237


3 Seiten

Therion und Bestia

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Verdeckt hinter der Unendlichkeit des Nachthimmels fällten die Richter der Zeit ihr letztes entscheidendes Urteil. Es war die Stunde, in der Bestia endlich freigegeben wurde. Die Gefahr schien letztendlich gebannt – denn ihr Herz hatte sich im Nebel der Melancholie verirrt, ihre Seele wurde von den Wolken des Schicksals bedeckt. Aber ihrer Bestrafung sollte sie dennoch nicht entgehen.

Die lange Reise durch die Dunkelheit hatte ihre Sinne getrübt, als sie in den kalten Schnee des Eisplaneten gestürzt war.
Sie blieb liegen, den Blick ihrer braunen Augen starr über die Ebene gerichtet, die Qual ihrer zerschnittenen Pfoten ignorierend. Der Brustkorb des Tieres hob und senkte sich rhythmisch; sie genoss den Schmerz der kalten Luft, die ihre Lungen beinahe gefrieren ließ. Bestia war erneut bereit zu sterben, doch die Richter hatten eine Entscheidung getroffen; die grausamste Strafe, die einer Seele je widerfahren war: Die Verbannung in die Welt des Therions - des abscheulichsten Monsters, das je das Universum durchstreift hatte.
Die Kälte, so unangenehm sie auch war, wollte sich nicht durch Bestias Glieder fressen; sie gar übermannen. Es blieb ihr nichts anderes, als sich aufzurichten. So stand sie allein auf der weiten Ebene – ein Wesen, das an einem langen Weg zerbrochen und schließlich vor sich selbst geflohen war.
Mit zögernden Schritten trat sie vorwärts, während der Klang der brechenden Schneekruste ihr empfindliches Gehör durchschnitt.
Jedoch spürte Bestia, dass sie jene Ebene hinter sich lassen konnte, und so jagte sie bald über den Schnee hinweg auf der Suche nach einem Unterschlupf.
Die Schneedecke glich einem Meer aus reinem Silber und schien nicht enden zu wollen. Irgendwann gab Bestia die Suche auf und verharrte erschöpft im kalten Nass. Über ihr thronte ein Sternenhimmel, dessen Kälte sich mit der Leere in ihrem Innern zu vereinen drohte.
Und Bestia schloss die Augen und weinte. Es waren Tränen des Selbstmitleids, die ihr keiner zu nehmen vermochte. Und nur die Richter lachten - noch.
Der kristallene Klang von Glasstäben im Wind veranlasste Bestia ihren Kopf zu heben - und ihr Blick traf den eines anderen.
Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht - in einen schwarzen Mantel gehüllt, kniete er vor ihr; in seiner ausgestreckten Hand hielt er eine Rose aus Eis.
„Wer bist du?“ Sie war einige Schritte zurückgewichen, konnte sich aber von seinem Antlitz nicht abwenden. Sein Gesicht so sanft, seine Augen so blau und kühl wie ihre eigene Seele. Sie teilten denselben Schmerz in ihrem Inneren.
„Ich bin Therion.“ Mit einem Lufthauch ließ er die Rose zu Staub zerfallen. Die Eiskristalle stoben in die Luft und setzten sich sanft auf Bestias Nase. Sie lächelte und Therion lächelte zurück. Der Nebel begann sich zu lichten.
Bestia fürchtete sich nicht vor Therion. Ganz im Gegenteil - sie folgte ihm, als er sich aufrichtete und davon ging.
„Du siehst nicht aus wie ein Monster. Jedenfalls nicht in meinen Augen“, begann sie, während sie neben ihm her trottete.
Er musterte sie schmunzelnd. „Haben die euren uns denn nicht immer als Monster betrachtet?“, antwortete er schließlich.
„Ich bin nicht wie die anderen“, sagte sie nur und sie schwiegen, während sie eine Weile über die Ebene schritten.
„Stimmt es, was die Richter sich erzählen?“, wollte Bestia wissen. „Das du viele Menschen getötet hast und seitdem gefangen auf dem Seelenspiegel wanderst?“
„Meine eigene Kälte hat mich meiner Erinnerungen beraubt.“ Er blieb stehen und starrte empor. „Die Richter sagten einst, dass jeder Stern für eine Seele stehe, deren Leben ich genommen habe und meine Einfältigkeit würde mein Gefängnis bis in alle Ewigkeit werden, von dessen Decke sie strafend auf mich hinabblicken sollen.“
„Dein Gefängnis ist deine eigene Seele?“ Bestia schaute sich unbehaglich um und verspürte Mitleid in sich aufsteigen.
„Wen hast du des Lebens beraubt?“, fragte Therion und blickte nachdenklich in das Meer der Sterne.
„Ich habe mich selbst getötet“, antwortete sie.
Er blickte sie überrascht an. „Und dafür bekommst du solch eine Bürde auferlegt?“
„Ich habe mich meinem Lebensweg verwehrt. Meine Bestimmung konnte ich nicht ertragen und ich fand viele Wege, ihr zu entkommen - und schließlich einen, der mir den Sieg über mich selbst erbrachte. Erbost darüber, wie ich mit dem Geschenk der Richter umging, bestraften sie mich mit deiner Kälte. Jetzt wandele ich neben dir auf der Ebene in die Ewigkeit.“
„Ja, ich hörte, dass sie diejenigen, die sich selbst das Leben nehmen, am höchsten bestrafen.“
Bis auf deine Seele, dachte Bestia aber sie sprach es nicht aus.
Therion, der diesen Gedanken wie eine stille Last vernahm, ließ sich schwer neben sie in den Schnee fallen. Und Bestia tat es ihm gleich und legte ihren Kopf in Treue ergeben auf seinen Schoß. Für sie war er kein Monster, sondern nur der Einsamkeit unterlegen, was auch immer er getan haben mochte.
„Die Sterne bewegen sich“, stelle Therion verwundert fest. „Es hat sich noch nie etwas verändert, seit ich hierher kam.“ Er blickte sie an und etwas wie Hoffnung glimmte in seinen Augen.
Und Therion, dessen Inneres nie eine Veränderung erfahren hatte, der längst vergessen, wie viele durch ihn ihr Leben verloren, spürte die Wärme von Bestia und der Wandel, an den er nie geglaubt hatte, trat ein, als letztendlich der Mond über der Ebene aufging und Therion in heller Freude aufsprang. Bestia wich zurück und erlebte, was selbst die Richter der Zeit für unmöglich gehalten hatten.
„Ist er nicht wunderschön?“, jauchzte Therion und streckte die Arme in die Höhe, so als wollte er den Mond ergreifen, ihn nur einmal berühren. Er jubelte so sehr, dass Bestia ihn mit ihrem Gesang unterstützte. Gemeinsam beschworen sie den Mond, zu Beginn der Stunde, an der Therion wieder erwacht war.
Doch wie erstarrt blieb er stehen, als er beinahe in den Abgrund stürzte, der sich vor ihnen aufgetan hatte, und er begriff.
„Du tust diese Dinge.“ Er blickte Bestia an.
„Man kann den Verlauf der Zeit nicht ändern. Alle Dinge um uns herum unterliegen ihr. Das gesamte Universum ist in Bewegung. Deine Kälte mag dich zum Stillstand gebracht haben. Aber etwas in uns glüht noch“, sagte sie.
Und vor Therions Augen verwandelte sich Bestia in einen Menschen. Sie ergriff seine Hand und führte ihn an den Abgrund heran.
Therion, der von ihrer Schönheit geblendet war, wehrte sich nicht, als sie gemeinsam in die Tiefe sprangen.
Der Eisplanet, der sich im Inneren des Therions befunden hatte, begann zu schmelzen und die Richter der Zeit wussten, dass sie den Kampf verloren hatten. Denn Therion und Bestia würden gemeinsam alles Leben vernichten, das je das Licht der Welt erblicken sollte.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Empfunden wie eine Art metaphysischen Taumels, bei dem vieles angeschnitten und dann schwebend wieder sich selbst überlassen bleibt.
Dennoch zielend...vielleicht darauf, dass innere Eiseskälte etwas ist, das niemandem unbekannt sein dürfte, Verlassenheit sowieso ein fester Bestandeil in jedem Leben sein wird und die mögliche Flucht aus all dem nur die Wärme menschlicher Liebe sein kann, ganz gleich in welcher Form.

Egal...es ist nicht allzu wichtig, mir gefällt die Poesie der Sprache und die dennoch nicht aufgegebene Klarheit.
5 Punkte

Gruss Lies


Lies (26.05.2003)

@Wolz: Ja, ich weiß, dass wir hier immer etwas gegeneinandr stoßen. Aber trotzdem lieb, dass du zum Lesen kommst und Kommentare schreibst. Was du am Ende aus der Geschichte für dich gewinnen konntest, bleibt deiner Phantasie frei gestellt. Ich weiß, es ist nicht leicht, weil ich viele Themen angeschnitten und verarbeitet habe.

Mes Calinum (26.01.2003)

Schön geschrieben, ja.
Kapiert hab ich es nicht. Das Du etwas ganz bestimmtes Aussagen möchtest ist mir schon klar. ABER WAS?
Bei dieser Storie, bzw. bei Stories dieser Art ist mein Empfänger einfach blokiert.
Da haben wir keine gemeinsame Wellenlänge.


Wolzenburg (24.01.2003)

@Drachenlord: Ja, das ist die Geschichte, die mich so viel Überwindung gekostet hat. :)
Und wenn ich mal einen normalen Schreibfluss habe, was ja leider selten geworden ist, dann schreibe ich wie bei Sypra, Folsom Prison Dog oder die Mondstrahl-Story. Eher normal. :)


Mes Calinum (23.01.2003)

Die Gefahr schien letztendlich gebannt - denn ihr Herz hatte sich im Nebel der Melancholie verirrt, ihre Seele wurde von den Wolken des Schicksals bedeckt.
Meine Güte, das ist wahnsinnig poetisch.
Deine Geschichte regt zum nachdenken und zum träumen an, gefällt mir ausgesprochen gut.
Wenn du das die Geschichte ist die du dir wärend deiner Schreibblockade abgerungen hast, was um alles in der Welt schaffst du dann erst in einem Schreibfluss zu fabrizieren?
Erfurchtsvoll verneige ich mich vor dieser wunderschönen Story und vergebe alle fünf.


Drachenlord (23.01.2003)

Vielen lieben Dank für die tolle Bewertung. Macht mich fast sprachlos. :) Ich glaube jetzt bin ich wirklich von meiner Schreibblockade und den letzten Selbstzweifeln geheilt.

Zu Therion: Ich weiß nicht, ob wir in ihm das selbe Vorbild vermuten. Aber ich habe mich in der Tat von einem Wesen inspirieren lassen, das einen ähnlichen Leidensweg hat. Und irgendwie wollte ich diese Melancholie festhalten.


Mes Calinum (22.01.2003)

Wenn ich dazu jetzt einen Kommentar schreiben sollte, dann würde der so lang ausfallen wie die Geschichte.
Ich müsste über universelle Wahrheiten schreiben, über Liebe, und auch ein paar Worte über den Umgang mit Sprache. Und das würde zu lang.
Eines vielleicht noch: Dass einem bei der Beschreibung Therions unwillkürlich ein anderes Wesen einfällt, das auf Ewigkeiten leidet und am Ende nur durch die Vernichtung erlöst werden soll, wie es der Mythos sagt, ist sicherlich kein Zufall, oder?!
Und nun erlaube ich mir den Luxus, einfach nur zu sagen, dass dies eine der (nicht oft vorkommenden) Geschichten ist, für die mir 5 Punkte einfach zuwenig erscheinen; es müsste noch Extrapunkte geben für die Gefühle, die sie in mir ausgelöst hat.


Gwenhwyfar (22.01.2003)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Über die Mumien  
Sternenstaub  
Am Strand  
Life Energy  
Rosenduft (60 Minuten ...)  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De