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6 Seiten

Die Liebe des John O'Groats

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
"Andrea Dolan", meldete sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Er zuckte bei ihrem Klang unbewusst zusammen. Sie war so nah, als säße sie im Zimmer nebenan. Aber er wusste, dass das nicht sein konnte.
"Hallo?", erklang die Stimme erneut. "Wer ist da?"
Er schluckte heftig.
"Ich kann ...", begann er. Die Hand, in der er den Hörer hielt, zitterte unkontrolliert.
"David? ... David bist du das?"
Der Hörer fiel polternd zu Boden und er starrte ihn ungläubig an. Dumpf konnte er noch seinen Namen hören, untermalt mit einem Flehen, das er sich vielleicht auch nur einbildete, sich unbewusst wünschte. Er griff mit der anderen Hand nach dem Hörer und legte ihn auf. Warum konnte es nicht einfach vorbei sein? Während er sich mit der Hand durch die Haare fuhr, konnte er dabei nicht anders, als sein Antlitz im Spiegel vor sich zu betrachten. Sein kurzes Haar war fettig und stand in alle Richtungen ab. Es war jetzt dunkelbraun, einige graue Strähnen hatten sich mittlerweile eingeschlichen. Er konnte sich noch daran erinnern, wie es im Sommer manchmal golden geglänzt hatte. Damals hatte er es länger getragen. Erinnerungen, die schon ewig zurückzuliegen schienen. Vielleicht taten sie das ja auch; er wusste es nicht mehr genau. Sein Gesicht war eingefallen, entsetzlich schmal, so dass die Wangenknochen hervortraten. Er sah noch ausgemergelter aus, als er es mit 19 Jahren schon getan hatte. Damals konnte er sich kaum einen Bissen Essen leisten, heute wollte sein Körper einfach keine Nahrung mehr aufnehmen. Seine Augenfarbe war das einzige, was sich nicht verändert hatte. Sie waren blau - nicht blau wie das Meer und nicht blau wie der Himmel, oder sonst irgend etwas Vergleichbares, sondern er hatte einfach nur ganz normale blaue Augen, die ihn bitter anblitzen für das, was er Andrea antat.
"Ich kann nicht mehr", flüsterte er seinem Spiegelbild zu, dabei stand er mit so einer gewaltigen Bewegung auf, dass der Stuhl nach hinten wegkippte. Und ohne groß darüber nachzudenken, erfasste er die Schnur des Telefons und zog sie mit einen gewaltigen Ruck aus der Wand, so dass die Buxe halb mit herausgerissen wurde und Putz auf den Boden rieselte. In seiner Verzweiflung packte er das Telefon und schleuderte es durch den Raum. Ja, er hatte noch Kraft - und die konnte ihm keiner nehmen; damit konnte er tun was er wollte. Jetzt, in diesem Moment, wollte er Dinge zerstören. Ihm war einfach danach. Wen interessierte es schon, was er tat?
Er begann leise zu kichern, als sein Blick über die Überreste des Telefons wanderte und lachte schließlich lauthals heraus. Er entledigte sich damit so ziemlich allem, was sich in den letzten Monaten angestaut hatte; er lachte so sehr, dass es seinen dürren Körper schüttelte. Mit schmerzerfülltem Gesicht suchte er einen Moment nach Halt. Nicht einmal mehr herzhaft lachen konnte er. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Angst und vor allem mit Hass.
"Muss nicht jeder Reiz enden, rührt dran Philosophie mit kalten Händen?", brüllte er lauthals in Richtung Fenster, als würde jemand draußen stehen und ihm zuhören.
"Ich hasse dich, John Keats! Ich hab dich schon immer gehasst!" Seine Augen waren weit aufgerissen und er drohte der Fensterscheibe mit dem Zeigerfinger, bis sein Blick irritiert auf seine ausgestreckte Hand fiel. Er hatte sich gerade bei seinem eigenen persönlichen Wahnsinn ertappt; das Zittern seines Körpers setze erneut ein. Seine Gesichtszüge bebten unter dem schwachen Versuch, den aufsteigenden Schmerz zu unterdrücken. Dann brach er schluchzend zusammen, saß einfach auf dem Boden und ließ nun das Selbstmitleid seinen Körper durchfließen.
Erst nachdem die letzten Schatten das Sonnenlicht vollkommen dominierten, kam er wieder zu sich und stand auf. Er erinnerte sich nicht wirklich daran, was passiert war, ging auf erschöpften Beinen auf die Tür zu und verließ das Zimmer. Auf dem Weg die Treppe hinunter traf er die Vermieterin, die ihn mit einem besorgten Blick musterte.
"Geht es Ihnen gut, John?", erkundigte sie sich vorsichtig. Sie hatte Lärm aus seinem Zimmer gehört, sich allerdings nicht getraut nachzusehen, ob auch wirklich alles mit ihm in Ordnung war.
"Es ging mir noch nie besser." Er setzte ein schiefes, jungenhaftes Lächeln auf, das sein krankes, faltiges Gesicht ein wenig aufhellte. Noch bevor er eine weitere Bemerkung entgegen nehmen konnte, hatte er das Haus verlassen und trat ihn die erfrischende Nachtluft hinaus.

Die Sterne glitzerten über der schottischen Nordostküste und die Sichel des Mondes wies einem tanzenden Schatten den Weg, der mit ausgestreckten Armen die Straße entlang balancierte, wie ein Artist auf dem Hochseil. Er murmelte dabei weitgehend vor sich hin, wobei er öfters angestrengt nach Luft schnappte.
"Philosophie ...", hustete er mühevoll. "Fuck! Philosophie stutzt selbst der Engel Schwingen." Er drehte sich dabei im Kreis und streckte die Arme von sich.
"Einst stand am Himmel stolz der Regebogen!", schrie er in die kühle Luft hinaus, dabei bildete sich eine kleine Kondenswolke vor seinem Gesicht. Jetzt lachte er fröhlich wie ein Kind, als ihm erneut - aber eher unzusammenhängend - die Verse von John Keats durch den Kopf schossen. Jene, die ihm vor ein paar Stunden noch so verhasst gewesen waren. Die Realität nahm langsam Abschied von ihm.

Er hatte Andrea das erste Mal am Flughafen in Philadelphia gesehen. Sie kam von der Gepäckausgabe, ging zügigen Schrittes an ihm vorbei und musterte ihn flüchtig. Aber er, er hatte bereits ein halbes Gedicht für sie im Kopfe geschrieben, als sie ihm schon den Rücken zugewandt hatte und rannte ohne weiter zu überlegen hinter ihr her.
"Hey, hey warten Sie doch!", hatte er gerufen und sie war tatsächlich stehen geblieben.
"Kennen wir uns?", war das erste, was sie ihn gefragt hatte, als er schüchtern lächelnd vor ihr stand. Er hörte die Worte so deutlich in seinem Kopf, als wäre das Ganze erst vor fünf Minuten passiert. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte und blieb mit den Schultern zuckend vor ihr stehen. Und dann tat er etwas total Unromantisches und gab ihr seine Visitenkarte, drehte sich um und verschwand. Dafür hätte er sich selbst am liebsten geschlagen. Vor allem hätte er sich selbst niemals angerufen, aber sie, sie hatte es getan. Damals, da war er gerade Jack. Aber für sie war er immer David gewesen, so wie ihn auch seine Eltern gerufen hatten. In seinem Leben hatte er schon so viele Identitäten gehabt. Als er Andrea kennen lernte, wollte er eigentlich damit aufhören. Es spielte auch nicht wirklich eine Rolle, erst als er Eric wurde, da hörte alles ganz schlagartig auf. Doch davor war sein Leben perfekt. Obwohl perfekt doch ein wenig geschummelt war. Er liebte Andrea und er wusste auch, dass sie ihn liebte. Aber trotzdem hatte er nicht nur Probleme, seine Liebe zu zeigen, die ohnehin etwas schräg war - nein, er hatte auch das Gefühl, dass ein Teil von ihr niemals ihm gehören würde, und er hatte Angst, diesen Teil von ihr zu fordern. Sie hatte den Ausdruck eines wilden Tieres in ihren Augen; dieser Ausdruck war in ihrem Charakter versteckt und sie ließ ihn nur selten wirklich in diesen Teil ihrer Persönlichkeit hineinblicken. Manchmal glaubte er, sie schämte sich dafür. Dennoch sagte sie ihm, wie sehr sie ihn liebte und er konnte auch in ihren Augen lesen, wie tief ihre Gefühle für ihn waren. Noch nie hatte sie jemanden so innig geliebt. Aber er durfte ihr kein Auto kaufen, kein Appartement, kein Haus; nur Gedichte, die durfte er ihr schreiben - egal, wer er gerade war. Sie kannte alle seine Identitäten, weil sie alles über sie wissen wollte; jedes Detail, mit denen er sie zum Leben erweckte. Bis Eric ins Spiel kam. Der Todesengel Eric, der eigentlich nichts weiter war als eine neue Zeitmarke in seinem Leben. Die Marke, an der er aufhörte, Andrea seine Gedanken mitzuteilen. Der Punkt, an dem er nicht mehr in der Lage war, ihr in die Augen zu schauen. Sie hatten schon so oft über den Tod gesprochen, denn als es ihn noch nicht selbst betroffen hatte, war es anders gewesen darüber zu reden. Sie waren so romantisch und dachten damals, sie würden gemeinsam Arm in Arm Abschied nehmen, in den Dünen von John O'Groats. Das wünschte er sich auch jetzt noch von ganzem Herzen. Deswegen war er auch hierher nach John O'Groats gekommen - um zu sterben. Er kam als John. Den John hatte er immer am liebsten gehabt. Er war auch krank gewesen, aber nicht so krank wie er jetzt. Das unterschied sie immer noch, aber er dachte, dass es John wahrscheinlich etwas bedeutet hätte. Aber Andrea war nicht bei ihm. Sie war viele tausend Meilen von ihm entfernt. Er hatte ihr gesagt, dass er mit dem Team nach Indien gefahren war. Das lag jetzt drei Monate zurück. Aber er war die ganze Zeit hier gewesen, hatte jeden Abend am Strand verbracht, die vorbeiziehenden Wale am Horizont beobachtet. Heute kam er ein letztes Mal in die kleine Bucht.

John saß am Meer und spielte mit der Plastikdose in seinen Händen. Er hatte Angst, aber er wusste, dass die Wirkung der Tabletten stärker war. Bald würde er nichts mehr fühlen, dann war es vorbei. Er zog sich die Schuhe aus, ein Paar ausgetretene Adidasschuhe. Nichts besonderes, aber es waren trotzdem seine Lieblingsschuhe. Was er nicht liebte, war die Dose mit den Tabletten. Er warf sie hinter sich in den Sand. Und ohne sich noch einmal umzudrehen, ohne einen weiteren Gedanken an den Abschied, ging er ins Wasser. Es war kalt, viel kälter als er angenommen hatte. Und es war dunkel, tiefschwarz. Nur die Oberfläche glitzerte silbern in der Ferne, dort wo das Licht der Mondsichel auf die ruhige Wasseroberfläche fiel. Diesem silbernen Weg wollte er folgen, bis an sein Ende. Seine Kleidung saugte sich bei jedem Schritt, den er vorwärts ging, mit Wasser voll, zog ihn dabei nach unten - und trotzdem begann er zu schwimmen. Er keuchte und fühlte, wie seine Glieder durch die Kälte taub wurden, doch er schwamm weiter hinaus. Er wehrte alle Gedanken ab, die ihn aufhalten konnten. Besonders weit kam er allerdings nicht. Seine Kräfte schwanden rasch und er machte nur noch krampfartig einige schwere Bewegungen mit den Armen nach vorne. Schließlich ging er unter wie ein Sack, der sich mit Wasser voll saugte. Was er nicht einmal schlimm fand, denn er hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, als wäre er nicht allein, als sei jemand bei ihm, um ihn zu beschützen. Das änderte sich auch nicht, während er in die Tiefe sank. Für ihn war es, als wäre Gott um ihn herum, irgendwo in der Dunkelheit. Er blickte vor sich und hatte sogar das Gefühl, seinen grauen Schatten durch die Dunkelheit gleiten zu sehen. Aber als ihm die Luft auszugehen drohte, ergriff ihn letztendlich doch die Panik. So angenehm wie er es sich vorgestellt hatte, war das Ertrinken nicht. Niemand, der ihm zur Seite stand und ihm ein Gefühl der Geborgenheit gab. Alles war kalt und schwarz, und das Gefühl atmen zu müssen, unerträglich. Er strampelte wild mit den Beinen und ruderte mit den Armen, so dass Luftblasen nach oben stiegen. So wollte er nicht sterben und instinktiv griff er nach vorne, bekam etwas zu packen und wurde plötzlich nach oben gezogen. Sein Gott hatte erstaunlich viel Kraft.

Jemand rüttelte an seinem ausgekühlten Körper und sprach zu ihm. John blinzelte, aber es war noch immer Nacht, und er war noch am Leben. Bunte Farben flackerten zwischen den Sternen über den Himmel. Den Mann, der neben ihm stand und mit einem starken schottischen Dialekt zu ihm sprach, erkannte er nicht. Er starrte nur nach oben.
"Andrea schau", flüsterte er mit halb erstickender Stimme und versuchte sich aufzurichten, aber er konnte kein Glied rühren. Alles war taub, so als wäre sein Körper schon tot und nur seine Seele noch in ihm gefangen.
"Das wird schon wieder mein Freund" Der Schotte klopfte ihn auf die Schulter, war sich aber nicht wirklich sicher, ob der Mann, der dort im Sand lag, die nächsten zwei Minuten überstehen würde. Etwas Endgültiges lag in der Luft.
"Ich kann den Regenbogen sehen, Andrea. Er ist so ... so wunderschön!" Bei diesen Worten blickte John den Schotten verträumt an, so lange bis der letzte Glanz der Freude aus seinen Augen erloschen war.
"Die Nordlichter sind in der Tat eine Herrlichkeit für sich", war alles, was dem Schotten noch einfiel, während er mit einer sanften Bewegung die Augen des Mannes schloss. Bis die Sonne aufging, blieb er neben dem Leichnam sitzen, schaute in den Himmel und hielt Totenwache.

Copyright by Mes Calinum, July 2002

Verszeilen aus John Keats "Lamia" von 1897
 
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Kommentare  

Hallo Susan,

vielen lieben Dank für deinen Kommentar.
Ich weiß nicht, ob jemals zu John O'Groats ein Gedicht geschrieben wurde, von John Keats nicht - soweit ich weiß. John O'Groats ist der Name für den Nordostzipfel der schottischen Küste, dem Ort an dem John am Ende meiner Story stirbt. :) Ein Ort, der immer noch einer der schönsten ist.


Mes Calinum (08.03.2004)

Die Geschichte fesselt von Anfang an. Aber nicht jeder (eigentlich eher so gut wie niemand) kennt Keats, deshalb sollest du ein paar Zeilen aus John O'Groats einstreuen. Dann wäre es perfekt. Trotzdem schon mal 5 points.

Susan (08.03.2004)

Schön traurig geschrieben.
Man vermutet, was mit deinem Prota nicht stimmt, aber etwas mehr Hintergrundinfo wäre klasse.
Deshalb einen Punkt abzug, bleiben vier.
Ach übrigens, bearbeite doch bei Gelegenheit die Satzzeichen.
Diese ganzen Fragezeichen sind beim lesen sehr verwirrend.


Drachenlord (07.05.2003)

Traurig und anrührend. Schöne Geschichte.

Stefan Steinmetz (29.08.2002)

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