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6 Seiten

1. Roy Rapperpotz und das verbotene Tor

Fantastisches · Kurzgeschichten
Roy war ein kleiner schüchterner Junge mit blonden strubbeligen Haaren und einer seltsamen schwarzen Strähne darin, die jeden Morgen beim Aufstehen dermaßen zerzaust war, dass er immer länger als all die anderen Jungen im Badezimmer brauchte. Doch so sehr er sich auch anstrengte, so oft er auch hindurch kämmte, er konnte diese Strähne nicht besiegen. Sie stand von seinen Haaren ab wie ein störrischer Esel, der nicht hören will. Alle anderen Kinder - besonders Greg, der größte Junge im Waisenhaus St. Jones - lachten ihn aus deswegen. Und gerade heute war die Strähne noch widerspenstiger als sonst. So sehr er sich auch mühte, so oft er auch versuchte, sie flach an seinen Kopf anzuschmiegen, immer wieder stellte sie sich auf und trotzte jeder Bewegung seines Kammes, so als ob sie sich heute ganz besonders her-vortun wollte, als ob es heute einen ganz besonderen Grund dafür gäbe.
Von außen pochte bereits Greg an die Tür. „He, Rapperpotz! Roy Rapperpotz! Wenn du nicht gleich raus kommst, dann kannst du für immer drin bleiben.“
Um seine Worte zu betonen, stieß er noch einmal kräftig mit dem Fuß gegen die Tür. „Hast du mich verstanden, Rapperpotz?“
Roy packte hastig seine Sachen zusammen. Er hasste es, so genannt zu werden. Immer wieder hänselten ihn die Kinder wegen seines Namens. Rapperpotz. Roy Rapperpotz. Dies war wirk-lich ein sehr seltsamer Name. Roy Rapperpotz. Doch solange er denken konnte, hieß er schon so. Und ebenso lange lebte er schon in diesem Waisenhaus, weit außerhalb der Stadt, zusam-men mit vielen anderen Kindern, die kein zu Hause mehr hatten. Er wusste nicht, wer seine Eltern waren, noch wusste er, wo er hingehörte. Keiner hier konnte ihm dies sagen und keiner wusste, wie er eigentlich in dieses Waisenhaus gekommen war, nicht einmal Direktor Finlox.
Roy öffnete die Tür und schaute vorsichtig hinaus. Von der Seite packte ihn Greg und zog ihn aus dem Bad. „Rapperpotz, du siehst aus wie ein Struwwelpeter. Was hast du eigentlich die ganze Zeit da drin getrieben?“ Er stupste ihn in die Seite. „Wegen dir werden wir noch alle zu spät zum Frühstück kommen!“ Er schob Roy zur Seite und ging lauthals brüllend ins Bad.
Im Frühstücksraum waren bereits alle Kinder versammelt. Der Direktor, Herr Finlox, ein fins-ter dreinblickender knorriger Mann, schritt vor der Reihe der Kinder entlang. Bei jedem hatte er etwas auszusetzen: „Steck dein Hemd richtig rein, Peter. Kopf hoch, Martin. Michael, putz deine Schuhe.“ Kurz vor Roy stoppte er seinen langsamen und schleppenden Gang und schüt-telte den Kopf. „Rapperpotz, Rapperpotz. Du wirst es wohl nie lernen. Schau dich an. Weißt du, wie du aussiehst? Wie ein Kind von der Straße. Was soll nur aus dir werden?“ - „Aber..“, versuchte Roy sich zu verteidigen. „Kein aber“, unterbrach ihn Finlox. „Jeden Morgen hast du die gleiche Ausrede. Du gehst sofort in den Keller zu Morella und lässt dir deine Haare schneiden, ist das klar?“
Die Kinder im Saal verstummten. Jeder fürchtete sich vor Morella. Sie war eine alte seltsame Frau, die im Keller von St. Jones hauste und nur selten ins Haus - geschweige denn in den Garten - kam. Einige behaupten sogar, sie wäre eine Hexe und hätte schon etliche kleine Kin-der verhext. Alle Kinder, sogar Greg! hatten Angst vor ihr und jeder im Saal war froh, nicht an Roy’s Stelle zu sein.
Finlox stand wartend vor Roy und musterte ihn scharf. Roy drehte sich um und verließ den Frühstückssaal. Was sollte er tun? Was sollte er sagen? So hungrig er auch war, er musste sich fügen. Und da er zwar klein und schüchtern, aber keinesfalls feige war, schritt er die kal-ten Stufen hinunter in den Keller zu Morella. Doch eigenartigerweise - je tiefer er kam, desto weniger Angst hatte er. Obwohl er im Halbdunkel nicht viel sah, so kam ihm die Umgebung sogar irgendwie bekannt vor. Nur ein- oder zweimal war er in diesem Keller, aber so richtig konnte er sich gar nicht mehr daran erinnern, auch nicht an Morella, doch er spürte das eigen-artige Gefühl, schon sehr oft hier gewesen zu sein. Er konnte es sich nicht erklären. Er kam in einen Raum, der durch ein Kaminfeuer hell erleuchtet war, so dass er an den Wänden Regale mit seltsam anmutenden Gläsern sehen konnte. In der Mitte stand ein großer Holztisch mit vier Stühlen daran. Vor dem Kamin stand gebückt eine Frau mit grauem, wallendem Haar. „Komm ruhig näher, Roy Rapperpotz. Ich habe schon auf dich gewartet. Du solltest eigentlich schon längst hier unten sein, schon seit Wochen. Was hat dich aufgehalten?“ Roy wusste nicht so recht, was er erwidern sollte. „Direktor Finlox hat mich eben erst hier herunter ge-schickt. Sie sollen mir meine Haare schneiden.“ - „Finlox, dieser Trottel“, erwiderte Morella empört. „Haare schneiden. Ist das sein einziges Problem? Haare schneiden? Der hat keine Ahnung von dem, was hier wirklich vor sich geht. Setz dich Roy.“
Neugierig schaute sich Roy im Raum um. Als er sich setzte und wieder zum Kamin schaute, war Morella jedoch verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Er schaute in jede Ecke und jede Richtung, doch er konnte sie nicht mehr sehen. Er war ganz alleine. Dort saß er nun und wartete und wusste nicht, was er tun sollte. Es saß dort bestimmt bis Mittag, doch es ge-schah nichts. Morella war verschwunden und kam nicht wieder zurück. So wartete er weiter, bis es schon fast dunkel war, denn Direktor Finlox hatte ihm eindeutig erklärt, dass er ohne einen neuen Haarschnitt nicht aus dem Keller zu kommen brauchte. Zum Glück fand er in einem Regal ein paar Äpfel und einen Kanten Brot. Damit stillte er seinen Hunger, und er leerte für seinen Durst einen Krug Wasser, der auf dem Tisch stand. Doch allmählich wuchs in ihm die Sorge, dass Morella heute gar nicht mehr zurückkommen würde.
Da erklang plötzlich eine leise, schnurrende Stimme. „Königliche Hoheit! Ein Glück, dass ich Euch gefunden habe.“ Roy schaute sich um. Es war niemand zu sehen. In der Ecke saß nur ein schwarzer Kater mit einigen weißen Haaren an der Kehle. Sonst war niemand da. Aber woher kam dann diese Stimme, die ihn mit königlicher Hoheit ansprach?
„Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie lange ich Euch gesucht habe, Euer königliche Hoheit. Endlich habe ich Euch gefunden! Miau.“
Tatsächlich - es war der Kater, der zu Roy sprach. Roy konnte kaum seinen Augen und Ohren trauen. War dies hier etwa eine Hexenküche mit sprechenden Tieren? „Ihr müsst mir helfen. Ihr seid meine letzte Hoffnung. Ihr seid unsere letzte Hoffnung.“
„Bist du das, der zu mir spricht?“, fragte Roy ungläubig den schwarzen Kater. „Ja, natürlich bin ich es“, erwiderte der Kater und stellte sich dabei auf die Hinterpfoten. „Erkennt Ihr mich denn nicht?“ - „Nein. Wer bist du denn?“, fragte ihn Roy erstaunt. „Ich bin’s, Racket. Euer treuer Freund Racket. Aber ja, ich hätte es mir denken können. Ihr erkennt mich nicht in die-ser Tiergestalt. Ich vergesse immer wieder, dass ich ein Kater bin“, sprach der Kater und sprang über einen Stuhl auf den Tisch. - „Sollte ich dich kennen?“, fragte Roy immer erstaun-ter. „Oh, ja. Natürlich. Wir sind die besten Freunde. Erinnert Ihr Euch nicht? Ihr müsst Euch doch erinnern. Wir waren jeden Tag zusammen. Ihr wisst schon, damals in Traumania. Bis dieser Regen kam und unsere Welt zu zerfallen begann.“ - „Wovon sprichst du da? Ich kann mich an keinen Regen erinnern.“ - „Ihr wisst wirklich nichts davon? Ihr habt alles vergessen! Oh, wir müssen uns beeilen. Wir müssen zurück in unsere Welt, bevor es zu spät ist, wenn es nicht jetzt schon zu spät ist.“ Roy war sehr aufgeregt. „In unsere Welt? Du weißt, woher ich komme?“ - „Ja, natürlich weiß ich es.“, schnurrte Racket und griff mit einer Pfote nach einem Apfel, der achtlos auf dem Tisch lag und biss genussvoll hinein. „Ihr seid Roy Rapperpotz, der jüngste Spross der königlichen Familie Rapperpotz aus dem Land Traumania.“ Racket verneigte sich, auf den Hinterbeinen stehend und mit dem Rest des Apfels in der Pfote, tief vor Roy und zeigte dann mit der anderen Pfote auf seine strubbeligen Haare. „Und seit dem Regen habt Ihr auch diese schwarze Strähne, die Euch übrigens sehr gut steht, meint zumin-dest Romi. Na ja. Da kann man wohl geteilter Meinung sein.“ - „Romi?“, fragte Roy erneut sehr aufgeregt, denn nun schien er sich doch an etwas zu erinnern. „Sagt bloß, Ihr habt auch Romi vergessen? Oh, wir müssen uns wirklich beeilen. Folgt mir!“ Racket ließ den Apfelrest auf den Tisch fallen und lief zu einer Seitentür in der hinteren dunklen Ecke des Raumes. Roy hatte sie vorher gar nicht wahrgenommen, doch als sie nun hindurch traten, standen sie plötz-lich mitten im Garten hinter dem Waisenhaus. Der Kater Racket lief bis zu der Hecke mit den buschigen Hainbuchen am anderen Ende des Gartens. Als er unter der Hecke hindurch schlüpfen wollte, stockte Roy: „Wir dürfen nicht hinter die Hecke. Direktor Finlox hat uns streng verboten, dahinter zu gehen.“ - „Vergesst Direktor Finlox, Roy. Wir werden bald zu Hause sein. Kommt schon!“
Aus irgendeinem Grunde – auch, wenn sie sonst überall durch das Gelände stromerten - hiel-ten sich doch alle Kinder aus dem Waisenhaus von dieser Hecke fern. Es kam ihnen nie in den Sinn, dieses Verbot zu missachten. Auch Roy beschlich nun ein unangenehmes Gefühl, das er nicht so recht beschreiben konnte. Doch mutig folgte er dem Kater, der sich Racket nannte, und das seltsame Gefühl wich schnell einem neuen, wunderbaren, einem, das er nie zuvor erlebt hatte. Doch er meinte es zu kennen aus Büchern, die er gelesen hatte. Es war das Gefühl der Heimat, das Gefühl, nach Hause zu kommen. Mit pochendem Herzen lief er Ra-cket nach und zwängte sich durch die Hainbuchen.
Hinter der Hecke, neben großen Haselnusssträuchern verborgen, lag ein kleiner Pavillon. Die Mauern waren bereits vergilbt, und der Putz bröckelte von den Wänden. Der Eingang war gerade groß genug, um Roy problemlos hindurch zu lassen. Racket wartete ungeduldig auf ihn und tippte dann mit seiner Pfote gegen einen Stein in der Wand, auf dem ein Symbol, zwei quere gekreuzte Striche, eingeritzt waren. Ein seltsames Licht erstrahlte plötzlich und erhellte den gesamten Pavillon. Fast im selben Augenblick erklang eine tiefe Stimme direkt vor ihnen: „Wer stört die Ruhe des Wächters des verbotenen Tores?“ - „Miau. Ich bin es, Ra-cket“, hauchte der Kater sanft und ehrerbietig. „Ach, du bist es schon wieder. Du wirst es wohl nie aufgeben. Hast du das Rätsel gelöst?“ - „Nein“, antwortete Racket etwas verärgert, „aber ich habe einen Freund mitgebracht, ein Mitglied der königlichen Familie, siehst du? Es ist Roy Rapperpotz.“ - „Hm. Ja. Ich sehe. Es ist wirklich Roy Rapperpotz. Er trägt die schwarze Strähne im goldenen Haar. Hm. Dennoch muss auch er das Rätsel lösen, um durch das Tor zu gehen.“ - „Ja, ja“, erwiderte Racket eifrig. „Stell ihm die Frage. Er wird sie beant-worten. Er wird es wissen. Ich weiß es.“ - „Also gut.“, ertöne die Stimme, jetzt sogar noch tiefer als vorher. „Höre mir aufmerksam zu, mein junger Freund:
Es ist ein Ort, den alle Menschen kennen.
Ob gut, ob böse, sie alle ihn Ihr eigen nennen.
Es ist ein Ort, an dem sich jeder Wunsch erfüllt,
ein Mantel, in den man sich des nächtens hüllt,
dort wo Erwachs‘ne wie die Kinder tollen,
und nie mehr von dort gehen wollen.
Ein Ort, an dem es keine Grenzen gibt,
an dem nur eins, der eigne Wille siegt,
zu dem man geht mit Freuden fort.
Sag mir, was ist das für ein Ort?
„Kennst du die Antwort, Roy Rapperpotz? Sag sie schnell, und ich öffne dir mein Tor.“ Roy dachte angestrengt nach. Ein Ort, den alle Menschen kennen? Ein Mantel, in den man sich nachts hüllt und wo sich jeder Wunsch erfüllt? Was konnte das nur sein? Von der Seite störte ihn Racket beim Nachdenken. „Wisst Ihr es, Roy? Ihr wisst es doch, nicht wahr? Sagt es dem Wächter. Ihr müsst es doch wi . . .“ Plötzlich erlosch das Licht an der Mauer und Racket sprang blitzartig durch eine Seitentür aus dem Pavillon. Von der anderen Seite kam Direktor Finlox herein gepoltert: „Rapperpotz, Roy Rapperpotz. Was machst du hier? Du solltest dir doch deine Haare schneiden lassen, du Lümmel. Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?“ Er packte Roy am rechten Ohr und zerrte ihn aus dem Pavillon. „Ihr werdet es wohl nie lernen. Ihr solltet doch nicht hinter diese Hecke gehen. Habe ich euch das nicht tausendmal gesagt? He?“
Er hielt Roy so fest am Ohr, dass der arme Junge vor Schmerz das Gesicht verzog, und zerrte ihn ins Haus. „Wir werden morgen weiter darüber reden. Jetzt aber ab ins Bett! Los!“ Er schubste ihn in sein Zimmer, wo Greg schon hemmungslos schnarchte, und schloss die Tür. Roy stieg leise in sein Bett. Immer wieder musste er an Racket und an diese geheimnisvolle Welt denken, von der dieser ihm erzählte hatte, und an das Rätsel, dessen Lösung ihnen das verbotene Tor zu dieser Welt öffnen sollte, zu einer Welt, die angeblich seine eigene war. Und plötzlich wusste er die Lösung des Rätsels. Zufrieden und voller Erwartungen an den nächsten Tag schlief Roy todmüde unter seiner warmen und kuscheligen Decke ein.

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Kommentare  

Gebe ungerne Punkte für "halbe" Geschichten, da das ja unfair wäre denen gegenüber, die für eine kürzere Story nicht die doppelte Punktzahl kassieren können. WENN ich aber Punkte für Geschichten"teile" vergeben würde, dann wäre mir dieses hier volle Fünfe wert.
Irgendwie erwachen die Figuren in meinem Kopf alle zum Leben. Roy (wer hat ihm bloß diesen Familiennamen angetan?) sieht aus wie die blondgefärbte Version von Alfalfa aus den "Kleinen Strolchen", Racket an Salem, die Familienkatze der Hexe Sabrina (inclusive der Tischmanieren!), usw. - Schön, dass man zu den handelnden Figuren direkt Sympathien entwickeln kann.
Schließe mich meiner Vorschreiberin an: Wann gibt's den nächsten Teil? Kann doch nicht sein, dass Prinz Roy das Losungswort nicht findet, wo es doch so einfach ist..


hsanda@web.de (23.01.2003)

huuuiii... bin mal gespannt, wie's weitergeht - fängt ja schon gut an :)

*Becci* (12.01.2003)

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