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Die Marionettenfigur - oder: Memoriam an Slatko, Lou Bega & Co

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
Nun hielt Elena den Brief in ihren Händen.
Dass sie mit ihm gerechnet hatte, hätte sie sogar vor Gericht bezeugen können. Es war offensichtlich, dass es vorbei war, die Beziehung aufgelöst wurde.
Sie wusste, was er beinhaltete. Obwohl sie ihn nur einmal kurz überflogen hatte, kannte sie jedes Wort, jedes Satzzeichen, sah alles ganz klar vor Augen. Die paar wenigen Standardsätze, die man schon an tausende Frauen vor ihr und wahrscheinlich noch etlichen nach ihr senden würde. Eine abgespeicherte Computervorlage, in der einfach das Adressfeld geändert und der Briefkopf mit einem neuen Datum versehen werden musste.
Wo und wie sie ihn geöffnet hatte, wusste sie nicht mehr. Auf jeden Fall brach sie weder in Tränen aus noch taumelte sie zu Boden, so wie es andere gemacht hätten. Es versetzte ihr keinen Stich. Ihr wurde nicht schwarz. Nichts rührte sich in ihr.

Noch immer tanzte ihr Lieblingssong aus den Boxen, noch immer blinkte die Anzeige der Stereoanlage, als sei nichts geschehen.
Ich bin wieder frei, dachte Elena und war alles andere alles glücklich.
Sie sass mit einem offenen Fotoalbum auf ihrer Couch und dachte an die Zeit davor. Führte ihre Augen von einem Foto zum nächsten, blätterte mit ihren Fingern sanft die Seiten um, so vorsichtig, als drohten sie bei Berührung zu Staub zu zerfallen. Polaraidsschnappschüsse eingeklebt neben professionellen Fotografien und bearbeiteten Digitalbilder. Ihre Vergangenheit. Zeugen von dem, das einmal war. Jetzt nur noch Erinnerung an einen vergangenen Traum, an ein scheinbar unendliches Glück.

Elena war sich von Anfang bewusst gewesen, dass es auch ihr passieren, sie treffen, eiskalt erwischen könnte. Doch wirklich damit gerechnet hatte sie nicht. Im berauschten Schweben war keine Zeit geblieben darüber nachzudenken, dass die Seifenblase vielleicht einmal mit einem letzten lauten Knall platzen würde. Dass die Scheinwerfer im finsteren Kinosaal plötzlich angingen und die Filmbilder auf der Leinwand im gleissenden Licht ertränkte. Genauso fühlte sie sich jetzt. Wie ein Kinofilm, dessen Abspann gerade verklungen war. Wie die Tageszeitung von gestern, die Wetterprognose der vergangenen Woche.

Jede Seite, die sie umblätterte, machte es ihr noch klarer, dass es endgültig war und keine Hoffnung auf einen Neubeginn bestand. Der Zug war abgefahren, die Schlusslichter verblassten bereits am Horizont. Er war abgefahren und hatte alle mitgenommen, die Elenas Leben bestimmt, ihr jede Entscheidung abgenommen hatten - den Lokomotivführer, den Fahrkartenkontrolleur und alle Fahrgäste, die Elena aus dem Gedächtnis strichen um auf der Festplatte wieder Platz für neue Bekanntschaften, neue Gesichter, neue Stimmen zu haben.
Die Marionettenfigur stand verwirrt und verlassen am Bahnsteig. Niemand mehr da, der sagte, was zu tun, wohin zu gehen sei.

Jetzt wusste Elena, wie es sich anfühlte, wenn Nebel aufstieg, grau und undurchdringbar; wenn Staub seinen Mantel über die Vergangenheit legte.
Wie still es ist, wunderte sich Elena.
Das Telefon schrillte nicht mehr, das Handy blieb stumm. Keine Kurzmitteilungen, die ihren Speicher füllten, sie nervös machten oder irgendwelche Neuigkeiten und dringende Nachrichten mitteilten. Sie legte das Fotoalbum auf den Designercouchtisch, der aus einer transparenten Glasplatten und einer komplizierten Konstruktion grauer Metallbeinen bestand.
Wo waren sie alle hin? All die Menschen mit den aussergewöhnlichen Vornamen? Den teuren Kleidern, dem gestressten, aber dennoch freundlichen Blick auf den Gesichtern. Zur nächsten Marionette? Fortgezogen mit den Wolken übers Meer zu einer neuen Insel, die sie bevölkern, zum Verkauf anbieten und zum ultimativen Urlaubsparadies mausern konnten?

Wie schnell Interesse sich legte.
Erst gestern noch die Shows, das Blitzlichtgewitter, heute allein in ihrer Penthousewohnung, Anrufen, Anfragen harrend, die nicht mehr eintrafen. Ratlos, haltlos war Elena, ohne Perspektive. Pläne für die Zeit danach hatte sie nicht geschmiedet, die Zeit danach hatte in ihren Gedanken nicht existiert. Gestresst war sie von einem Termin zum anderen gehetzt, durch ganz Europa gereist, hatte immer brav gelächelt, zu jeder Tageszeit gute Laune verbreitet und Fragen beantwortet. Hatte sich bemüht, alle zufrieden zu stellen und den Karren am Laufen zu halten. Kein Gedanken daran, dass die Marionette einmal aufwachen könnte, ihr eigenes Leben leben musste. War mit ihrem Angestelltentross auf ihrer rosa Wolke herum geschwebt, von Auftritt zu Auftritt, im ständigen Sonnenlicht stehend.

Die Musik klang ab, die CD hielt an.
Elena kniete auf den Boden, fuhr die CD heraus und verstaute sie in der Hülle. Riss blind die nächste Scheibe aus dem Tower und fütterte damit ihre Anlage. Sie atmete erleichtert auf, als die Melodie startete.
Sie brauchte Geräusche um sich, eine Klangwelt.
Auf dem Couchtisch der Brief. Das Todesurteil für die Marionettenfigur.
Hätte sie eine Schule besucht, wäre er blau gewesen. Aber in ihrer Branche waren Absagen nur unschuldig weiss. Farbpapier wurde ausschliesslich für Promotionszwecke verwendet. Bei Kündigungen achtete man nicht auf die Ästhetik.

Was sollte sie mit dem Papier anfangen? In einer Schublade verstauen, in ihr Fotoalbum kleben oder ins Altpapier werfen?
Dass sie den Brief kein zweites Mal lesen würde, das stand fest. Aber wäre der Brief später vielleicht die Erinnerung an das Ende ihrer Glanzzeit?
Den ersten Plattenvertrag hatte sie rahmen lassen und im Badezimmer aufgehängt. Genauso hatte sie es mit der ersten Goldenen Schallplatte gemacht, welche nun mit zahlreichen anderen Auszeichnung den Flur ihrer Wohnung zierte. Die meisten stammten noch vor den Flops, den Ladenhütern, die sie als letztes produziert hatte. Zuerst gleichgültig, voller Hoffnung, dann panisch vor dem nächsten Medienveriss im Tonstudio aufgenommen, den unaufhaltsamen Sturz vor Augen.
Elena war out, so einfach war das. Eine andere Marionettenfigur war besser, jünger, hübscher, cooler.
Da half kein anderer Produzent, kein neuer Manager oder Stylist. Ihr Haltbarkeitsdatum war abgelaufen. So wie ihre CDs zum Sonderpreis in den Aktionstruhen der Plattenläden verscherbelt wurden, nahm die Zahl der Auftritte rasant ab, aus Galaabenden wurden plötzlich Benefizkonzerte für unbekannte Organisationen, aus Limousinen Rostkübel, aus Hochglanzmagazinen Schülerzeitungen, bis eines Tages der Terminplaner sie nur noch mit einem Gähnen anblickte.

Das ist der Lauf der Zeit, hatte der Manager tröstend gesagt.
Es kommen bessere Zeiten, die Chefin der Plattenfirma und dann, als die Einnahmen noch weiter in den Keller stürzten, hatte sie Elenas Nummer aus ihrem Handyspeicher gelöscht und damit die tiefe Freundschaft zum gefallenen Star. Die Fans vergessen schnell und Journalisten noch schneller. Interviewanfragen blieben aus, Fanpost traf immer spärlicher ein. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch diese Quelle endgültig vertrocknete.

Elena starrte den Absender des Briefes an.
Wie sie damals aufgeregt war, als der erste Brief der Plattenfirma eingetroffen war. Mehrmals hatte sie die Zeilen Wort für Wort durchgelesen und den Inhalt doch nicht glauben können. Eine der grössten Plattenfirma wollte sie unter Vertrag nehmen. Stolz hatte sie ihn ihren Freundinnen gezeigt, die am Anfang begeistert, später, als die Karriere in die Gänge kam, neidisch waren und sich dann allmählich verdrückten. Aus welchen Gründen auch immer. Elena hatte für sie keine Zeit mehr gefunden. Keine Zeit, um mit ihnen zu telefonieren, ins Kino zu gehen, Kurzmitteilungen auszutauschen oder mit ihnen eine Shopingtour zu machen. War das jetzt die Strafe?

Da gab es niemanden mehr, den man anrufen konnte. Da war keiner, den man um Hilfe bitten konnte. Da gab es nur die Designerwohnung mit einem grossen Balkon in einem Prominentenviertel, der teure Wagen auf einem gemieteten Parkplatz, die ausländischen Markenkleider, die Ersparnisse auf dem Konto und die Erinnerung an das, das mal war. Die Karriere hatte keine Beziehung, keine Schwangerschaft zugelassen. Keine Schulter, an der sie sich jetzt anlehnen, über die Vergangenheit sprechen konnte. Elena war sich sicher, dass dann alles viel leichter gewesen wäre. Dass ihr das geholfen, einen Sinn gegeben hätte.

Ich bin immer für dich da. Wie oft hatte sie diese Worte in Briefen voller Verehrung und Anbetung gelesen und dabei etwas spöttisch gelächelt?
Die Briefe gammelten jetzt im Keller vor sich hin. Die Verfasser hatten das Teenagealter längst hinter sich gelassen und damit auch die Verehrung schillernder Popikonen. Die Zeit hatte die Starposter von den Wänden gerissen und anderen Idealen Platz gemacht. Alles war nur für den Moment und vergänglich wie Wolkenbilder am Himmel. Über Nacht hatte man den Scheinwerfer ausgeschaltet und Elena in den Schatten gestossen. Unsanft und direkt. Hatte man gestern noch jeden ihrer Schritte verfolgt, hätte sie sich heute aus dem Fenster stürzen können, ohne dass jemand davon Notiz genommen hätte.

Ihre Finger umklammerten den Brief. Jetzt war es wenigstens endgültig. Das Schweben hatte ein Ende. Schwarz auf Weiss. Das war es also, das man Absturz nannte. Erwartete man nun von ihr, dass sie sich in den Alkoholismus stürzte, drogenabhängig wurde, einen Selbstmordversuch unternahm? Dass sie sich einen Millionär angelte, mit Plattenproduzenten ins Bett stieg, sich noch mehr prostituierte?
Sie hätte es so machen können. Sie wusste, wie der Hase lief, das Geschäft war. Oft genug hatte sie die anderen beobachtet, wie sie verzweifelt ein Rettungsboot suchten, gegen die Fluten ankämpften, panisch nach Luft schnappten, um eine letzte Insel zu erreichen, auf der sie ihren Lebensabend verbringen konnten und sich nicht mit finanziellen Sorgen quälen brauchten. Angst davor, selber entscheiden, bestimmen, wählen zu müssen.

Auf das würde sich Elena nicht einlassen. Daran konnte sie ihr Leben nicht aufhängen. Die Zeit der Prostitution, der Hurerei war vorbei. Kein Ausführen mehr von Befehlen, von Aufträgen, Beachten von Regeln, kein Aufsagen von auswendig gelernten Sätzen. Das war Vergangenheit. Sie war nicht mehr das 17jährige Mädchen aus der Provinz, das von einer grossen Karriere träumte. Sie war gekennzeichnet. Begraben die Naivität, gestorben die Leichtgläubigkeit. Sie hatte gelernt. Jeden Tag um eine Erfahrung reicher. Auch Marionettenfiguren haben Seelen.

Elena war frei. Sie allein trug nun die Verantwortung. Ein selbstständiger Mensch und keine Marionette. Jetzt lag alles an ihr. Ob sie das beste daraus machte oder sich hinwarf. Die Kündigung hatte die Fäden durchgeschnitten. Mit einem einzigen Schnitt die Verbindung gekappt. Sich von ihr losgesagt, getrennt. Ihr die Freiheit geschenkt. Elena schloss die Augen. Da gab es keine Schnüre mehr. Ihr Atem ging schneller. Ein Kribbeln im Bauch. Da war keine Chefin mehr, die dirigierte und kommandierte. Elena zerriss den Brief in tausend Stücke, liess die Fetzten durch ihre Finger rieseln, lächelte. Niemand mehr da von der Chefetage, von den Experten. Die Schnüre waren zerrissen.
Und die Marionettenfigur, sie rennt mit grossen Schritten davon. Ohne sich einmal umzudrehen. Erst zaghaft, dann tollkühn. Hinaus in die Freiheit.
 
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