
Kapitel 30 – Leviathan
Justin hatte sich prächtig entwickelt. Der einst introvertierte Junge war in diesem anfänglichen Zwanzigsten Jahrhundert geradezu aufgeblüht und wollte seine neue Heimat nicht mehr missen. Ihm fehlten weder seine Computerspiele, noch sonst irgendeine bequemliche Technik. Nicht einmal einen Fernseher würde er vermissen, bezeugte er, als Ike ihn neulich für ein letztes Gespräch beiseite genommen hatte. In seinem Bericht vermerkte er, dass der junge Owen für die endgültige Emigration in das frühe Zwanzigste Jahrhundert absolut tauglich sei.
Seine schulischen Leistungen waren hervorragend, dies überraschte sogar seine Mutter, die in United Europe eine Schullehrerin war. Früher hatte sie ihn zum Lernen regelrecht zwingen müssen, nun aber packte er sogar an den Wochenenden freiwillig seinen Tornister aus, um den Lehrstoff der vergangenen Woche nochmal durchzugehen. Und obwohl er des Öfteren erzählte, wenn alle beisammen am Abendtisch saßen und nachdem Eloise das Tischgebet gesprochen hatte, dass seine Lehrerin, Mrs. Goldfield, ihm wiedermal eine Strafarbeit erteilt hatte, sprach er dennoch äußerst lobend von ihr.
Die Schuldirektorin Mrs. Goldfield war noch eine Lehrerin vom alten Schrot und Korn, die ihren Schulunterricht mit eiserner Strenge abhielt. Früher hatte Mrs. Goldfield persönlich nach dem Rohrstock gegriffen und den ungezogenen Schülern mitten im Klassenzimmer deren Hintern versohlt, aber nun hatte die sechsundsiebzigjährige Lady solche Maßnahmen längst nicht mehr nötig. Ihre autoritäre Persönlichkeit flößte den Kindern genügend Respekt ein, sodass selbst die Rabauken unter ihnen ihr bedingungslos gehorchten. Sogar ihren angestellten Lehrern überkam stets ein mulmiges Gefühl, wenn sie jemanden in ihr Büro zitierte.
In ihrer kleinen Dorfschule wurden Kinder verschiedenen Alters in einem einzigen Klassenraum unterrichtet, was für die Lehrer bedeutete, dass sie einen Unterricht für mehrere Schulklassen gleichzeitig abhalten und sich dementsprechend vorbereiten mussten. Ferner bevorzugte Mrs. Goldfield bei den Bewerbungsgesprächen stets eine Frau als Lehrkraft, wogegen sie das Hausmeisteramt generell einem Mann zusagte, der überdies dafür zuständig war, täglich mit dem Glockenstrang den Schulbeginn sowie die Pausen einzuläuten. Dann tollten die Kinder auf dem staubigen Pausenhof herum. Die Knaben kickten Fußball und die Mädchen spielten Gummitwist oder spielten Fangen miteinander.
Für Justin waren die schulischen Anforderungen in der Dorfschule eine regelrechte Erholung. Der überholte Lehrstoff bereitete ihm nicht den geringsten Schulstress, so wie er es im 25. Jahrhundert gewohnt war, zudem hatte Mrs. Goldfield den jungen Owen insgeheim längst zu ihren Musterschüler gekürt.
Jeden Morgen standen die Kinder stramm, wenn die betagte Schuldirektorin das Klassenzimmer betrat und mit erhobenem Haupt zum Lehrerpult stolzierte. Es waren meistens dieselben Schüler die bibberten, wenn sie die Tafel erblickten, auf der bereits unzählige Textaufgaben aus allen Lehrbereichen geschrieben standen.
Zuerst sprach Mrs. Goldfield ein Gebet und las stets ein Kapitel aus der Bibel vor, dann zeigte sie wahllos auf einen Schüler und nur wer eine Aufgabe richtig beantwortete, durfte sich setzen. Hatte einer ihrer ABC-Schützlinge falsch geantwortet oder musste gar passen, forderte sie Justin auf die Schulaufgabe zu lösen. Er löste sogar die Aufgaben, welche die höheren Schulklassen betrafen, weil er stets seine Ohren spitzte und zuhörte, wenn die Lehrer die älteren Schüler unterrichteten.
Aber Justin, der Musterschüler, genoss deswegen noch lange keine Narrenfreiheit, denn in der Schule herrschte Zucht und Ordnung. Wer sich nicht benahm oder gar den Unterricht störte, wurde konsequent bestraft.
Aufgrund der schulischen Unterforderung führte sich Justin oftmals wie ein Klassenclown auf und brachte seine Schulkameraden zum Lachen, indem er einfach die Rede des Lehrers unterbrach und vorwitzig berühmte Schriftsteller oder Wissenschaftler zitierte. Dann wandte Mrs. Goldfield den Schülern ihren Rücken zu und schmunzelte, aber rief sogleich mit strenger Stimme seinen Namen auf, woraufhin Justin sofort stramm stehen musste.
Sie betrachtete Justin als einen Störenfried mit Niveau, deshalb blieb er von ihrem Rohrstock stets verschont. Ihn bestrafte sie angemessener, indem er eine seitenlange Strafarbeit über die Person schreiben musste, aus dessen Feder das Zitat stammte. Aber wie sollte er eine Biografie über einen Dichter, einen Physiker, Schriftsteller oder eines bekannten Astronomen schreiben, wenn ihm lediglich dessen Zitate bekannt waren? Mithilfe des Internets gewiss nicht.
Die Bücherei in Belfast wäre eine Möglichkeit gewesen, aber Mrs. Goldfield lächelte und sagte: „Ich erlaube dir, Justin Owen, nach dem Unterricht mich nach Hause zu begleiten. Meine private Bibliothek archiviert unzählige Bücher, junger Mann. Dort wirst du gewiss fündig werden.“
Für die meisten Schulkinder wäre das wahrscheinlich ein Graus gewesen, die überaus strenge Schuldirektorin nach Hause zu begleiten und anstatt nach dem Unterricht auf den Straßen zu tollen, stundenlang in langweilige Bücher zu schmökern. Diesen Mut schätzten seine Schulkameraden und auch die Mädchen waren sich einig; Justin mag zwar ein Streber sein aber lange noch kein verräterischer Lehrerliebling, weshalb er auch in der Schule sehr beliebt war.
In United Europe hingegen, schätzten ihn nur seine anonymen Chatpartner und die programmierten Haushaltsroboter, denn dort blieben die befreundeten Schulkinder ausnahmslos unter sich.
Die betagte Witwe, Mrs. Goldfield, lebte mit einigen Dienstmädchen und einem Kutscher, der zudem für die Pflege ihres beachtlichen Anwesen und des angelegten Parks zuständig war, zurückgezogen in ihrem Herrenhaus. Justin erfreute es sogar, wenn die Schuldirektorin ihn in ihr Heim einlud. Mrs. Goldfield entpuppte sich nämlich privat zu einer netten Dame, die köstliche Kuchenrezepte beherrschte und zudem ausgezeichnet Schach spielte, dies mittlerweile zu seinem Lieblingsspiel wurde. Außerdem hielt ihr Versprechen Wort. In ihrem Arbeitszimmer türmten sich die Bücherregale, daran eine schiebbare Leiter befestigt war, bis zur Decke hinauf. Die Schuldirektorin war regelrecht vernarrt in dieses intelligente Bürschlein und als sie von ihm erfuhr, dass seine Mutter ebenfalls eine Lehrerin sei, überraschenderweise sogar arbeitslos, wünschte sie sehnlichst Anne Owen kennen zu lernen.
Mrs. Goldfield suchte schon seit über einem Jahr nach einer geeigneten Nachfolgerin ihres Postens als Schuldirektorin, denn man legte ihr nahe loszulassen und endlich ihren wohlverdienten Ruhestand anzutreten. Aber die betagte Lady stellte hohe Ansprüche und traute ihren jungen Lehrerinnen dieses verantwortungsvolle Erbe nicht zu, jedoch die Mutter eines Musterschülers könnte dieser Aufgabe gewachsen sein. Also arrangierte Justin, nach Absprache mit Ike, eine Einladung für den nächstfolgenden Sonntag, damit Mrs. Goldfield die Familie persönlich kennen lernt.
Ike war sich zwar immer noch nicht ganz schlüssig, Anne die Arbeitsgenehmigung zu erteilen, weil sie einfach noch viel zu unbeholfen auf ihn wirkte und sie bisher am wenigsten Kontakt zu den Akteuren hatte, wurde aber letztlich von der Familie eindeutig überstimmt. Sie trafen sich bei solchen Besprechungen immer heimlich in der Pferdescheune, damit Eloise von alldem nichts erfuhr.
„Das hat keinen Sinn. Du musst Anne endlich arbeiten lassen. Ich hör mir schließlich ihr Gejammer ständig an, nicht du!“, argumentierte Charles. „Außerdem, was soll das? In drei Monaten ist unser Probejahr sowieso rum und es gibt keinen Grund, dass du uns für untauglich erklärst. Dann wird sie ohnehin irgendwo als Lehrerin arbeiten, so oder so. Jetzt bekommt sie sogar die Gelegenheit als Schuldirektorin eine Schule zu verwalten. Diese einmalige Chance kannst du ihr doch nicht einfach verwehren!“
Ike hob kapitulierend die Hände und sagte schließlich: „Okay, okay, überlassen wir es also dem Schicksal. Wenn die Schuldirektorin Goldfield Anne tatsächlich diese Position zutraut und sie für geeignet hält, dann soll es meinetwegen so geschehen. Dann wäre ich damit einverstanden“, seufzte er. Anne konnte sich daraufhin ihre Freudentränen nicht unterdrücken, klatschte freudig in ihre Hände, umarmte ihn herzlich und bedankte sich bei ihm, dass er ihr diese einmalige Chance gewährte.
An diesem Sonntag waren wiedermal Matthew Kelly und seine Ehefrau Margaretha zu Besuch. Matthew war mit 28 Jahren der jüngste Vorarbeiter bei Harland & Wolff. Mr. Kelly Senior ging ein Jahr zuvor in den Ruhestand und hatte der Geschäftsführung seinen Sohn als Nachfolger zum Vorarbeiter vorgeschlagen. Es wurde von der Geschäftsführung also blindlings davon ausgegangen, der Sohn verrichtet ebenso gewissenhaft die Arbeit, wie der Senior es getan hatte. Also wurde Matthew zum neuen Vorarbeiter der Maschinenbauer befördert, obwohl er das Mindestalter eines Vorarbeiters noch nicht erreicht hatte.
Der alte Kelly hatte seine Männer stets mit gnadenloser Strenge angeführt und deren Arbeitsergebnisse vorab kleinlich überprüft, bevor er die fertigen Maschinenteile den Konstrukteuren präsentierte. Unbarmherzige Autorität und kompromisslose Gehorsamkeit war das Geheimnis seines persönlichen und die seines Teams Erfolges, trichterte Samuel Kelly seinem Sohn täglich ein. Anstatt, wie man es möglicherweise erwarten würde, dass Samuel Kelly seinen Sohn gar bevorzugt hätte, hatte er insbesondere seinem Junior seine unerbittliche Härte zu spüren lassen.
Der Senior übergab Matthew bewusst die kompliziertesten Aufgaben, und wehe dem, ihm unterlief einmal ein einziger Fehler oder er war der Herausforderung nicht gewachsen und wusste nicht mehr weiter, dann zerrte er ihn in seine Bürobarrake und verprügelte ihn.
Matthews Vater war ein wahrer Tyrann und jeder Werftarbeiter bei Harland & Wolff hatte sich vor ihm gefürchtet, sogar mehr als vor Carl Clark. Matthew war im Gegensatz zu seinem alten Herrn stattlich gebaut und konnte Ike durchaus in die Augen blicken, trotzdem kauerte er auf dem Boden, hielt die Arme schützend um seinen Kopf und ließ seines Vaters Wutausbruch stets demütig über sich ergehen.
„Du willst einmal meinen Bowler aufsetzen und ein Vorarbeiter sein? Dann löse das Problem!“, hatte der Vater gebrüllt, während er kräftig auf ihn eingeschlagen und ihn immer wieder gnadenlos getreten hatte. „Löse verdammt nochmal das Problem!“, hatte er ihn immer und immer wieder angeschrien, während der Vater auf seinen Sohn eingedroschen hatte.
Manchmal kam es vor, dass der großgewachsene Mann mit dem Milchgesicht und leicht erröteten Backen, sich ab und wann im dunklen Kellergewölbe der Werkstatt versteckte, leise weinte und dabei schwor, seinem Vater das nächste Mal zu beweisen, dass er ein hervorragender Facharbeiter ist und er würdig sei, in seine Fußstapfen zu treten. Anstatt seinen strengen Herrn zu hassen, achtete Matthew ihn abgöttisch und lechzte geradezu nach seiner Anerkennung, die er seinem tüchtigen, gebildeten Junior aber niemals entgegen brachte.
In seinen Vaters Augen waren Matthews Leistungen niemals ausreichend. Er verlangte von ihm, dass er täglich über sich hinauswächst, ohne dafür Lob zu ernten. „Ruhe dich niemals auf deine Lorbeeren aus! Wenn du ein Problem gelöst hast, steht dir sogleich das Nächste bevor! Erwarte niemals Lob von der Geschäftsführung, denn die verlangen von dir ausschließlich, dass du verdammt nochmal funktionierst!“, wies er seinen Sohn immerzu zurecht.
Nun aber war Matthew Kelly von dem Erfolgsdruck seines tyrannischen alten Herrn endlich erlöst, seitdem sein Vater in den Ruhestand gegangen war und konnte nun eigenständig handeln und so einiges verbessern, müsste man denken. Insbesondre der Umgang mit seinen Gesellen und Lehrjungen. Dem war aber nicht so. Obwohl der Senior nun pensioniert war, forderte er trotzdem täglich von ihm eine Berichterstattung, verlangte nach den Konstruktionsplänen und erteilte zuhause seinem Sohn weiterhin Ratschläge, wie man es besser machen könnte. Und falls sich Matthew anderweitig entschieden hatte, musste er sich vor seinem Vater stets rechtfertigen und endlose Debatten führen. Die Titanic war schließlich auch des Seniors Stolz und insgeheim fuchste es dem Vater, dass er ausgerechnet in diesem Jahr pensioniert worden war und dieses großartige Schiff ohne seine Führung vollendet werden würde.
Aber sobald der pensionierte Kelly in der Bäckerei oder beim Barbier erschien, prahlte er, lobte seinen Sohn Matthew in den höchsten Tönen und bekundete stolz, dass die Titanic mit seines Sohnes erschaffenen Maschinen eines Tages die Weltmeere umfahren wird.
Die unerbittliche Härte seines alten Herrn hatte Matthew letztendlich ebenso zu einem gnadenlosen Vorarbeiter geformt, der mit gleicher Strenge sein Team anführte. Nun war der junge Matthew Kelly der neue Tyrann in der Werkstatt der Maschinenbauer.
Ein exzellenter Maschinenbauer war Matthew bereits seit Beginn seiner Lehre, und seitdem achtete er penibel auf Präzision, was er von seinen Untertanen ebenso abverlangte. Kaum hatte Matthew Kelly Queens Island betreten, trällerte er energisch mit der Trillerpfeife herum und herrschte seine Männer manches Mal sogar grundlos an, weil er dachte, es müsse so sein. Aber kaum jemand nahm diesen grünschnäbligen Vorarbeiter wirklich ernst. Sein Team und insbesondere die Lehrlinge machten sich sogar heimlich über ihn lustig, weil seine Führungsqualitäten nicht ansatzweise mit dem seines autoritären Vaters mithalten vermochten. Nichtsdestotrotz musste jedermann ihm gehorchen und vor ihm kuschen.
Wenn Matthew brüllte, wirkte er gar lächerlich. Einen erfahrenen Maschinenbauer konnte er lediglich wegen Nichtigkeiten anfahren, weswegen er sich vorzugsweise vor den Lehrlingen aufbauschte und sie triezte. Matthew Kelly war geradezu davon besessen, das beste Team von Harland & Wolff anzuführen.
Privat aber war er äußerst nett, höflich und redete auffällig leise. Seine Frau Margaretha, die als Sekretärin im Hauptquartier beschäftigt war, hatte offensichtlich die Hosen an und kommandierte ihn ständig herum. Augenscheinlich waren sie ein unpassendes Pärchen. Sie klein, bildhübsch und stets modern gekleidet; und er ein tapsiger Hüne mit roten Bäckchen und cholerischer Neigung, der seinen Vorarbeiteranzug ausschließlich Zuhause ablegte. Matthews Gedanken drehten sich auch privat hauptsächlich um die Titanic, und wie er es seiner Ehefrau recht machen konnte. Ike schien diesbezüglich der gerechte Gesprächspartner zu sein, denn ständig ersuchte er seinen Rat. Matthew war der Überzeugung, dass Ike genau wusste, wie man mit Frauen umgehen müsste.
Sobald der Schiffsbau erwähnt wurde, diskutierte Matthew bis ins Detail. Besonders hatte ihn neulich der Zeitungsbericht beeindruckt, worin erwähnt wurde, dass die Fehlkonstruktionen an der Olympic bei der Titanic berichtigt werden. Die Titanic werde nach ihrer Fertigstellung unsinkbar sein, behauptete die Presse, dessen Meinung Matthew Kelly und viele andere Vorarbeiter felsenfest teilten.
Am Sonntagvormittag begrüßte die Familie Owen, die Kellys, Ike und Eloise in ihren feinsten Anzügen und schicksten Kleider bekleidet, die Schuldirektorin Mrs. Goldfield. Die betagte Lady erschien mit einer überdachten einachsigen Pferdekutsche und als der Kutscher ihr aus der Karosse half, eilte Justin zu der Lehrerin, führte sie bei der Hand und stellte sie seiner Familie einzeln vor.
Ikes ramponiertes Gesicht war zwar schon etwas verheilt, aber er sah trotzdem noch etwas mitgenommen aus. Er erklärte der Schuldirektorin scheinheilig, dass es sich hierbei um einen kleinen Arbeitsunfall gehandelt hätte woraufhin sie vergnügt lächelte und meinte, dass ihr verstorbener Gatte auch des Öfteren einen „kleinen Arbeitsunfall“ hatte, wobei dessen Gesicht damals ebenso ausgesehen hätte. Ike schmunzelte, denn Mrs. Goldfield machte sogleich den Anschein, dass man ihr nichts vormachen könnte, man mit ihr vernünftig reden könnte und sie keine hochnäsige Lady sei.
Anne und Mrs. Goldfield empfanden auf Anhieb gegenseitige Sympathie. Der erste Eindruck erweckte beidseitiges Vertrauen, sodass die Frauen sofort unbefangen miteinander plauderten. Mrs. Goldfield fiel Annes jugendliche Erscheinung auf, dies war für eine vierzigjährige Frau damals äußerst ungewöhnlich. Eine Schuldirektorin musste allerdings unbedingt fähig sein, selbst einem Mann die Stirn bieten zu können. Hat eine schöne Frau ebenso diese Courage? Wird eine jung gebliebene Frau überhaupt ernst genommen?, fragte sich Mrs. Goldfield insgeheim besorgt.
Aber ein modernes Zeitalter hatte schließlich begonnen und als Anne ihre Künste auf der Schreibmaschine unter Beweis stellte, war Mrs. Goldfield sichtlich beeindruckt. Mit diesen modernen Schreibmaschinen konnte die alte Schuldirektorin nicht umgehen, aber es war ihr bewusst, dass eine Schreibmaschine zukünftig unerlässlich wäre. „Sie beherrschen die Schreibmaschine ja perfekt. Das finde ich außergewöhnlich“, hatte Mrs. Goldfield mit Ausdruck der Bewunderung gelobt.
Zuerst besuchten allesamt um 11 Uhr vormittags den Gottesdienst, danach ging es mit dem Pferdegespann und einem gefüllten Picknickkorb nach Queens Island, um das Firmengelände von Harland & Wolff zu besichtigen. Das war Tradition. Jeden Sonntag war das Firmentor für alle geöffnet und jedermann durfte sich auf den Helgen die unfertigen Schiffe ansehen. Hauptsächlich waren es Werftarbeiter, die ihren Familien stolz ihren Arbeitsplatz präsentierten und dort sogar mit ausgelegten Wolldecken Picknick machten.
Die scheinbar strenge Lady plapperte Unterwegs munter drauf los und erzählte ununterbrochen von ihrer Schule, wobei sie wehmütig erwähnte, dass sie es nun einsähe, abtreten zu müssen, damit ihre Schule in besten Händen weiter geführt wird.
„Misses Owen“, sprach sie mit ihrer rauen Stimme, „unsere Gemeinde erschuf die Schule Anno 1851 mit ihren bloßen Händen.“ Sie seufzte kurz. „Ich war damals noch ein blutjunges Ding gewesen, erst unschuldige fünfzehn Jahre alt war ich damals, völlig mittellos, gerade mit meinem längst verstorbenen Mann frisch vermählt worden, und gehörte zu den wenigen Frauen, die nicht nur tagelang durch die umliegenden Dörfer gezogen waren, um Spenden für die Errichtung der Schule einzusammeln, sondern ich legte ebenfalls Hand an und klopfte die Nägel wie ein Mann in die Bretter. Nun bin ich die letzte verbliebene Lehrerin, die diese Schule einst gegründet hatte. Sie verstehen sicher, Misses Owen, dass ich nicht eher den Dienst quittiere und meinen Lebenssinn abdanke, bevor ich mir absolut sicher bin, dass meine Schule weiterhin diszipliniert geführt wird. Disziplin ist der Grundstein eines jeden Lebens!“, belehrte sie Anne mit erhobenem Zeigefinger. Anne nickte hastig. Ihr war klar, dass Mrs. Goldfield ihre Stellung niemals leichtfertig vergeben würde und wenn sie in ihre Fußstapfen treten wollte, musste sie ihren hohen Ansprüchen gerecht werden. Das bedeutete unter anderem auch, dass sie dazu fähig sein müsste, wenn nötig auch Mal nach dem Rohrstock zu greifen, um einen unartigen Schüler zu maßregeln, weil es in diesem rauen Zeitalter einfach üblich war, um Respekt zu ernten.
Auf Queens Island angekommen, bat Mrs. Goldfield beide Vorarbeiter sie augenblicklich die Titanic zu zeigen, weil sie dieses großartige Schiff bislang nur auf Fotos in der Zeitung gesehen hatte. Eloise und Margaretha kannten sich bereits seit ihrer Kindheit. Margaretha wohnte, bevor sie ihre Lehre als Sekretärin bei Harland & Wolff anging, im selben Dorf wie Eloise. Sie liefen mit einem Sonnenschirm einander eingehakt etwas abseits, tuschelten und giggelten miteinander und schwätzten über Boutiquen, Haarfrisuren und Kuchenrezepte. Mrs. Goldfield bedrängte Ike und Matthew regelrecht dazu, ihr die Schiffe vorzustellen, von denen behauptet wird, sie seien unsinkbar. Besonders interessierte sie die Titanic.
„Aber Misses Goldfield, weshalb die Titanic?“, fragte Ike neugierig. Dies war eine Gelegenheit etwas über den Mythos zu erfahren, welchen dieses Schiff bereits erlangt hatte, obwohl es noch gar nicht fertiggestellt wurde. Weshalb sprach mittlerweile die ganze Welt von diesem Schiff, obwohl der Stapellauf der Olympic bevorstand und folglich dieses Schiff angepriesen werden müsste? Was machte die Titanic dermaßen interessant? Die Schwesterschiffe waren, abgesehen von dem offenen Promenadendeck auf der Olympic, augenscheinlich völlig identisch. Sie lächelte nur. Die kleine Mrs. Goldfield, dessen Käppi gerade einmal bis zu den Schultern der Männer ragte, hakte sich in ihre Arme ein und zog die beiden Vorarbeiter ruppig an sich heran.
„So, meine Herren. Und nun gehen wir Marsch ab zu den zwei Leviathanen!“, sagte sie bestimmend.
Aus ihrem Mund gesprochen klang es herrisch angehaucht, ungefähr so, als wenn sie ihre Schüler vom Pausenhof wieder in das Klassenzimmer scheuchte. Ike stutzte, während sie am North Yard entlang spazierten.
„Entschuldigen Sie, Misses Goldfield. Ich verstehe nicht recht, weshalb sie diese Schiffe als Leviathane bezeichnen. Ein Leviathan ist doch ein biblisches Seeungeheuer.“
„So ist es, Mister van Broek. Sie haben im Religionsunterricht sehr gut aufgepasst. Im Alten Testament steht geschrieben, dass Gott den Leviathan geschaffen hat, um mit ihm im Meer zu spielen. Was auch immer dies zu bedeuten hat. Sicher kennen Sie den Roman von Herman Melville: Moby Dick. Moby Dick ist ein Seeungeheuer, welches die Menschen fürchten und Kapitän Ahab versucht es, blind vor Hass, zu töten. Aber der Leviathan verschlingt ihn und seine Gefolgen und reißt sie in die Tiefe. Die See ist voller Tücken und der Mensch ist überheblich wenn er meint, der Herr der Meere zu sein. Nun aber haben die Menschen Leviathane aus Stahl erschaffen, die jeglicher Konkurrenz auf dem Meer die Grenzen stecken sollen. Hierbei handelt es sich nicht, wie in Herman Melvilles Moby Dick, um persönliche Rache, sondern um Habgier, eine ebenbürtige Sünde, welche der HERR ebenso verabscheut. Es wird meiner Meinung nach beabsichtigt, das blaue Band zu erringen. Diese Auszeichnung käme der mächtigen Rederei White Star Line nur zugute. Sie wären dann tatsächlich die Herren über die Meere und ihr Profit würde steigen. Die Habgier der Menschen scheut nicht einmal davor zurück, fahrlässig mit der Sicherheit der Menschen an Bord umzugehen. Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen. Aber Gott wird mit dem Leviathan spielen. Und der Leviathan wird das Spiel gegen den Herrgott verlieren“, erklärte sie mahnend.
Matthew Kelly belächelte sie und schüttelte mit dem Kopf.
„Misses Goldfield, sie irren sich. Das blaue Band wird weder die Titanic und erst recht nicht die Olympic erhalten. Niemals. Geschwindigkeit ist nicht relevant für beide Olympicliner, sondern Eleganz, Komfort und Sicherheit. Wir leben in einem modernen Zeitalter und die Technik ist so weit fortgeschritten, dass ein Unglück auf hoher See eigentlich ausgeschlossen werden kann, falls sie darauf anspielen. Ich kann ihnen versichern, dass diese Schiffe unsinkbar sind. Insbesondere die Titanic. Ich vertrete meinen Standpunkt bis aufs Äußere, Misses Goldfield, dass die Titanic der Olympic sogar überlegen sein wird. Die Titanic wird luxuriöser, schneller und vor allem sicherer sein, weil die wasserdichten Schotten bei einer Kollision den beschädigten Sektor sofort abriegeln werden. Das Schiff wird sich immer über Wasser halten können und die Rettungsboote werden allerhöchstens von Nutzen sein, um ein anderes in Seenot geratenes Schiff zu helfen. Mehr nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Gott selbst könnte die Titanic nicht versenken, weil es konstruktionsbedingt einfach unmöglich ist. Dies ist eine Tatsache, Misses Goldfield“, erläuterte Matthew sachlich.
Nun war Matthew Kelly in seinem Element und versuchte der alten Dame gestikulierend die Funktionsweise der wasserdichten Schotten zu erklären. Sie ließ ihn schmunzelnd ausreden, bevor sie ihm widersprach.
„Mister Kelly, haben Sie schon einmal etwas von der griechischen Mythologie von den Göttern Titanen gehört?“
Ike blickte schmunzelnd zu Boden, als er Matthews verdutztes Gesicht sah. Seine ohnehin roten Backen erröteten sich beschämt, als er ahnungslos seinen Kopf schüttelte. Mrs. Goldfield lächelte, während sie mit dem Zeigefinger wankte.
„Sie haben also im Geschichtsunterricht lieber Ihre Mütze voll geschlafen, anstatt aufzupassen. Aber es sei Ihnen verziehen, schließlich ist aus Ihnen trotzdem etwas geworden. Würden Sie mich jetzt über den Zweck einer Kurbelwelle oder wie genau eine Dampfmaschine funktioniert befragen, müsste ich ebenso passen.“
Die Vorarbeiter lachten zugleich, dann hörten sie weiter gespannt zu. Einen Moment hielt die alte Lady inne, als sie die Helling erreichten und sie erstarrt in die Höhe blickte – Zwanzig Meter hinauf auf den mächtigen schwarzen Bug der Titanic. Sie seufzte erstaunt; was für ein Anblick, dachte sie. Hoch oben auf der weiß lackierten Reling hockten Möwen. Sie hielt ihre Hand, die mit einem weißen Handschuh bedeckt war, vor dem Mund und raunte: „So gewaltig und so groß hatte ich mir die Titanic nun doch nicht vorgestellt“, meinte sie erstaunt.
Matthew hakte daraufhin wieder in ihren Arm ein und erläuterte stolz, dass, sobald die Schornsteine anmontiert werden, die Titanic vom Kiel ab eine Höhe von imposanten 53 Metern erreichen würde. Während Mrs. Goldfield minutenlang auf den Bug der Titanic starrte, erzählte sie weiter von der griechischen Mythologie.
„Also, meine Herren. Hören Sie mir genau zu, wie die griechische Legende ausging. Die Götter Titanen hatten es einst gewagt, die Götter Olympier zum Kampf herauszufordern. Doch sie wurden geschlagen. Nachdem die Schlacht gewonnen war und die Titanen gestürzt wurden, wurden diese Riesen in Menschengestallten in die Tiefe der Unterwelt verbannt.“
Ike nickte andächtig.
„Sie vermuten also, allein nur beruhend auf einer griechischen Sage, dass die RMS Titanic irgendwann etwas Unheilvolles geschieht?“, hakte Ike interessiert nach.
Mrs. Goldfield blieb stehen und schaute ihn ernst aus ihren Brillengläsern an.
„Mögen Sie mich jetzt vielleicht für abergläubisch halten, Mister van Broek, aber ein Schiff diesem Ausmaße einen Titanen zu taufen, wobei ihr Konkurrent ausgerechnet Olympic heißt, grenzt an Hochmut und fordert das Schicksal geradezu heraus. Der HERR möge uns diese Torheit verzeihen und ich hoffe, dass meine Gedanken tatsächlich nur auf reinen Aberglaube beruhen, und dass dieser Kelch an den Menschen an Bord vorübergehen wird.“
Nach einer Weile der Andacht tätschelte sie Ikes Hand und schenkte ihm wieder ein freundliches Lächeln.
„Nun aber Schluss mit diesen düsteren Prophezeiungen, Mister van Broek. Jetzt würde ich gerne etwas von dem köstlichen Kuchen Ihrer bezaubernden Ehefrau kosten, wenn Sie erlauben“, sagte sie verschmitzt lächelnd. „Selbstverständlich“, meldete sich Anne daraufhin zu Wort und reichte ihr den Arm. Die Schuldirektorin hakte sich lächelnd ein.
Ike warf einen verstohlenen Blick hinüber zu den jungen Frauen. Ringsherum konnte man etliche Familien beobachten, wie sie mit ihren Picknickkörben auf Decken hockten, sich unterhielten und dabei schmausten und begeistert auf die Helling blickten. Auch Eloise und Margaretha hatten auf einer angelegten Wiese ein geeignetes Plätzchen für das Picknick gefunden. Eloise und Margaretha lachten laut.
„Nun ja, wissen Sie, Misses Goldfield … Eloise ist eigentlich gar nicht meine Ehefrau, sondern nur meine Verlobte, beziehungsweise meine Lebensgefährtin“, flüsterte Ike Mrs. Goldfield beschämt zu.
Mrs. Goldfield schmunzelte.
„Ja, aber Mister van Broek“, entgegnete sie ihm gleichermaßen flüsternd, „dann wird es langsam Zeit, dass sie Ihre Heiratsabsicht auch endlich umsetzen. Das junge Ding ist doch total in Sie vernarrt. So was erkennt man doch sofort. Sie sind doch ein anständiger junger Mann, der einer verantwortungsvollen Arbeit nachgeht und sehr gut verdient. Ihnen und Ihrer Verlobten steht in dieser harten Zeit das Tor des Glückes doch weit offen auf. Was hält Sie nur davon ab, dieses Glück mit beiden Armen zu empfangen?“ fragte sie, ohne dabei eine Antwort zu erwarten. Ike schwieg und nickte andächtig dabei.
Es war ein wundervoller Tag für alle gewesen. Eloise und Margaretha hatten mit Justin den ganzen Nachmittag herumgetollt, wobei beide Frauen sich einig gewesen waren, Kinder seien etwas Wundervolles. Mrs. Goldfield hatte sich am Abend in der Wohnstube vor dem wärmenden Kamin aus dem Sessel erhoben, mit einem Teelöffel auf ihr Weinglas geklimpert und offiziell bekannt gegeben, dass Anne als Schuldirektoren in Zukunft ihre Schule verwalten sollte. Daraufhin erntete Anne einen kräftigen Applaus von der Familie.
Für Anne war es der schönste Tag in der vergangenen Welt gewesen; sie hatte sich ihre Freudentrännen von den Wangen gewischt und es genossen, als Eloise sie umarmte, sie auf ihren Rücken getätschelt und sie beglückwünscht hatte. „Ich bin so stolz auf dich, Anne“, sagte Eloise freudig.
Zwar urteilte die alte Dame ihren Kern etwas zu weich, sprach Anne daraufhin auch an und legte ihr nahe, dem schleunigst abzuhelfen. „Misses Owen, fordern Sie von jedem Schüler Disziplin und seien Sie stets vorbildlich. Eine Tracht Prügel hat noch niemanden geschadet!“, erklärte sie ihr eindringlich. „Was glauben Sie, was wird den auszubildenden Kindern auf Queens Island wohl erwarten? Gnadenlose Strenge und kräftige Prügel, wenn sie nicht gehorchen. Die Lehrburschen werden noch viel härter rangenommen, als in der Schule. Schließlich muss aus ihnen Männer geformt werden, die einmal Verantwortung zu tragen haben und eine Familie ernähren müssen! Und die Mädchen müssen Frauen werden, die ihre hart arbeitenden Männern in jeder Lebenslage unterstützen müssen … weil Gott es so abverlangt!“
Aber für ihre positive Entscheidung trug auch die Gesellschaft einiges dazu bei, die Anne umgab. Ein ordentliches Milieu war ein weiterer ausschlaggebender Aspekt, auf den die betagte Schuldirektorin großen Wert legte und dies in ihrer Auswahl berücksichtigte. Sie empfand auf Anhieb Sympathie für diese kleine Familie: Einen Knaben ganz nach ihrem Geschmack und zudem pflegte die Mutter die Gesellschaft von zwei angesehene Vorarbeiter von Harland & Wolff, dessen Aufrichtigkeit ihres katholischen Glaubens sie keinesfalls anzweifelte. Zwar hatte sie sich zuerst über Ikes geschundenes Gesicht gewundert und befürchtet, dass er ein Trunkenbold sei, der sich öfters in den Wirtshäusern rumprügelt – genauso wie damals ihr eigener Ehemann. Aber Misses Goldfield vertrat die Meinung, dass ein richtiger Mann nun mal so sein müsste, dass er in einer Kneipe auch mal kräftig Dampf ablassen sollte, um wieder entspannt nach Hause zurückzukehren.
Annes Ehemann Charles dagegen, hatte sie mit Skepsis betrachtet und sich selbst hinterfragt, welcher Teufel diese nette sowie attraktive Frau wohl am Tage ihrer Trauung damals geritten hatte.
Mrs. Goldfield begleitete Anne noch ein paar Unterrichtsstunden, stand ihr mit Rat und Tat beiseite und wies sie gewissenhaft in ihre Pflichten ein, bevor sie endgültig ihr Amt offiziell niederlegte. Einige Tage später besuchte sie die neu gekürte Schuldirektorin und erkundigte sich nochmals nach dem Wohlergehen ihrer ehemaligen ABC-Schützlinge. Als sie das Klassenzimmer gemächlich mit einem Spazierstock betrat, sprangen alle Kinder sofort ehrfürchtig von ihren Stühlen auf und begrüßten sie lautstark mit: „Guten Tag, Frau Schuldirektorin!“
Mrs. Goldfield seufzte und blickte wehmütig auf ihre Schule zurück, als ihr Butler sie mit der einachsigen Pferdekutsche wieder abholte. Sie blickte durch die hintere Öffnung der Kutsche und sah, wie ihre kleine Schule langsam hinter einem Hügel verschwand und all ihre damaligen Schüler ihr nachwinkten. Ihre Schule, die sie selbst erbaut hatte. Nun hatte Mrs. Goldfield endgültig losgelassen.
Eine Woche bevor die Olympic am 20. Oktober 1910 vom Stapel lief, klopfte es an der Klassenzimmertüre. Die neue Schuldirektoren, Mrs. Owen, unterbrach den Schulunterricht und bat herein.
Sofort erhoben sich alle Schüler, als ein katholischer Pastor hereintrat und auf das Lehrerpult stolzierte. Er flüsterte der Schuldirektoren Anne ins Ohr, dass Mrs. Goldfield letzte Nacht in ihrem Herrenhaus verstorben war. Der Pfarrer versicherte ihr, dass sie friedvoll eingeschlafen und nicht mehr erwacht war.
Anne saß auf ihren Stuhl und starrte vor sich hin. Zeige Disziplin, fuhr es ihr sogleich durch die Gedanken, genauso wie es Mrs. Goldfield ihr eingeprägt hatte. Sei vorbildlich!
Anne stand auf und verkündete mit fester Stimme ihren Schülern diese traurige Nachricht, und unterdrückte ihre Tränen.
Mrs. Goldfield galt zwar als eine äußerst strenge, dafür aber auch als eine gerechte Schuldirektorin. Selbst die Lausebengels und unartigen Mädels, die des Öfteren ihren Rohrstock zu spüren bekamen, weinten bitterlich, als der Pastor sich bekreuzigte und das Vater Unser sprach.
Ike hatte sofort, nachdem er überfallen wurde, Vincenzo darüber informiert und ihn gebeten, er solle nach Informationen über die Straßengang Dark Crows recherchieren. Insbesondere benötigte er den Standort des Wohnsitzes deren Bandenchefs Bugsy. Zwar hatte er sich bereits selbst darum bemüht, Bugsy aufzuspüren, aber leider war seine Suche erfolglos geblieben. Es schien beinahe unmöglich zu sein, diesen Kleinganoven Bugsy in Belfast ausfindig zu machen. Er hatte sich in den schäbigsten Stadtvierteln nach ihm erkundigt, und obwohl Bugsy in Belfast bekannt war, hatte sich niemand getraut zu verraten, wo dieser sich gewöhnlich herumtrieb. Jeder hatte geleugnet, Bugsy überhaupt zu kennen.
Ike schlich eines Nachts wiedermal aus dem Bett, blickte übermüdet in den Spiegel und sprach den Verbindungscode in die Mikrokamera. Er war davon überzeugt, dass Vincenzo im Archiv etwas über Bugsy herausgefunden hatte. Dieser Ganove müsste schließlich irgendwann polizeilich bekannt geworden sein, sicherlich würde er eines Tages im Gefängnis landen und demnach müsste irgendeine Akte existieren, woraus zu entnehmen war, wo dieser Höllenhund im Jahre 1910 sesshaft war. Das Erste, was er vernahm, als die Verbindung zustande kam, war Vincenzos verzweifeltes Seufzen. Ab jetzt zählten die vierzig Sekunden.
„Tut mir leid, Ike. Über diesen Burschen habe ich leider nicht viel in Erfahrung gebracht. Das Archiv war völlig nutzlos, schließlich waren die Dark Crows nur Straßenganoven und keine Familienmitglieder einer Mafia. Die sogenannten Dark Crows waren völlig unbedeutend für die Geschichte. Der Überfall hatte sich unglücklicherweise ereignet, als der Satellit die amerikanischen Kontinente passierte. Also habe ich ein paar Schleuser im Jahre 1920 beauftragt, in Belfast nach einem gewissen Bugsy von den Dark Crows nachzuforschen. Und die wurden wenigstens etwas fündig. Sein wahrer Name lautet Benjamin Glover, vielleicht wird dir diese Information etwas nützen, denn ich kann dir nur sagen, wo er sich ab dem ersten Januar 1911 aufhalten wird.“
Ike tastete sein beinahe vollständig geheiltes Gesicht ab, während er in den Spiegel starrte. Die Salben hatten wahre Wunder bewirkt.
„Prima, dann schieß los und sage mir doch einfach, wo sich Bugsy am ersten Januar befindet. Ich muss nämlich unbedingt meine Taschenuhr zurück haben. Wenn du weißt, was ich meine“, sagte er zynisch.
Vincenzo atmete einmal tief durch.
„Bugsy wirst du auf dem Milltown Friedhof von Belfast auffinden. Dort wohnt er für immer“, antwortete Vincenzo. „Seine Mutter hatte ihm ein ansehnliches Mausoleum erbauen lassen. Sie starb sogar ein paar Tage nach ihm und wurde ebenfalls in dessen Mausoleum beerdigt. Scheinbar war der Kerl kurz vor seinem Tod etwas zu Geld gekommen und seine Mutter, die gute Frau, hatte das ansehnliche Erbe einfach für sein Begräbnis verplempert. Ike, Benjamin Glover ist im Besitz deiner Taschenuhr und wird in der Silvesternacht im Jahr 1910 auf das Jahr 1911 sterben! Der Kerl war erst zwanzig Jahre alt, also gehe davon aus, dass er gewaltsam umkam. Dir bleiben nur noch zwei Monate, diese verdammte Uhr wieder i … dein … bek … un …“
Plötzlich rauschte und knisterte es in Ikes Ohrmuschel.
„Sieh dich vor!“, waren die letzten verständlichen Worte, welche Ike vernahm, bevor die Funkverbindung völlig abbrach. Vierzig Sekunden waren verstrichen.
Ike stützte seine Arme gegen den Spiegel und hielt seinen Kopf erschöpft nach unten. Benjamin Glover, alias Bugsy, wird also in absehbarer Zeit getötet werden. Doch bevor er stirbt, musste er unbedingt seine Taschenuhr zurückbekommen.