Ist man Kind, ist alles ein Wunder. Die Welt wird intensiv erlebt. Es gibt keine Hemmungen, die eigenen Impulse auszuleben. Es gibt nur jene Hemmungen, die gezielt durch das Umfeld gesetzt werden. Diese Schranken fallen dann aber zu einem großen Teil wieder in der Zeit der Pubertät. Jetzt müssen die Grenzen selbst ausgelotet werden; die Grenzsetzungen aus der Kindheit gezielt hinterfragt werden.
Doch als Kind ist alles noch ein Wunder. Es ist eine Zeit, in der die Farben und die Geräusche intensiv sind; in der die Einstellungen der Bezugspersonen noch nicht hinterfragt werden; in der diese Geltung haben und man sich an ihnen noch bedingungslos orientiert. Zumindest meistens.
Max schaut gerade einer Eidechse zu, wie sie sich auf einem Stein sonnt. Er ist fasziniert von ihr, wie sie mit ihren Beinchen teilweise in der Luft erstarrt dasteht und einfach nichts tut. Die schwarzen Knopfaugen sind offen, scheinen sich aber nicht zu bewegen und auch nichts zu registrieren.
Max vergisst alles um sich herum, während er sich das Tier anschaut. Die Zeit ist weg und auch der Grund, weshalb er überhaupt hier ist. Momentan scheint es nur ihn und das Tier hier vor sich zu geben. Sogar den Lolli, den er von seinem Opa geschenkt bekommen hat, und der noch vor wenigen Augenblicken die ganze Welt für ihn bedeutet hat, hat er jetzt vollständig aus seinem Bewusstsein verbannt.
Plötzlich raschelt es im Gebüsch. Es ist nur ein sehr leises Geräusch. Die Eidechse scheint es nicht vernommen zu haben. Zumindest hat es sie nicht dazu gebracht, sich in irgendeiner Weise zu bewegen.
Wieder ein leises rascheln. Es scheint jetzt von geringerer Entfernung gekommen zu sein, als das erste. Und dann geht es ganz schnell. Eine Schlange schnellt blitzschnell aus dem Gebüsch hervor, und bevor die Eidechse auch nur ein Beinchen hätte bewegen können, wird sie auch schon geschnappt und zappelt jetzt unentrinnbar im Maul des anderen Reptils. Und dann ist die Schlange so schnell wieder verschwunden, wie sie zuvor gekommen war.
Max hat alles wahrgenommen. Doch so recht einordnen kann er es noch nicht. Auch deshalb hatte er wohl keine Angst vor der Schlange gehabt. Solch ein seltsames Tier hat er noch nie zuvor in seinem noch recht kurzen Leben gesehen.
„Faszinierend, was?“ Er hört die tiefe sanfte Stimme seines Opas. „Sowas sieht man nicht alle Tage, oder?“
Max dreht sich in immer noch gehockter Position um und sieht über sich seinen Opa etwas gebückt stehen. Er hatte ihn nicht bemerkt. „Was war das, Opa?“
„Das war eine Schlange. Die hat sich ihr Frühstück geschnappt.“
„Eine Schlange?“
Der Opa nickt bedächtig.
„Sie isst das andere Tier?“
„Oh ja, Mäxchen. So ist es. Die Schlange muss ja schließlich auch was zu sich nehmen, wenn sie hungrig ist. So wie du auch.“ Und er zieht seine Brille etwas herunter und schaut seinen Enkel darüber hinweg an. Dann sagt er zu ihm: „Bist du denn hungrig, mein Kleiner?“
Jetzt erst bemerkt Max, wie sein Magen knurrt. „Und wie, Opa!“ platz es aus ihm heraus.
Der Opa zieht seine Brille wieder zurück auf seine Nase. „Na, dann hast du aber Glück, mein Junge. Deine Oma hat nämlich unser Frühstück schon vorbereitet. Und keine Sorge: Eidechse wird es für uns bestimmt nicht geben. Es wird sicherlich was ganz Leckeres sein. Schließlich weiß ja deine Oma, was du gerne isst.“
„Au ja!“ Und Max erhebt sich und rennt los in Richtung Haus. Jetzt hat er die Eidechse und die Schlange schon wieder vollständig vergessen, und auch den Lolli, den er immer noch in seiner Hand hält. Jetzt denkt er nur noch an das tolle Frühstück, das ihm seine Oma mit Sicherheit schon längstens vorbereitet hat.
Die Eidechse und die Schlange und der Lolli und das ganze Wochenende, das Max bei seinen Großeltern verbringt, wird dennoch irgendwo in ihm ganz tief abgespeichert weiterschlummern. Es wird ihn beeinflussen, seinen Lebensweg, seine Vorlieben, seine Interessen. Vielleicht sogar, womit er sich später irgendwann einmal beruflich beschäftigen wird.
Es sind eben die kleinen Dinge, die uns zu dem werden lassen, was wir sind.