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Die Belfast Mission - Kapitel 20

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 20 – Polizeikontrolle


Nieuw Bruxelles, Jahr 2473

Am nächsten Morgen erwachten Mara und Jean frühzeitig. Der Check-in Termin wurde von der Time Travel Agentur auf 9:30 Uhr festgelegt; die Aktivierung des Zeitfensters in die vergangene Welt würde exakt dreißig Minuten später erfolgen. Sollten sich Mara und Jean allerdings verspäten, würde einem anderen Akademikerpaar die Zeitreise in das Jahr 1912 ermöglicht werden, die sich als Reservetruppe in Bereitschaft hielten und insgeheim hofften, dass die auserwählten Bewerber kurzfristig verhindert sein würden.
Die Bahnhofsterminals aller Citys befanden sich in der Nulletage. Die 345 Citys sind mit unterirdischen Betonschächten vernetzt, darin die ICE-Züge mit einer rasanten Geschwindigkeit bis zu 900 Stundenkilometer hindurchrasen. Die Intercityzüge werden mit Druckluft unterstützt angetrieben, dessen Kompressoren mehrere 100.000 Bar erzeugen und gar ermöglichen, in Ausnahmefällen die Schallgeschwindigkeit zu erreichen. An den Bahnsteigen reihten unzählige panzerverglaste Röhrenschächte nebeneinander. Dort öffneten sich die Einstiegsluken zu den Waggons. Die Panzerverglasungen vibrierten sogar etwas, wenn die Intercityzüge trotz gedrosselter Geschwindigkeit in die Röhrenschächte einliefen.

Als sich der Etagenlift zur untersten Ebene öffnete, blickte Mara besorgt auf die Digitaluhr. Es war 5:30 Uhr.
„Jean, nur noch vier Stunden, dann müssen wir unbedingt in der Time Travel Agentur eingecheckt haben. Falls wir uns nur eine einzige Minute verspäten, wird man das zweite Akademikerpaar zur Titanic beordern.“ Mara war sichtlich nervös und bereute nun, dass sie ihrer Meinung zeitlich etwas knapp kalkuliert hatten. Jean jedoch blieb wie immer ruhig und besonnen.
„Aber Chérie, innerhalb zwanzig Minuten befinden wir uns im Centrums Bahnhofsterminal Amsterdam. Von dort aus besteigen wir nur wenige Lifte und schon sind wir da. Wir haben also noch genügend Zeit“, versuchte er seine Ehefrau zu beruhigen.
Um diese frühe Uhrzeit konnte man auf dem Nieuw Bruxelles Bahnhof normalerweise höchstens einige Urlauber antreffen. Eine stressige Rushhour, so wie es früh morgens gewöhnlich in allen anderen Citys herrschte, war in Nieuw Bruxelles selten zu erwarten. Jedoch aufgrund des gestrigen Fußballspiels um den Europacup, streunten ausgerechnet zurzeit immer noch einige zehntausend Menschen auf dem Bahnhofsterminal herum, die ihren Heimweg anstrebten. Dort traf man überwiegend junge Leute an, die immer noch ihre unermüdliche Feierlaune auslebten. Einigen stand ihre tagelangen Exzesse im Gesicht geschrieben, weshalb es aufgrund der präsenten MP ratsam war, sich friedvoll und vor allem unauffällig zu verhalten. Dass sich um diese frühe Uhrzeit eine regelrechte Menschenmasse im Bahnhofsterminal aufhielt, damit hatten die Corbusiers allerdings nicht gerechnet.
Mara und Jean blickten, während sie zielstrebig ihrem Bahnsteig entgegen liefen, konzentriert auf eine holografische Anzeigetafel, die direkt über der Etagendecke schwebte.
Die Hologramme hatten den Vorteil, dass die Fahrgäste, egal aus welcher Richtung sie auch herkamen, die Abfahrtszeiten sofort im Überblick hatten und nicht erst nach einem installierten Fahrplan suchen mussten.
Die Akademiker marschierten nur mit Handtaschen bepackt durch die Menschenmenge, dabei entging ihnen, dass ein dunkelblaues Auto, dessen flache sportliche Karosse einem Lamborghini aus dem 21. Jahrhundert ähnelte, hinter ihnen vorsichtig inmitten der umherlaufenden Passanten folgte. Auf der wuchtigen Motorhaube, sowie auf beiden Flügeltüren, konnte man unübersehbar die gelben Aufschriften lesen: UEMP.

Das elektronisch angetriebene Polizeiauto fuhr lautlos vorsichtig durch die Menschenmaße, nur wenige Meter hinter Jean und Mara her. Die breiten Rennreifen surrten, die Alufelgen glänzten wie poliertes Chrom und die pechschwarzen Scheiben verhinderten den Einblick in das Wageninnere.
Plötzlich blinkte die auf dem Autodach anmontierte Leuchtleiste abwechselnd rot und blau, zudem heulte die Polizeisirene zweimal kurz auf und der Fahrer betätigte zudem die Lichthupe, woraufhin die Leute sofort zur Seite sprangen. Mara und Jean blickten kurz hinter ihren Schultern, machten ebenfalls Platz und gingen unbekümmert weiter. Nochmals ertönte die Polizeisirene mehrmals hintereinander kurz auf, woraufhin sich die Akademiker erneut umdrehten. Nun leuchtete die Lichthupe dermaßen aufdringlich auf, dass sich beide unweigerlich angesprochen fühlten.
„Meinen die Bullen etwa uns?“, fragte Mara stirnrunzelnd und blieb stehen. Jean zuckte ahnungslos mit seinen Schultern.
„Vielleicht will die MP dich ja verhaften, weil du deine Nase letztens urheberrechtlich geschützt hattest und dies eigentlich gesetzwidrig ist“, lächelte Jean.
„Ha-Ha, wie witzig“, konterte Mara humorlos, weil ihr momentan aufgrund des Zeitdruckes absolut nicht zum Spaßen zumute war.
Das Halogenlicht der Deckenscheinwerfer spiegelte sich auf dem dunkelblauen Lack wider, als der Sportwagen surrend neben ihnen anhielt. Noch immer rotierten die Polizeileuchten und streuten blau-rote Lichtscheine umher. Die Beifahrerflügeltüre öffnete sich zischend aufwärts.
Jean und Mara erstarrten, als sie die darin zwei MP-Beamte erblickten. Ihre gepolsterten schwarzen Schutzuniformen und insbesondere die gesichtslose Sturmmasken, mit den ovalen verdunkelten Augengläsern, schindeten immerhin Respekt ein und erinnerten etwas an das Antlitz eines unheimlichen Insektenwesens. Wüssten sie es nicht besser, wären beide sicher der Annahme gewesen, diese Herrschaften seien gar keine Menschen, sondern fremde Wesen oder gar Maschinen in menschlichen Gestalten.
„Personenkontrolle!“, erklang es wie ein metallischer Funkspruch, wobei nicht herauszuhören war, ob in dieser kugelsicheren Maskerade eine männliche oder weibliche Person steckte.

Die Corbusiers schauten die MP-Beamten erschrocken an.
„Ja aber, aber wieso das denn?“, ärgerte sich Mara, weil sie eine Verspätung befürchtete und diese Maßnahme ihr äußerst ungelegen kam. „Was haben wir denn falsches getan, Monsieur Wachtmeister? Sind wir etwa zu schnell gelaufen und haben uns nun ein Bußgeld eingehandelt?“, fragte sie schnippisch, woraufhin Jean sie dezent anstieß und ihr zuflüsterte, dass sie ihr vorlautes Mundwerk zügeln sollte.
Der Polizist löste die Druckknöpfe am Torso seiner gummiartigen Rüstung, riss die Sturmhaube herunter und schleuderte die wabbelige Maske auf die Rücksitzbank. Nun blickte Mara in die großen blauen Augen einer Frau Mitte dreißig. Sie streifte ihre Handschuhe ab, die sie ebenfalls achtlos hinter sich warf und wuschelte durch ihr kurzes, silbergefärbtes Haar.
„Seid ihr zwei Hübschen taub und blind, oder was?!“, fuhr die Polizistin die Corbusiers verärgert an. „Erwarten die feinen Herrschaften eine schriftliche Aufforderung oder weshalb ignoriert ihr meine Anweisung, augenblicklich stehen zu bleiben?“, fragte sie kaugummikauend. Selbstverständlich sprach sie mit der einheitlichen, europäischen Sprache.
Aufgrund ihres hochgestochenen Akzents war sofort herauszuhören, dass die Polizistin offenbar aus einer der Citys stammte, die im ehemaligen Deutschland errichtet wurde, im sogenannten Allemande-Sektor. Mara und Jean waren jeweils mit einem hellen Stretch Overall und silbernen Gürtel bekleidet, nicht aus Gründen eines Partnerlooks, welcher in United Europe sehr beliebt und schon jahrelang im Trend war, sondern weil diese spezielle Bekleidung sie entweder als Mediziner, Kosmetiker, Politiker oder wie in ihrem Fall, beide als Akademiker erkenntlich machten. Jean ging in die Hocke, weil der Sportwagen sehr flach war, blickte die MP-Beamtin freundlich an und versuchte die Dame von seiner konfrontationsfreudigen Ehefrau abzulenken. Anhand der vier gelben Sterne, die jeweils auf ihren Schultern hafteten, erkannte er ihren Dienstgrad. Er räusperte sich.
„Verzeihen Sie, Lieutenant, aber wir sind es nicht gewohnt, von der MP angehalten zu werden. Darf ich uns vorstellen? Ich bin …“
„Professor Doktor Jean Corbousier, Alter vierunddreißig, wohnhaft hier in Nieuw Bruxelles, zweiundzwanzigste Etage, Apartment MJC 209-211. Ich weiß“, unterbrach sie Jean mit einem Befehlston. Sie deutete eine Kopfbewegung auf Mara. „Und Sie sind Doktor Marlene Jaqueline Corbousier, Alter achtundzwanzig. Hab mal ein bisschen recherchiert. Ihre zwei hübschen Pauker habt euch vor fünf Jahren auf der Nietzsche Universität im Centrum kennen gelernt. Übrigens, ich bin Chief- Lieutenant Nicole Kalbach, Police Department Nieuw Cologne, Staffelführerin einer verrückten MP-Bande. Früher war ich mal beim SEK, aber die ständigen Zeitreisen gingen mir irgendwann tierisch auf´n Keks. Hab extra für euch einen Tag Urlaub beansprucht und bin nur euretwegen hierher gekommen, um euch zu überprüfen.“
Nun ging Mara ebenfalls in die Hocke und schaute die Polizistin verdutzt an.
„Wenn Sie doch längst wissen, wer wir sind, weshalb beabsichtigen Sie dann, uns einer lästigen Personenkontrolle zu unterziehen?“, meldete sich Mara spitz zu Wort. „Verzeihen Sie, aber wir haben wenig Zeit und Sie sollten Ihren Urlaubstag sinnvoller verbringen, Frau Leutnant“, fügte sie mit ihrem ausgeprägten französischen Akzent hinzu, dies sich wiedermal etwas vorlaut anhörte.
Eine Kaugummiblase blähte aus Nicoles Mund und zerplatzte.
„Die Polizeikontrolle deshalb, weil ich sicherstellen muss, dass ihr auch tatsächlich die Corbusiers seid und keine Klone, mein Mäuschen“, erwiderte sie grinsend.

Der Autonarr Jean konnte nicht widerstehen und lugte neugierig in das Cockpit hinein. Den Innenraum eines MP-Fahrzeuges bekamen gewöhnlich nur Ganoven und Schwerverbrecher zu Gesicht. Die schwarze Gestallt neben Lieutenant Nicole Kalbach schien ihn entweder anzustarren, oder auf einen der Minimonitore zu blicken. Ein Lenkrad war nicht vorhanden, gewöhnlich fuhr jedes Elektroauto ausschließlich mithilfe des computergesteuerten Autopiloten. Funksprüche knisterten aus einem Lautsprecher. Aus der Mittelkonsole ragte ein Joystick hervor, um das Fahrzeug manuell zu steuern. Der Fahrer sowie der Beifahrer konnten das Fahrzeug also auch selber steuern. Die Frontscheibe war zurzeit in einem Infrarotmodus geschaltet und ließ den Innenraum violett erleuchten. Unzählige leuchtende Knöpfe strahlten aus den Armaturen sowie aus der Deckenkonsole hervor, und kleine Monitore gaben verschiedene Blickwinkel im Röntgen- sowie Realmodus wieder. Es war zwar nur ein gewöhnliches Auto, aber der Innenraum erinnerte an ein Cockpit einer Space Shuttle aus der vergangenen Welt.
Jean runzelte die Stirn, als er auf einen dieser Monitore blickte und sah, dass ein Zeichentrickfilm flimmerte. Ein kleiner blauer Elefant und eine übergroße Maus spazierten nebeneinander und wenn die Maus mit ihren Augen zwinkerte, erklangen klackernde Geräusche.
„Siehe mal einer an. Dieser knallharte Bursche schaut sich doch tatsächlich die Sendung mit der Maus an, eine Kindersendung aus dem Zwanzigsten Jahrhundert“, dachte er schmunzelnd. Jean blickte die Polizistin an und fasste behutsam nach ihre Hand. Sie fühlte sich ungewöhnlich kalt an.
„Wir sind wirklich in Eile, Chief-Lieutenant Kalbach. Uns steht eine gebuchte Zeitreise bevor.“ – Er lächelte verlegen – „Eine äußerst kostspielige obendrein. Wir müssen pünktlich in der TTA erscheinen, ansonsten wird man eine Reservetruppe auf diese begehrte Expedition beordern. Sodann wären wir Ihnen äußerst dankbar dafür, wenn Sie uns wieder rasch entlassen würden“, sprach Jean freundlich auf sie ein.
Nicole aber lächelte nur wie ein Spitzbube und blies weiterhin frech ihre Kaugummiblasen. Sie strich sich durch ihr kurzes, silbern gefärbtes Haar und holte dann aus dem Handschuhfach einen Gegenstand hervor, welcher einem Füllfederhalter ähnelte. Ein Augenscanner, um die Identität zu überprüfen.
„Ey Leute, ich weiß über euch Bescheid. Ihr beabsichtigt mit diesem komischen Kahn zu reisen, der vor einigen Jahrhunderten abgesoffen ist und von dem zurzeit jeder redet. Aber keine Panik auf der Titanic, ihr werdet euren Trip nicht verpassen. Egal wie lange ich euch auch aufhalte, das garantiere ich euch.“
Nicole Kalbach machte sich nicht einmal die Mühe, aus dem Auto zu steigen, sondern blieb einfach lässig und kaugummiknatschend im ledernen Schalensitz hocken, als sie plötzlich Maras zartes Gesicht packte und sie vorsichtig nahe an sich heranzog.

Die Überprüfung ihres ID-Chips, diesen jeden UE-Staatsbürger sofort nach der Geburt hinter die Augennetzhaut gepflanzt wurden, benötigte nur einen Knopfdruck des Augenscanners. Sogleich wurden ihre Personalien, wie auch jegliche Aktivitäten, und sei es nur ein unbedeutender Einkauf in einer Einkaufsmall, die Mara bis dato getätigt hatte, auf die Windschutzscheibe projiziert.
Nicole verfolgte ein Wirrwarr von Zahlencodes und fremdartigen mathematischen Zeichen, die über den integrierten Monitor in der Frontscheibe des Autos flimmerten. Lieutenant Kalbach kratzte sich mit dem Finger ihre Stupsnase.
„Soso Marlene und ich dachte, Ihre Nase hätten Sie sicherlich von einem Kosmetiker modellieren lassen. Aber sie ist in der Tat echt. Sie haben sie sogar urheberrechtlich geschützt, wie ich sehe. Was für ein Jammer. So ein hübsches Näschen würde mir bestimmt auch gut stehen“, lächelte die Gesetzhüterin verschmitzt, woraufhin Mara grinste und auffällig mit ihren Augenlidern zwinkerte.
„Tja, meine Nase sowie alle meine Körperteile gehören eben nur mir alleine, Mademoiselle Lieutenant Kalbach“, konterte Mara ebenso lächelnd.
„Okay Leute, Spaß beiseite. Ihr hört mir jetzt beide aufmerksam zu!“
Nicoles spitzbubenartiges Lächeln entschwand. Sie hielt weiterhin Maras zartes Kinn mit zwei Fingern fest im Griff und ihre außergewöhnlich großen Augen verfinsterten sich.
Erst jetzt beim genauen Hingucken bemerkte Mara, dass ihre wundervollen blauen Augen irgendwie künstlich wirkten. Sie waren mindestens doppelt so groß wie menschliche Augen und leuchteten auffällig; dies hatten beide bemerkt, als Nicole Kalbach im violett leuchtenden Innenraum nach dem Augenscanner gesucht hatte, denn da waren kurz zwei Lichtstrahle aus ihren Augen aufgeleuchtet, so, als würde man zwei kleine Taschenlampen einschalten. Offensichtlich hatte dieser Lieutenant einige Augenoperationen über sich ergehen lassen und zudem entdeckte sie eine verwachsene Narbe auf ihrer linken Wange. Eine normale Frau hätte sich solch eine hässliche Narbe im Gesicht doch wegoperieren lassen, dachte sie sich. Zumal die Polizistin doch ein recht hübsches Gesicht hatte.
„Du hörst mir jetzt aufmerksam zu, Marlene Jaqueline Corbusier. Ich habe dir soeben einen geheimen Zahlencode auf deinen ID-Chip gespeichert!“, flüsterte sie bestimmend. Nicole stockte kurz, als einige Fußballfans stillschweigend an dem Polizeiauto vorbei liefen. Niemand durfte mithören, was sie zu sagen hatte.
„Ein sehr guter Freund von mir wird diesen Zahlencode in absehbarer Zeit benötigen, wenn ihr euch auf die Titanic begebt. Sei unbesorgt, diesen Geheimcode hat ein unschlagbarer Hacker vom Secret Service programmiert und kein Computer der TTA wird es entschlüsseln können. Nicht einmal der Zoll! Dieser Zahlencode wird allen UE-Computern vorgaukeln, du hättest zwei Calzone alla Roma in Vincenzo`s Bar bestellt. Die Zollbeamten werden euch also bedenkenlos passieren lassen.“

Die MP-Beamtin mit dem silbernen Haar war Mara und Jean mittlerweile nicht mehr geheuer. Nun hatte sie angeblich einen Zahlencode auf Maras ID-Chip gespeichert, was eigentlich unmöglich und zudem eine Straftat war. Der ID-Chip diente als ihr Identitätsausweis und jeglicher Manipulationsversuch wurde strafrechtlich verfolgt. Aber diese Mikrosoftware war eigentlich gegen jegliche Hackerattacke gewappnet, und trotzdem war es Lieutenant Kalbach gelungen, etwas auf Maras ID-Chip zu speichern?
„Hey, Marlene, hör mir genau zu!“, fuhr Lieutenant Nicole Kalbach flüsternd fort. „Ich komme aus dem Jahr 2483, bin euch also zehn Jahren voraus. Ich komme demnach aus der Zukunft!“ Sie atmete einmal kurz durch. „Erst jetzt hatte sich leider die Gelegenheit für mich ergeben, meinem Freund zu helfen. Erst jetzt, wegen diesen verfluchten Zeitparadoxon. Zeitparadoxon muss ich euch beiden ja nicht großartig erklären. Du weißt schließlich, wovon ich rede. Ihr zwei Hübschen seid mittlerweile in einer Mission verwickelt, obwohl ihr davon noch gar nichts ahnt“, behauptete Nicole. „Das Zeitkontinuum, das Leben meines Freundes sowie seiner Frau und sogar euer sowie auch mein eigenes Leben hängt von diesem verdammten Zahlencode ab. Auf der Titanic müsst ihr unbedingt nach ihm Ausschau halten. Kontaktiere ihn. Hast du das geschnappt?!“, fuhr Nicole Mara streng an. Mara starrte ihr verwirrt in die leuchtend blauen Augen. Die Art und Weise, wie die mysteriöse Polizistin ihr Kinn lediglich mit zwei Fingern festhielt, schmerzte ihr allmählich, woraufhin Nicole zögernd losließ.

„J-ja, wir haben das soweit begriffen, Lieutenant. Und wie heißt Ihr Freund und wie sieht er überhaupt aus? Wie sollen wir denn jemanden auf dem riesengroßen Schiff Titanic aufsuchen, wenn wir nicht einmal wissen, wie er ausschaut oder wie er heißt?“
Ein kurzes Lächeln huschte über ihren Mund, während sie gemächlicher ihr Kaugummi kaute.
„Mein Freund hatte mir davon abgeraten, euch ein Foto von ihm zu zeigen. Es besteht die akute Gefahr, dass ihr ihm bereits im South Western Hotel begegnet und ihn daraufhin zu früh kontaktieren werdet. Dann wäre die Aktion gründlich vermasselt. Wenn der Zeitpunkt noch nicht gekommen ist, wird er mit diesem Zahlencode nämlich nichts anfangen können und euch möglicherweise für verrückt halten. Ihr wisst schon, ein Zeitparadoxon würde sich anbahnen und das wäre gar nicht gut. Habt Geduld und geht einfach nur planmäßig eurer Arbeit nach. Genießt einfach die Kreuzfahrt und lasst alles auf euch zukommen. Du wirst ihn zwei Tage vor dem Untergang der Titanic im Rauchersalon der Ersten Klasse sowieso ansprechen, ohne dass ich dir ein Foto von ihm zeige. Du wirst wissen, dass er es ist. Genauso hatte er es mir berichtet. Nur so viel darf ich dir sagen, dass er ein Centrum-Heini ist, man kann ihm aber trauen. Trotzdem ist er ein eingebildeter Fatzke. Wie sie halt so sind, die im Centrum. Aber er ist einer der sympathischen Sorte, wenn du verstehst, was ich meine. Du musst bedingungslos tun was er dir sagt, sonst geraten wir alle in große Schwierigkeiten. Das Raum-Zeit Kontinuum würde gefährdet werden!“, fügte sie mahnend zum Schluss bei.
Mara blickte kurz verstohlen auf die Fahrerseite. Der maskierte MP-Beamte verfolgte weiterhin konzentriert die Sendung mit der Maus.
„Ist Ihr Freund etwa ein Geheimagent? Hat diese Angelegenheit vielleicht etwas mit meinem Vater zu tun?“, fragte Mara besorgt. „Der will mich doch bestimmt wieder nur für seine Zwecke einspannen, dieser Schurke. Wie immer!“
Nicole aber zuckte nur die Schultern.
„Ehrlich Baby, keine Ahnung, wer dein Papa ist. Interessiert jetzt auch gar nicht“, antwortete sie mit ihrem ausgeprägten deutschen Akzent. „Sorge einfach nur dafür, dass mein Freund diesen Zahlencode erhält. Geschnappt?“
„War’s das, Lieutenant?“, hakte Jean ungeduldig nach. Nicole nickte. „Ja Mann. Das war’s. Ihr dürft gehen. Los, ab mit euch“, sagte sie kaugummikauend.
„Sagen Sie mir wenigstens seinen Namen!“, rief Mara, als Jean sie von dem Polizeiauto kurzerhand wegzerrte. „Wie heißt Ihr Freund denn überhaupt? Dürfen wir das wenigstens wissen?“
Nicole schüttelte mit dem Kopf.
„Nein Mäuschen, du mit der hübschen Nase. Niemand darf etwas über seine Zukunft erfahren!“, rief Lieutenant Kalbach, während sie einen Schalter betätigte und die Autotür daraufhin zischend herunterglitt und sich verriegelte.

Nicole verschränkte ihre Arme, ließ erneut eine Kaugummiblase aufblähen und zerplatzen und beobachtete durch die infrarotgeschaltete Windschutzscheibe, wie das Akademikerpaar in der Menschenmenge verschwand.
„Und was nun, Chief-Lieutenant? Soll ich diesen Herrschaften diskret folgen?“, klang es metallisch sprechend aus ihrem Kollege, der immer noch seine Sturmmaske anhatte.
Nicole erwiderte lediglich seufzend. Die Coolness entwich ihr kurzweilig. Andächtig hielt sie die Faust gegen ihren Mund, während sie im Schalensitz lümmelte und kaute.
„Ich hoffe sehr, dass Ike dieser Zahlencode helfen wird. Es ist nun schon über zehn Jahre her, seitdem ich ihn das letzte Mal im Jahre 1911 getroffen habe. Ich gab ihm mein Versprechen, ihn aus der Patsche zu helfen, weil auch er sein Wort gehalten und mir das Leben gerettet hatte. Er wirkte traurig, zornig und verbohrt und hegte einen unbändigen Hass gegen Agent Henry und der gesamten UE-Regierung. Was mag wohl aus ihm geworden sein? Wird dieser Zahlencode ihm und seiner geliebten Eloise tatsächlich von Nutzen sein? Ob es ihm gelungen war, seine Frau zu retten?“
Plötzlich schaltete Nicole kurzerhand die Sirene ein, wobei die roten und blauen Rundumleuchten aufblinkten. Sofort öffnete sich wieder die Flügeltüre zischend nach oben. Sie forderte einen aufgeschreckten Jugendlichen dreist auf, der gerade unbekümmert am Polizeiwagen vorbeigeschlendert war, ihr eine Brause aus dem Getränkeautomaten zu spendieren und die Drogen, die er bei sich führte, sollte er ihr unverzüglich aushändigen, woraufhin dieser sofort gehorchte. Nachdem der Jugendliche ihr das Energy-Getränk und die Drogen überreicht hatte, tippte Nicole mit ihren spitzen Fingernagel abwechselnd auf ihre großen Augen, wobei es klang, als würde sie mit einem Nagel auf Panzerglas tippen.
„Tja, ich sehe alles, mein Liebling. Und jetzt verschwinde schleunigst, bevor ich mir es anders überlege und dich einbuchte! Schnappst du das?!“ Der Jugendlich nickte hektisch und rannte so schnell er konnte davon.
Nun legte auch ihr Kollege seine Sturmhaube ab, faltete sie und legte die Maske ordentlich auf die Armaturen. Ein jugendliches Mädchengesicht mit roten Bäckchen, die ihr Haar zu einem schlichten Zopf gebunden hatte, schaute erwartungsvoll auf ihren Vorgesetzten. Diese junge Frau war nicht älter als achtzehn Jahre alt.
„Darf ich Ihnen einen Kaffeedrink aus einer Bar spendieren, Chief-Lieutenant Kalbach?“, fragte sie ehrfürchtig.
„Danke nein, Korporal Charlotte Steigerwald. Nicht nötig, Schätzchen. Spar dir deine Kröten. Dieser Trottel hat mir bereits eine Zitronenbrause besorgt. Leider aber keine Powerbrause. Dem werde ich abhelfen“, sprach sie monoton, zermalmte die kristallähnliche Substanz, diese ihr der Jugendliche anstandslos ausgehändigt hatte in ihrer Hand, und streute das Pulver ins Getränk. Dann wühlte sie im Handschuhfach herum und griff nach einer Tube, worauf das blaue Emblem der TTA gestanzt war. Nicole biss die Tubenkappe ab und spukte diese einfach einer Gruppe Fußballfans entgegen, die daraufhin sofort einen großen Bogen um das MP-Fahrzeug machten.
Die Flügeltüre sank langsam zischend herunter und verriegelte sich automatisch. Nicole glättete ihr silbernes Haar streng zurück, vertilgte die gelbliche schmierige Paste aus der Tube und spülte diese mit dem gemixten Energydrink herunter. Daraufhin verzog sie kurz ihr Gesicht, streckte angewidert ihre Zunge heraus, schüttelte sich kurz aber grinste die rotbäckige Unteroffizierin sogleich wieder verschmitzt an. Das Fräulein erwiderte mit einem entsetzten Blick.
„L-lieutenant Kalbach … Konsumieren Sie etwa Drogen?“, stotterte die blutjunge Frau aufgewühlt. „Das-das war doch Crystal Meth, was Sie in Ihre Brause gestreut haben und dieses Zeugs, was Sie soeben geschluckt haben …“
„Ach, du putziges Charlotte Mäuschen, du musst noch viel lernen. Das war doch nur harmloses Schmierfett, was ich für meine Arm- Bein und Handgelenke benötige. Wisse, ich bin zu fünfundachtzig Prozent ein Cyborg und hin und wieder brauche ich Schmierung, damit ich mich genauso wohl fühle, wie du“, lächelte Nicole sie freundlich an.
„Tatsächlich? Sie sind ein echter Cyborg? Das-das wusste ich gar nicht. Ich bin noch nie einem Cyborg begegnet. Ultramegacool“, raunte sie erstaunt. „Aber ist das denn nicht illegal, gleich wenn Sie ein Cyborg und Polizistin sind, Drogen zu konsumieren?“
Nicole winkte ab und meinte, dass ihr weder die Wirkung irgendwelchen Drogen noch tödliches Gift etwas anhaben könnte.
„Sei unbesorgt, bei mir sind alle Bauteile ordnungsgemäß legal in meinem ID-Chip eingetragen. Als Regierungsbeamtin habe ich sogar Anspruch auf reines Schmierfett aus der vergangenen Welt, was ich grad vertilgt habe. Es wirkt nämlich effektiver als dieses synthetisch-chemisch hergestellte Schmierfett aus dem Labor, dafür schmeckt es aber heftig bitter. Und das Crystal Meth enthält Methylamphetamin und dies fördert die ohnehin ausgezeichnete Sehkraft meiner Eagle Eyes. Ich habe die verdammten Drogen sozusagen nur sinnvoll entsorgt.“
Nicole betätigte einige Schalter. Vor ihnen öffnete sich eine gewaltige Stahlschleuse. Ein beleuchteter Tunnel tat sich vor ihnen auf.
„Lass uns wieder geschwind zurück nach City Köln fahren. Wir nehmen den Deutschland-Tunnel“, sprach sie mit der deutschen Sprache.
„Darf ich diesmal steuern?“, fragte Korporal Charlotte Steigerwald aufgeregt. „Bitte-bitte, Chief-Lieutenant. Oh bitte!“
„Vergiss es, Charlotte Darling. Das Baby, in dem wir sitzen, hat 1850 PS und die werde ich jetzt persönlich auskosten. Ich beabsichtige nämlich meinen Rekord, Nieuw Cologne in achtzehn Minuten zu erreichen, heute noch zu toppen. Also, anschnallen! Und schalte die Notkompressoren zusätzlich ein. Energie auf maximale Leistung und aktiviere vor allem das zweite Differintialgetriebe, damit die Reifen nicht arg so durchdrehen und es bei unserem Abgang nicht gar so nach Gummi stinkt“, lächelte Nicole verschmitzt. Korporal Charlotte Steigerwald kicherte und betätigte einige Schalter.
Nur ein kurzes Quietschen der breiten Rennreifen ertönte, dann schoss der elektronische Sportwagen wie eine Rakete davon, wobei herumliegender Müll und Zeitungsblätter in der Luft herumgewirbelt wurden.

Es erklang ein elektronischer Gongschlag. Eine sanfte Frauenstimme kündigte in europäischer Sprache die Intercityverbindung zur UE- Hauptcity Centrum an. Sogleich ertönte ein Warnsignal und gelbe Rundumleuchten rotierten am Bahnsteig. Jean und Mara traten hinter die markierte Sicherheitszone. Ein Donnerschlag ließ den gepanzerten Glasschacht erzittern, zugleich zischte überschüssige Druckluft aus allen oberen Vorrichtungen des ICE heraus. Nach der Geschwindigkeit zu beurteilen, wie dieser Zug an ihnen vorbeirauschte und dieser beinahe nach einer geschlagenen halben Minute immer noch nicht zum Stillstand kam, hätte man davon ausgehen müssen, er verpasse wohlmöglich die Haltestelle. Als der über zweihundert meterlange Personenzug endlich zischend anhielt, öffneten sich zahlreiche Luken.
Jean und Mara bestiegen den hell beleuchteten Waggon. Die komfortable, geräumige Innenausstattung glich einem Passagierflugzeug aus dem 21.Jahrhundert. Leise surrten die Klimaanlagen. Das Akademikerpaar schaute sich nach einer leeren Sitzreihe um, aber um diese Uhrzeit waren meist die hinteren Abteile komplett besetzt. Es herrschte schließlich Rushhour und sehr viele Bewohner aus allen anderen Citys gingen ihrer Pflicht in der Industriestadt Centrum nach.
Elegant gekleidete Büroangestellte saßen mit ihrem aufgeklappten Aktenkoffern auf dem Schoß – Ein integrierter Laptop –in ihren Sitzen und vertieften sich bereits in ihre Arbeit. Andere dagegen lehnten sich nur entspannt zurück oder schauten auf den Monitor in der gegenüberliegenden Kopfstütze und ließen sich von Flash-News berieseln. Lediglich eine fröhliche Gruppe junger Damen und Herren, auf dessen Köpfen ein blaues Schiffchen akkurat lag, unterhielt sich angeregt miteinander. Anhand ihrer eleganten blauen Uniformen waren sie eindeutig als Mitarbeiter der Time Travel Agentur zu erkennen. Eine Stewardess wies Mara und Jean freundlich daraufhin, das Laufband zu benutzen, um in die vorderen Abteile zu gelangen.

Für ihre angehende Zeitreise war es nicht notwendig, lästiges Gepäck mitzunehmen. Es war sogar strikt untersagt, persönliche Gegenstände in die vergangene Welt mitzuführen. Alles Notwendige und seien es Medikamente, die täglich konsumiert werden mussten, wurde von der TTA organisatorisch zur Verfügung gestellt.
Mara und Jean atmeten erleichtert auf, als sie sich endlich in eine freie Sitzreihe entspannen konnten.
„Jean, diese ungehobelte Person muss mir tatsächlich etwas auf meinem ID-Chip gespeichert haben. Mein Auge juckt fürchterlich“, jammerte sie. „Man wird uns verhaften, wenn der Computer des Zolls feststellt, dass meine ID gehackt wurde. Dann ist unsere Traumreise beendet und wir verweilen erst mal im Kittchen.“
„Beruhige dich, Chérie. Wir werden diese fragwürdige Polizeikontrolle bei der TTA sofort melden. Wir haben ausreichende Informationen. Sie heißt Nicole Kalbach, sie ist ein Chief-Lieutenant vom Police Department Nieuw Cologne und sie war früher für das SEK tätig und …“
„Bist du wahnsinnig?“, richtete Mara sich aufgeschreckt hoch. „Keinesfalls werden wir nur eine Silbe davon erwähnen, ansonsten werden sie unweigerlich die Reservetruppe auf die Titanic beordern. Jean, die TTA- Angestellten werden den Geheimdienst benachrichtigen, uns zu verhören. Mein Vater arbeitet beim Geheimdienst, ich weiß Bescheid darüber. Dies wird trotz unseren Anwälten langwierige Stunden andauern. Die MP-Polizistin hatte behauptet, die Computer werden diesen Zahlencode nicht entschlüsseln können. Wir haben keine Wahl, lassen wir es also darauf ankommen“, flüsterte Mara dringlich auf ihn ein. „Ich will mit der Titanic reisen. Koste es, was es wolle!“
„Chérie, ich befürchte aber, an dieser Angelegenheit ist etwas faul.“
„Ist mir völlig egal!“, antwortete Mara trotzig und verschränkte ihre Arme. „Was soll daran ungewöhnlich sein? Du hast sie gehört. Wir sind unglücklicherweise in einer geheimen Mission verwickelt und deshalb ist es nachvollziehbar, dass nicht einmal die TTA von diesem Zahlencode erfahren darf.“ Jean nickte nachdenklich während er aus dem Fenster schaute.
„Das ist richtig. Nur würde uns üblich ein Agent solch einen Top Secret Code übermitteln, aber doch kein gewöhnlicher Lieutenant von der MP. Chérie, ich befürchte, diese angebliche Mission ist nebensächlich, hierbei handelt es sich vielmehr um eine private Angelegenheit und wir sitzen bereits mittendrin im Schlamassel. Außerdem vermute ich, dass sich Lieutenant Kalbach reichlich an der Cyborg-Technik bedient hat. Falls ihre Augen Eagle Eyes sind, ist sie bereits zu fünfzig Prozent als ein Cyborg einzustufen. Damit kann sie sogar durch Betonwände blicken, selbst unbeschwert gegen die Sonne schauen und noch vieles mehr. Diese Leute sind gefährlich, man sollte ihnen keinesfalls trauen. Mit jedem weiteren implantierten Bauteil entschwindet deren Menschlichkeit, bis sie letztendlich nur noch rein biologische Maschinen sind, genauso wie die Mounts. Cyborgs verspüren keinerlei Angst, weshalb sie überheblich sind. Außerdem haben die Cyborgs übermenschliche Kräfte. Diese Burschen kann man nur mit speziellen Waffen unschädlich machen, habe ich mal gelesen.“
Mara griff nach ihrem Kinn.
„Vielleicht magst du Recht haben. Als sie mich anpackte, nur mit zwei Fingern, hatte es sich wie in den Fängen einer Schraubzwinge angefühlt. Sie hätte meinen Kiefer mühelos wie eine Walnuss zerbrechen können. Diese Frau ist wahrlich stark.“
Jean atmete schwermütig auf.
„Wie dem auch sei. Es ist nun zu spät, auszusteigen. Uns ist keine Möglichkeit gegeben, diesen Zahlencode aus deinem Auge irgendwie wieder zu deinstallieren. Wir können nur hoffen, dass die Verantwortlichen ihren Plan klug ausgetüftelt haben, ansonsten werden wir spätestens an der Zollkontrolle verhaftet werden.“

Der ICE raste durch den dunklen, unterirdischen Betonschacht unentwegt der Metropole Centrum entgegen. Die Vorfreude und Euphorie auf dieses einzigartige Erlebnis, eine Zeitreise auf der legendären R.M.S. Titanic zu erleben, war nun von quälenden Bedenken überschattet.
Ein weiterer Bremsschub ließ den Intercityzug spürbar vibrieren. Mara und Jean saßen weiterhin angeschnallt in ihren Ledersesseln und schauten angespannt aus den ovalen Fensterluken. Beide waren sich einig, nicht weiter über diese brisante Angelegenheit nachzudenken und beabsichtigten, zukünftige Ereignisse einfach geschehen zu lassen. Jeden Augenblick würde der ICE aus dem Finsteren nach oben in einen panzerverglasten Schacht auftauchen, der sich einige Kilometer hin zum Bahnhofsterminal des Centrums auf der Erdoberfläche hinauszog. Dann ergab sich die einmalige Gelegenheit, die verwüstete, radioaktiv verseuchte Landschaft unmittelbar mit eigenen Augen zu erblicken …Ein Blick auf die zerstörte Welt.
Ein gespenstisches Panorama eröffnete sich ihnen, als der Zug aus der tiefen Dunkelheit an die Oberfläche auftauchte und durch die panzerverglaste Röhre raste. Die Sonne leuchtete schwach am Horizont und gab nur ein gelbliches Zwielicht wider. Gerade wütete ein gigantischer Zwillingstornado östlich über die steinige Landschaft und hinterließ dabei einen kilometerlangen Sandschweif, der wie ein dichter Nebel in der Luft lag und gegen den schützenden Fahrschacht preschte. Ein Trümmerhaufen von farblosen Gesteinsbrocken und Beton präsentierten sich allen Passagieren.
Zerberste Stahlträger ragten aus dem Boden und über eine vertrocknete Wasserstraße waren die Überbleibsel einer verrosteten, eingestürzten Brückenkonstruktion zu erblicken. Nach irgendwelchen Utensilien Ausschau zu halten, persönlichen Habseligkeiten der Menschen, die dort einst vor Jahrhunderten gelebt hatten, wie beispielsweise einige Autowracks, die zwischen aufgehäuftem Gestein stecken könnten, war zwecklos. Das katastrophale Klima sowie die Folgen der vernichtenden Asteroideneinschläge hatten über die Jahrhunderte diese einst belebten Großstädte in eine trostlose Steinwüste verwandelt. Einzig ein paar eingestürzte Hochhäuserruinen, eine meterhohe, kopflose Statue und ein schräg liegendes Wrack eines Passagierschiffes hatten der Zeit getrotzt und erinnerten an einer längst untergegangenen Zivilisation. Der Anblick dieser vergangenen Welt erschauderte jeden, aber faszinierte Mara und Jean zugleich. Die Überreste dieser Stadtruinen glichen einem verlassenen Friedhof. Wortlos betrachteten beide die unzählig vorbeiziehenden Gesteinshaufen.
„Sag mir Jean, welche Stadt war das einmal? Rotterdam oder Den Haag? Amsterdam ist ja nun der Bahnhof des Centrums.“
Jean zuckte nur ahnungslos mit seinen Schultern, während er hinausstarrte.
„Weiß nicht genau. Ist absolut nicht zu erkennen. Tornadostürme haben beide Stadtruinen einfach zusammengefegt und wieder auseinandergestreut.“
„Meinst du, dass es auf anderen Kontinenten genauso aussieht?“
„Ich vermute, sogar schlimmer.“
„Wie traurig“, antwortete Mara betrübt. „Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir weiterhin unser Lebensziel verfolgen müssen, irgendwann in die vergangene Welt auszuwandern, damit wir endlich in freier Natur leben können.“

Plötzlich verdunkelte ein mächtiger Schatten den Intercityzug. Etwas Gigantisches verdeckte das Sonnenlicht. Der Personenzug bremste erneut ab und drosselte die Geschwindigkeit unter 200 Stundenkilometer. Maras Augen weiteten sich. Sie stieß Jean leicht in die Bauchseite und deutete mit ihrem Finger wortlos gegen die Fensterluke.
Eine monströse gerundete Titanfassade stieg vor ihren Augen langsam empor, darauf die Sonnenkugel rötlich reflektierte. Wie ein silberner Regenbogen erstreckte sich die Kuppelstadt Centrum endlos in den Himmel hinauf. Mara und Jean neigten ihre Köpfe, in der Hoffnung einen Blick bis hinauf auf das Kuppeldach zu erhaschen. Aber vergebens. Die gebogene, kolossalische Außenhülle des Centrums ragte immer weiter und weiter in die Höhe. Über 900 Meter hoch ragte die Kuppel des Centrums in den Himmel hinauf.
Ein Gong ertönte zweimal in Folge: „Hier spricht der Kapitän des ICE 401. Geehrte Damen und Herren, ich darf Sie herzlichst im Bahnhofsterminal Amsterdam begrüßen. Bitte benutzen Sie ausschließlich den Steuerbordausgang, also die rechte Seite, damit Sie die einsteigenden Passagiere auf der Backbordseite nicht behindern. Im Namen meiner Crew wünsche ich Ihnen im Centrum einen angenehmen Aufenthalt. Tot Ziens.“ (Auf Wiedersehen)
Die Bordluken öffneten sich zischend nach oben. Eine holographische Nationalflagge der einstigen Niederlande schwebte hoch oben über dem gigantischen, unübersichtlichen Bahnhofsterminal. Hunderttausende Menschen tummelten sich dort. Ein Wirrwarr von Gemurmel und Lautsprecheransagen waren zu hören. Der pure Stress lag förmlich in der Luft und sogleich wurden Mara und Jean von etlichen Obdachlosen, Junkies und Mutanten umzingelt, die beide lästig um Kleingeld anbettelten, als sie kaum den Bahnsteig betraten. Willkommen im Centrum.
 
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