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5 Seiten

Mick

Kurzgeschichten · Erinnerungen
Die Hände tief in die Manteltaschen vergraben, den Kragen hochgestellt, schlenderte Mick durch den stockenden Freitagabendverkehr. Passanten eilten ihm entgegen, rempelten ihn an, hasteten weiter zu ihren Bussen und U-Bahnstationen, Autos verstopften die Straßen, Lastwagen brummten heran. Eine endlose Kette von Autolichtern und lärmenden Hupen brausten an ihm vorbei.
Ein leichtes Schneegestöber hatte eingesetzt. Der Wind trieb die Schneeflocken vor sich her; mit unendlicher Zartheit puderten sie die Gehsteige ein. Die weiße Decke wurde durch schmutzige Fußstapfen und Reifenspuren zerrissen.
Ziellos blieb er an der Kreuzung stehen. Ihm war kalt und er spürte das Prickeln der zerfließenden Schneeflocken auf seinem Gesicht. Er wollte noch nicht nach Hause. Zögerlich setzte er sich in Bewegung, beschleunigte seinen Schritt und ging die Straße wieder zurück.
Er mochte diese Gegend, diese düsteren Altbauten mit ihren bröckelnden Fassaden. Manche von ihnen wurden saniert, waren umhüllt mit Plastikfolien, die leise im Wind knatterten. Hier gab es Dutzende von kleinen Läden, Pizzerien, Drugstores, Kneipen und Kinos, die regelrecht aus den Kellern und Parterres hervorquollen. Neben einer Litfaßsäule schmiegte sich ein Imbiß, der beste seiner Art in diesem Bezirk, wo eilige Kunden schnell einen Hot dog oder einen Hamburger verschlangen. Überall lockten gleißende Neonröhren mit Non-Stop-Sex, Peep Shows, billigen Pensionen und Pilsner, frisch vom Faß.
Vor einem dieser Lokale blieb Mick stehen. Der Name Vegas zuckte abwechselnd in gelb, grün, rot und orange über dem Eingang. Er kniff die Augen zusammen, versuchte durch die beschlagenen Fensterscheiben etwas zu erkennen und grinste. Der Schuppen war propenvoll, eine der wenigen Kaschemmen wo sich Nachtclubbesitzer, Künstler, Touristen, Huren, Dealer und Junkies trafen.
Mit dem Fuß trat er gegen die Tür, weit schwang sie auf. Blauer Dunst schwebte ihm entgegen, der Raum verschwamm vor seinen Augen. Gerüche der Vergangenheit, vermischt mit gegenwärtigem Zigarrettenrauch, Bier, Schweiß, Kiff und Parfum quoll aus allen Ritzen, raubte ihm für kurze Zeit den Atem. Er setzte sein Allerweltslächeln auf, hob grüßend die Hand, schlenderte zum Thresen.
Dahinter drängten sich der Wirt und zwei Kellnerinnen, die unermüdlich Gläser spülten, Bestellungen entgegennahmen, Getränke ausschenkten und ein Bierglas nach dem anderen unter die Zapfhähne stellten. Der Wirt blickte kurz auf. Ein erkennendes Lächeln huschte über sein müdes Gesicht. Mick hob Daumen und Zeigefinger. Daumen hieß Bier, Zeigefinger Korn, also beides.
Ein Nicken, der Korn stand sofort vor ihm, ein weiteres Glas rutschte unter den Zapfhahn. Er sah zu, wie das Bier im Glas hochschäumte, nervös leckte er sich über die Lippen, drehte sich um und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Dicht um die Tische gedrängt, saßen die Leute auf schäbigen Stühlen mit verschlissenen Bezügen. Auf den Tischen türmten sich überquellende Aschenbecher, leergetrunkene Gläser, Zigarrettenschachteln und zerknüllte Folien. Im Vegas war es schmuddelig, es roch nach Zerfall,
trotzdem verbrachte er viele Abende hier, manchmal sogar Nächte. Sein Blick wanderte weiter zur Eingangstür, die pausenlos von kommenden und gehenden Besuchern auf- und zuschwang. Über der Tür hing eine Uhr, eingerahmt in das Emblem einer bekannten Bierfirma. Der rote Sekundenzeiger tickte unermüdlich weiter. Gleich halb sieben. Eigentlich müßte er jetzt nach Hause. Lena war bestimmt schon da.
Mick drehte sich um, winkte der Bedienung. "Telefon", sagte er und bekam ein Handy. Am anderen Ende war besetzt. Er seufzte. Lena telefonierte, seiner Erfahrung nach stundenlang. Er hatte nie verstanden, warum Frauen immer so viel zu telefonieren hatten, warum per Telefon Unter-haltungen geführt, sogar wichtige Lebensentscheidungen getroffen wurden. Er konnte also noch ein Bierchen trinken, oder auch mehr. Das Bier kam. Er spitze die Lippen, setzte das Glas an und trank es mit einem einzigen Zug aus, schob es rüber gleich zu den Zapfhähnen, hob Daumen und Zeigefinger.
Der Wirt nickte. Sie waren ein gut eingespieltes Team. Der Korn kam. Mick kippte ihn gleich hinunter. Er brannte angenehm in der Kehle. Nachdenklich drehte er das Glas zwischen seinen Fingern und wartete auf den nächsten Drink. Still lächelte er vor sich hin, dachte an Lena. Er konnte sie sich leibhaftig vorstellen, wie sie in dem kleinen Flur auf dem Boden saß, den Aschenbecher zwischen ihren nackten Füßen hin- und herschob, unablässig telefonierte und dabei immer wieder in ihren Haaren wühlte. Ihre Telefoniererei, die er zwangsläufig mitanhören mußte, ging ihm mächtig auf den Geist. Er blickte auf seine Armbanduhr, nickte zufrieden. Er hatte noch ein bißchen Zeit, bevor die nächste U-Bahn kam, er nach Hause fuhr, etwas aß und danach, nach telegener Pflichterfüllung, ging's ab in die Heia. Lena kuschelte sich in seine Armbeuge, wartete darauf, daß er etwas sagte, etwas Romantisches natürlich, etwas, das sie hören wollte. Und er? Manchmal sagte er etwas Romantisches, manchmal sogar etwas Leidenschaftliches, aber der erste Drive ihrer Beziehung war raus.
Er war damit zufrieden, aber sie? Er hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht, wie sie wohl ihre Beziehung sah. Jeden Morgen, wenn er neben ihr aufwachte, war er froh, daß es sie gab, aber im Laufe des Tages schob er sie immer weiter weg aus seinen Gedanken.
"Rück mal!"
Müde blickte er auf, rückte ein wenig zur Seite. Die Kleine war wieder da. Er hatte sie schon öfters gesehen. Interessiert musterte er sie.
Zwischen einem langen, blondgesträhntem Lockengerinsel schob sich ein junges, ovales Gesicht hervor. Die hochstehenden Wangen waren mit goldbraunem Rouge bestäubt. Die blauen Augen hatte sie kunstvoll ummalt und ihrem etwas zu klein geratenen Mund mit dem Konturenstift Schmollfülle verliehen.
Die Huren heutzutage lockten nicht mehr mit schwindelhohen Pumps, Netzstrümpfen, die an Strapsen unter viel zu kurzen Röcken hingen. Der Trend war sportlich, im Aerobicstil. Unter dem offenstehenden Mantel trug sie ein enges Trikot im Tangaschnitt über glitzernde Strumpfhosen, Stulpen verdeckten zur Hälfte ihre Turnschuhe.
Sie kramte in ihrer winzigen Gürteltasche nach Zigaretten. Mick fischte eine Schachtel Lucky Strike aus seiner Brusttasche, klopfte eine Kippe aus dem zerdrückten Päckchen und hielt sie ihr hin. Sie lächelte kurz, griff hastig danach. Er riß ein Streichholz an, blickte darüberhinweg und versuchte den Blick, ihrer kunstvoll
ummalten Augen zu deuten.
Hastig inhalierte sie einen Zug, taxierte ihn.
"Danke", hauchte sie und lächelte wieder. Der Rauch kringelte aus ihren Nasenlöchern, schwebte um ihre Mundwinkel.
Sein Blick glitt an ihrem Körper herab. Der offenstehende Mantel enthüllte kleine stramme Brüste, die sich unter dem engen Trikot abzeichneten, und lange, gutgeformte Beine.
Er schluckte, wandte sich abrupt zum Thresen. Ein Bier schlitterte über die Theke, blieb vor ihm stehen. Die weiße Krone schwappte über, glitt am Stil entlang und bildete eine flockige Pfütze.
Er spürte wie sie näher rückte, ihre Hand legte sich auf seinen Oberschenkel.
Die Kleine erregte ihn. Er bekam einen trockenen Mund.
"Willst du auch was trinken?" Seine Stimme klang rauh und sehr leise.
"Muß es was zum Trinken sein?
Gleichgültigkeit vortäuschend wandte er sich ihr zu. In ihren Augen glomm ein kleines triumphierendes Leuchten.
"Und?" fragte sie, ihre Blicke kreuzten sich, nervös tippte sie die Asche in den Aschenbecher.
Er lächelte, hob leicht die Schultern und ließ sie wieder sinken.
Sie zog die Augenbrauen hoch und winkte der Bedienung.
"Wie immer", rief sie, glitt langsam vom Hocker und setzte sich an einen der Tische, wo sie lauthals von angetrunkenen Kerlen begrüßt wurde. Gedankenverloren sah er zu, wie sie nach dem nächsten Freier angelte.
Von Zeit zu Zeit hob er Daumen und Zeigefinger. Wie durch Watte vernahm er das Stimmengeschwirr.
Auf einmal überkam ihn Unruhe. Er hatte keine Lust mehr zwischen all diesen Typen zu sitzen. Er wollte nach Hause, nach Hause zu Lena.
Er fand in seiner Tasche einen zerknüllten Zwanzigmarkschein, warf ihn auf den Thresen, tippte zwei Finger an die Stirn und schlängelte sich mit unsicheren Schritten zwischen den Tischen zum Ausgang. Er stolperte gegen die Tür, torkelte zurück und schlurfte hinaus.
Draußen schlug ihm eisige Kälte entgegen, die inzwischen drastisch zugenommen hatte. Sein Atem schwebte wie ein feiner Nebel vor seinem Gesicht. Die kalte Luft tat ihm gut, machte seinen Kopf frei, und er fühlte sich gleich viel besser.
Mick stellte den Kragen hoch und stopfte die Hände tief in die Manteltaschen.
In dieser kurzen Zeit hatte sich das Straßenbild verändert. Die Passanten, die ihm jetzt begegneten, waren keine Angestellten oder Arbeiter, die zur nächsten U-Bahnstation hasteten. Trotz der Kälte wimmelte es nur so von Vergnügungssüchtigen, denen das Geld locker in der Tasche saß, die etwas erleben wollten. Prostituierte nahmen ihre Plätze ein; einige gingen zum nächsten Imbiß, um sich mit einer Tasse heißen Kaffee oder Grog aufzuwärmen.
Ohne weiter nach rechts oder links zu sehen, ging er langsam seinen Weg. Bei jedem Schritt wurde sein Kopf klarer und das Benommensein verschwand. Die U-Bahnstation kam in Sicht. Er wartete nicht ab, bis ihn die Rolltreppe nach unten brachte. Mit weitausholenden Schritten lief er die Treppe hinunter.Die U-Bahnstation war schmuddelig, ein Asyl für Penner, Huren, Dealer und Junkies. Pornographische Zeichnungen und rechtsextremitische Parolen zierten die grauen Wände. Zielstrebig schritt er durch die große Halle, die zu den Gleisen führte. An einem der Gleise blieb er stehen, blickte zur Uhr. Gleich halb zehn. Bis er Zuhause war ... Er dachte nicht weiter. Um der Kälte Herr zu werden, ging er den Bahnsteig auf und ab.
Hinter einer der riesigen Säulen lag ein Penner mit wirrem Haar und schlief. Das Gesicht des Mannes wirkte eingefallen. Ein feiner grauer Stoppelbart stach aus dem blaßen Gesicht. Der Mund des Schlafenden war geöffnet. Speichel rann in einer dünnen Spur über das Kinn. Sein Pullover war hochgerutscht, zeigte einen nackten weißen Bauch, die Cordhose war von undefinierbarer Farbe und starr von Schmutz.Angewidert drehte sich Mick um. Solche Kerle taten ihm einerseits leid, doch andererseits haßte er dieses Gesindel.
Aus der Ferne drang das leise Schnauben der U-Bahn, die immer näher kam und zischend neben ihm hielt.Er stieg ein und ließ sich auf einen Sitz plumpsen.Die U-Bahn fuhr an, schnaubte durch einen endlos dunklen Tunnel.Mick sah auf seine Uhr und seufzte. Er war länger unterwegs gewesen, als er beabsichtigt hatte. So wie er Lena kannte, würde sie so tun, als wenn sie gar nicht bemerkt hätte, daß es schon so spät war.Und er? Er lächelte versonnen. Sie war ein Schatz, sie ließ ihm seine kleinen Freiheiten.
 
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Kommentare  

Allen Kommentaren kann ich mich nur anschließen, stilistisch ist das wirklich einwandfrei. Packend und emotional geschrieben, mit einem schönen Blick fürs Detail. (ein gaaanz kleiner Minuspunkt sind vielleicht die vielen Aufzählungen), allerdings führt es nirgendwo hin. Die Geschichte schockt an keiner Stelle, ist aber auch nicht melancholisch oder stimmt einen nachdenklich. Man bleibt am ende mit einem großen Fragezeichen zurück.

Nairy (30.05.2004)

Deine Beschreibungen sind wirklich sehr lebendig.
Du verwendest soviel Sorgfalt auf die kleinen,
nebensächlichen Dinge, die man nur sieht, wenn
man wirklich da und dabei ist, so daß der Leser sich
die Situation und die Umgebung sehr gut vorstellen
kann.
Ein wenig enttäuscht war ich allerdings schon, als
mir auffiel, daß die Handlung zwar sprachlich sicher
und kreativ geschildert wird, aber leider zu nichts
führt. Ich versuche mal, ein paar Gedankengänge
wiederzugeben: Ich habe mich gefragt: Haut er jetzt
etwa mit der Hure ab? Nein, sie setzt sich einfach
woanders hin. Passiert ihm vielleicht in der
Untergrundbahn etwas? Nein, er guckt nur. Was
wird Lena bloß machen, wenn er so spät und
angetrunken nach Hause kommt? Keine Ahnung,
denn das erfahren wir nicht.

Diese Geschichte macht den Mund wässrig und läßt
einen dann ein bißchen vertrocknen. Vier gewinnt in
diesem Fall, weil mir dein Stil so gefällt.


Trainspotterin (21.03.2003)

Ich kann mich dem verehrten Stefan nur anschließen. Wo ist der Plot des Ganzen...?
Mir sind zwei Stellen aufgefallen. Zum ersten der Satz: "Überall lockten gleißende Neonröhren mit Non-Stop-Sex, Peep Shows, billigen Pensionen und Pilsner, frisch vom Faß.", und zum anderen die Art, wie der Bahnhof beschrieben ist: "Die U-Bahnstation war schmuddelig, ein Asyl für Penner, Huren, Dealer und Junkies. Pornographische Zeichnungen und rechtsextremitische Parolen zierten die grauen Wände." Beide Sätze tauchen genau so wortwörtlich auch in einer anderen Geschichte von Dir auf und lassen in mir einen Verdacht hochkommen: Sitzest Du irgendwo, mit Notizblock und Kuli bewaffnet, und machst Dir Stichworte zu dem, was Du siehst - um es dann irgendwann in Geschichten zu verwenden? Denn irgendwie scheinen solche Millieustudien Deine Spezialität zu sein, Dein Blick fürs Detail spiegelt sich in allen Deinen Geschichten wieder.
Die Geschichte ist in sich unvollständig und lässt Spannungsbogen vermissen, doch das, was ich gelesen habe, ist stilistisch einwandfrei und hervorragend beschrieben.
4 Punkte


Gwenhwyfar (15.10.2002)

Keine wirkliche Handlung! Eigentlich mag ich diese "Fingerübungen für Schriftsteller" nicht. Mit Aufsätzen dieser Art wurde ich in meiner Schulzeit zur Genüge gepeinigt. Jaaa...wenns am Schluss WEITERGEHEN würde!!!
Denn die Schreibe ist gut. Alles perfekt beobachtet und geschildert ohne nervende Übertreibungen, blöde unnötige Füllwörter und störende Auslassungen. Der Erzählfluss behält stets das richtige Tempo, begleitet den Leser und zieht in sanft mit. Hier war ein Profi am Werk, das spürt man. Fehler in Ausdruck, Form und Aufbau habe ich umsonst gesucht. Ein kleiner Trost war das "Winzige" Happyend. sieglinde, was versteckst du zuhause? Her damit! Wer so schreibt, soll uns bitteschön auch längere Werke vorlegen. Ich bitt dich drum. Das Teil hier ist doch bloß das Intro zu einem ROMAN!!!


Stefan Steinmetz (23.03.2002)

Eine wirklich toll geschriebene Geschichte!
Man wird zu Anfang langsam in sie reingezogen und am Ende möchte man eigentlich nicht mehr aus ihr raus.
Die Stimmung der der Story wird dem Leser
einfühlsam nahgebracht.:-)


Robert Short (20.06.2001)

Klingt wie der Anfang eines Romanes, ich würde gerne mehr lesen, wie es denn weitergeht mit Mick... Die Beschreibungen sind einmalig!

SabineB (16.05.2001)

Kleines juwel städtischer menschlichkeit.

Dark Blaze (14.03.2001)

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