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2 Seiten

Genesis alla Serpente

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Auf der anderen Seite der Welt wachsen die Bäume in die Hölle und die Sünder kommen in den Himmel. Der Mond scheint am Tage und die Sonne erleuchtet die Nacht. Die Vögel schwimmen im Wasser, Fische fliegen durch die Luft und vernunftbegabte Lebewesen kriechen auf ihrem Bauche über den Dreck. Die Schöpfungsgeschichte erzählt man sich dort folgendermaßen:

Am Anfang schuf Gott Bäume und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über der Erde. Und Gott sprach: Es errege sich die Erde mit webenden und lebendigen Tieren, und der Fisch fliege auf Erden zwischen den Bäumen. Und Gott schuf allerlei Getier, das da lebt und webt, davon die Erde sich erregte, ein jegliches nach seiner Art, und allerlei gefiedertes Gevögel, ein jegliches nach seiner Art. Und Gott sah, daß es gut war.
Und Gott sprach: Lasset Uns ein Wesen machen, ein Bild das Uns gleich sei. Und der Herr formte die Schlange aus den Zweigen des Baumes und atmete den Odem des Lebens in ihre Nüstern, und die Schlange wurde lebendig. Und Gott segnete die Schlange und sprach zu ihr: Ich gebe Dir den Baum der Weisheit und Du magst dort wohnen und glücklich sein.

Der Teufel jedoch hatte Gott beobachtet und ärgerte sich über die Schöpfung Gottes. "Auch ich", sprach der Teufel, "möchte mir ein Wesen nach meinem Bild machen. Es soll listig und bösartig sein und es wird mir helfen, die Schöpfung Gottes zu vernichten."
Und der Teufel riß sich ein stinkendes Haar aus seinem Schweif und formte daraus den Menschen nach seinem Bild. Und der Teufel freute sich, denn er sah, daß es schlecht war.

Und Gott der Herr sprach zu der Schlange: "Mein Widersacher, der Teufel, hat ein Geschöpf geschaffen nach seinem Bild. Dieser Mensch ist listig und bösartig. Wenn er sich dem Baume der Weisheit nähert, so beiße Du ihn nur. Lasse ihn Dich fürchten und mache ihn Dir zum Untertan.
Hüte Dich aber davor, daß er nicht vom Apfel der Erkenntnis kostet, denn dieses wird ihm die Kraft geben, den Baum der Weisheit abzuhacken."

Und als sich der Mensch dem Baume der Weisheit näherte, schickte sich die Schlange an, den Menschen zu beißen. Der Mensch jedoch war listig und erkannte die Absicht der Schlange. Mit verstellter Stimme lispelte er: "Was für einen wunderschönen, schillernden Leib Du hast, meine liebe Schlange!"
Die Schlange betrachtete ihren Leib und sprach: "Nichts Außergewöhnliches kann ich erkennen an meinem Leibe."
"Wenn Du vom Apfel der Erkenntnis kostest," sprach der listige Mensch, "wirst Du Deiner Schönheit gewahr werden."
"Gott, mein Herr, hat es verboten." sprach die Schlange. Ihr schmeichelte jedoch die Rede des Menschen.
"Nur mir ist es verboten", sprach der bösartige Mensch, "vom Apfel der Erkenntnis zu kosten. Du magst ruhig soviel Äpfel essen, wie es Dich gelüstet."
"Der Apfel der Erkenntnis hängt gar allzu hoch. Auch habe ich keine Hände, um ihn zu ergreifen." sprach die naïve Schlange.
"Ich will ihn Dir gerne reichen." sprach der hinterlistige Mensch, pflückte den Apfel und tat einen herzhaften Biß. Und ehe sich die Schlange ihrer Dummheit besinnen konnte, hatte der Mensch den Baum der Weisheit bereits abgehackt.

Da zürnte Gott der Herr seinem Geschöpf, der Schlange, und sprach zu ihr: "Durch Deine Dummheit hast Du den Baum der Weisheit verloren. Von nun an sollst Du im Staube der Erde kriechen und die Füße des bösartigen Menschen werden Dich zertreten." Und die Schlange wand sich im Staube der Erde und floh den Fuß des bösartigen Menschen.
Der Mensch jedoch freute sich seiner List. Er schrieb ein dickes Buch und bezeichnete die Schlange als ein giftiges, bösartiges und hinterlistiges Geschöpf. Sich selbst aber pries er als das Ebenbild Gottes und die Krone der Schöpfung.

 
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Kommentare  

Ich bin fest davon überzeugt, daß es eigentlich nur so gewesen sein kann... wenn man sich heute mal so umschaut. Ich habe die andere Geschichte (die in dem großen alten Buch) sowieso immer einem allzu gutgläubigen Geiste zugeschrieben. Sehr schön!

Trainspotterin (22.01.2003)

Super! Einfach eine Superidee, die Schöpfung einfach umzukehren und dem Menschen die List anzulasten! Ich liebe so etwas, wenn die biblischen Überlieferungen einmal was ganz Anderes darstellen, wie die Kirche es tut! Volle 5!
[Sabine Buchmann]


Jurorenkommentare (03.05.2002)

Gratulation!
Besser geht's nicht. Diese Geschichte steht zurecht auf dem ersten Platz.


Gerhard Hübl (02.05.2002)

Vielen Dank für das Lesen und die Kommentare! Der zweite Absatz, "Am Anfang schuf?" stammt natürlich aus dem ersten Buch Mose in der Übersetzung Martin Luthers. Diese Sprache der Schöpfungsgeschichte hat eine epische Gewalt in ihrem archaischen Klang und ihrer ursprünglichen Bildhaftigkeit, die mich sehr fasziniert.

Rolf-Peter Wille (02.05.2002)

Die Genesis abstrusa von der anderen Seite der Welt. Whow! Das ist schlicht und ergreifend GENIAL!!! Sowas findet man nicht alle Tage auf www.webstories.cc
Die Geschichte ist mir volle 5 Punkte wert und eine SPITZE! von mir dazu.


Stefan Steinmetz (13.04.2002)

puh, weiß nicht, was ich von dieser Geschichte halten soll, interessant uminterpretierte Schöpfungsgeschichte, für meinen Geschmack zu religiös und moralisch.

christine (12.04.2002)

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