem Häuschen – Nelson`s Pub lag um Punkt 18 Uhr in Trümmern. Nur der Christbaum blieb unbeschadet und leuchtete wie bisher in seiner wundervollen Pracht.
Später, als es schon längst dunkel war und alle Rabauken nach Hause gegangen waren, wobei so mancher humpelnd seinen Kumpanen gestützt hatte, kehrte Ike mit geschundenem Gesicht reumütig ins Nelson`s Pub zurück. Sophia fegte grad die Glasscherben zusammen und wischte auf. Nelson hockte einsam am hintersten Tisch, einer der es unbeschadet überstanden hatte. Er hielt sich verzweifelt die Hände vor sein Gesicht und schluchzte.
„Ich bin ruiniert. Daran ist nur dieser Bastard McMurphy schuld.“
Ike steckte ihm 100 englische Pfund zu, als Entschädigung und versuchte ihn aufzumuntern. Nelson blickte ihn mit seinen geröteten Augen verdutzt an, weil er dies für einen Scherz hielt. Als Nelson endlich realisierte, dass Ike ihn vor dem sicheren Ruin gerettet hatte, fasste er vorsichtig an seinen Wangen, dankte ihm und weinte Freudentränen. Ike hielt sich kurz die Faust vor dem Mund und räusperte sich.
„Tu mir aber bitte einen Gefallen, Nelson. Habe Erbarmen und lass Bob weiterhin hier verkehren. Er hat schließlich in ganz Belfast und Umgebung Kneipenverbot. Wo soll er sonst hin?“
Daraufhin wischte Nelson über seine feuchten Wangen und blickte ihn zornig an.
„Niemals! Für McMurphy war das die Last Order. Ich hatte ihn ausdrücklich gewarnt. Sollte sich in meiner Kneipe nur einmal eine Schlägerei ergeben, wobei er seine dreckigen Finger im Spiel hat, kann er sich endgültig zum Teufel scheren!“
Es benötigte noch einige gute Zusprüche und eine weitere 100 Pfund Note, die er in Nelsons Brusttasche knäulte, bis der Schankwart erneut bereit war, beide Augen zuzudrücken um Bob McMurphys Hausverbot aufzuheben.
„Na schön. Aber nur noch dieses einzige Mal! Ansonsten darf sich diese verfluchte Arschgeburt bei mir nie wieder blicken lassen!“, warnte Nelson hasserfüllt.
Diese Großzügigkeit sowie diesen gemütlichen Umtrunk finanzierte Ike, wie so oft, aus dem Ertrag des Gemeinschaftskontos der UE-Regierung, worauf die Schleuser und Agenten ausschließlich nur in Notfällen zugreifen durften. Aber Ike sah eine Notwendigkeit darin, dieses geheime Bankkonto wiedermal zu belasten, zwecks guten Sinns. Zum einen trug er zu dieser zerstörerischen Angelegenheit einiges bei, jedenfalls war er an dieser Misere nicht ganz unschuldig gewesen, und des Weiteren gedachte er um Bobs Freundschaft weiterhin zu buhlen. Nachdem er Nelson freundschaftlich auf die Schulter geklopft und Sophia kess zugezwinkert hatte, dies sie ihm mit einem verführerischen Lächeln gedankt hatte und er endgültig auf dem Heimweg war, fasste er sich vorsichtig an seine aufgeplatzte Lippe und geschwollenem Auge.
„Was wird wohl Liebes dazu sagen?“, sprach er erschöpft vor sich hin, als er sein Pferdegespann im Dunkeln auf den Feldweg nachhause lotste. „Wie soll ich ihr das alles bloß erklären?“