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3 Seiten

Das Haus der Stimmen

Fantastisches · Kurzgeschichten
© Laura
Er wachte auf. War er eingeschlafen?
Das Knacken seiner Gelenke, als er aufstand, hallte durch die langen Gänge. Türen zweigten in unregelmäßigen Abständen davon ab, große weiße Türen, kleine gelbe, eckige, schmale, getupfte und karierte.
Er blickte den Gang entlang. Soweit er sehen konnte, sah er Türen, nichts als Türen.
Er drehte sich um und sah in die andere Richtung, dort bot sich ihm derselbe Anblick. Gemurmel, von vielen Stimmen, die durcheinander sprachen, summte um ihn herum wie ein Schwarm Mücken. Manche flüsterte nur, andere schrieen, doch ohne, dass er Worte verstehen konnte.
Wo war er hier?
Vielleicht fand er jemanden, der ihm helfen konnte.
Hoffnungsvoll ging er zu einer der Türen in seiner Nähe. Es war eine kleine, blaugestrichene Tür mit einem weißen Türgriff. Dahinter konnte er eine Frau hören, die mit klarer Stimme ein Gedicht vortrug. Er erinnerte sich, das Gedicht schon einmal irgendwann gehört zu haben. Doch es fiel ihm nicht mehr ein wann und wo.
Vorsichtig drückte er die Türklinke herunter, um die Frau nicht zu stören. Vielleicht hörte ihr jemand zu, den er um Auskunft bitten konnte.
Leise zog er die Tür auf und warf einen Blick in den Raum dahinter. Stühle waren in Reihen aufgestellt. An den Wänden hingen Bilder und Bücher standen geordnet in Regalen. Auf dem Boden lagen zerknitterte Zettel und vereinzelt konnte er sogar leere Bonbonpapiere erkennen. Ansonsten war der Raum...
...leer.
Noch immer konnte er die Stimme vernehmen, die ununterbrochen ihre Verse aufsagte. Es war eine schöne Stimme, zweifellos und sie hatte noch nicht einmal einen Reim ausgelassen. Doch er konnte nicht verstehen, wie er die Stimme hören konnte, ohne dass jemand im Raum war. Es war ihm, als stünde die Sprecherin direkt neben ihm. Egal wohin er in dem Zimmer ging. Immer hörte er die Stimme der Frau direkt neben sich.
Wie war das möglich?
Vergeblich suchte er den Raum nach der Herkunft der Stimme ab, doch wieviele Bilder er auch von der Wand und wieviele Bücher er auch aus den Regalen riss, er fand nichts.
Verwirrt verließ er den Raum wieder und schloss die Tür hinter sich. Dann öffnete er sie noch mal schneller, doch das Bild des nun verwüsteten Zimmers hatte sich nicht geändert.
Entschlossen ging er zur nächsten Tür, eine weiße, mit grünen Streifen. Er konnte Kinderstimmen hören, die miteinander spielten und lachten. Ein unschuldiges, fröhliches Lachen, nicht so künstlich und freudlos wie das vieler Erwachsener.
Wieder öffnete er vorsichtig die Tür, nur um erneut einen menschenleeren Raum vorzufinden.
Diesmal befand er sich in einem Kinderzimmer. Puppen, Spielzeugautos, Bücher und Teile angefangener Puzzle waren zusammen mit anderem Spielzeug wild im Raum verteilt. Bunte Clownsgesichter grinsten ihn von der Tapete herunter an. Die Kinder lachten noch immer, doch es klang nicht mehr unschuldig, sondern höhnisch und schadenfroh. Er beeilte sich, die Tür wieder zu schließen.
Wo befand er sich hier? Er hörte Menschen, doch wo waren sie? Bildete er sich das ganze etwa nur ein? Erinnerte er sich daran, wie Kinder gelacht hatten? Wie Gedichte aufgesagt worden waren?
Er lief den Gang ein Stück weit hinunter. Hier konnte er Menschen hören, die sich stritten und anschrieen. Vereinzelt konnte er sogar das Klirren von zerbrechendem Glas hören. Er öffnete die Tür, bereit in Deckung zu gehen, falls ein Geschoss ihm zu nahe kommen sollte. Doch auch diesmal hatte er den Kopf umsonst eingezogen. Der Raum, den er betrat, war verlassen. Glas und Geschirr lag zerbrochen auf dem Boden. Bücher lagen halb zerrissen herum und in einer Ecke entdeckte er sogar ein zerfetztes Kissen, aus dem die Federn herausquollen.
Es schien ihm, als habe das streitende Paar das Zimmer gerade erst verlassen, als hätten sie ihre Stimmen vergessen, die sich einfach weiterstritten und sich die schlimmsten Anschuldigungen an den nicht mehr anwesenden Kopf warfen. Es versetzte ihm einen Stich diese Beschimpfungen hören zu müssen, da er sich daran erinnerte, wie er selber einmal einem einst geliebten Menschen solche harten Worte entgegen geschrieen hatte. Es wurde ihm zuviel und so stieß er die Türe wieder zu.
Wieder lief er den Gang entlang, öffnete Türen und schloss sie mit wachsender Enttäuschung wieder. Er versuchte mit den Stimmen in den Räumen zu sprechen, schrie sie an, forderte sie auf mit ihm zu reden, doch sie zeigten keine Reaktion auf seine verzweifelten Bitten. Je weiter er lief und je öfter er versuchte mit irgend jemanden zu sprechen, desto lauter und verworrener klangen die Stimmen. Sie schrieen nun, doch er verstand nicht was sie sagten. Er hielt sich die Ohren zu, doch die Stimmen drangen in seinen Kopf ein und hallten von seinen Schädelwänden wider. Er wollte heraus aus diesem Haus, diesem unendlichen Gang, weg von den bunten Türen, den weißen Wänden und dem ewig lärmenden Chor aus Stimmen.
Er wünschte sich wieder einschlafen zu können.
Oder aufzuwachen...?

Was ist Realität und was ist Traum? Schlafen wir alle und träumen, wir würden wachen?
 
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Kommentare  

Sehr philosophisch, hinterläst beim Leser einen interessanten Nachgeschmack.
Gefällt mir.


Drachenlord (13.01.2003)

Eine schön beschriebene Geschichte, zum nachdenken Gemacht!
Mir gefällt die aufklärende und gleichzeitig zum fragenstellen anregende Frage am Ende!


Schwarzer Reiter (31.07.2002)

Superschön! kann ich mir bildlich vorstellen! Toll beschrieben und regt zum Nachdenken an!

esmias (18.06.2001)

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