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10 Seiten

Lichtnetz (Part 4)

Romane/Serien · Fantastisches
© Metevelis
Als er erneut auf sie losging, warf Deyalis nur einen kurzen mahnenden Blick auf ihre Gefährtin.
"Mairi!"
Diese stand nun seufzend auf und nahm ihren Speerstab auf. Sie wünschte, ihre Freundin hätte das Haar in Ruhe gelassen. Der Kerl war nun ernsthaft in seiner Ehre gekränkt und steckte mit seinem Zorn nun auch seine Kameraden an. Der Mann, der ihr am nächsten stand, stürmte mit ausgestreckten Händen auf sie zu. Mairi wich zur Seite und stieß ihm den Stab zwischen die Beine und zog diesen ruckartig hoch. Der Mann krachte polternd zu Boden.

Als er sie wimmernd und mit schmerzverzerrtem Gesicht ansah, schenkte sie ihm ihr süßestes Lächeln und bot ihm die Hand. Der Kerl war so dumm und nahm sie an. Mit einer schnellen Bewegung brach sie ihm einen Finger. Er grunzte auf und fasste mit der linken Hand nach seinem Messer. Damit machte er eine unbeholfene Stichbewegung. Mairi wich mühelos aus, schwang ihren Stab und ließ ihn auf seiner Nase nieder sausen. Mit einem deutlichem Knacken brach das Nasenbein. Ungläubig starrte der Mann auf das Blut, das ihm über die Hände lief, als er sich an die Nase fasste. Dann fiel er einfach in Ohnmacht.

Als sie die beiden anderen ansah, wichen die Schritt für Schritt zurück, um dann panisch zur Tür hinaus zu rennen. Sie hatten offenbar nicht erwartet, daß sie sich wehren würden. Sie wandte sich ihrer Gefährtin zu, die in arger Bedrängnis war. Zil lag blutend am Boden. Dafür wurde sie von zwei seiner Kumpane in die Ecke gedrängt und mit Messern bedroht.

Bevor Mairi allerdings einschreiten konnte, bekam ihre Freundin von ganz anderer Seite Hilfe. Diese kam von der Frau in der schwarzen Robe, die einige unverständliche Silben murmelte und ihre Hände in verschlungenen Mustern bewegte. Gleich darauf zappelten die beiden Männer zwei Meter über dem Boden, wobei sie sich die Köpfe an der Decke anstießen. Fassungslose Blicke trafen die Schwarzrobe, dann begannen beide gleichzeitig aus Leibeskräften loszubrüllen.

Von den Schreien angelockt, kamen der Wirt, der Stallknecht und einige Mägde angerannt. Das freundliche Gesicht des Wirtes verfinsterte sich zusehends, als er zwei blutende Männer auf dem Boden und zwei in der Luft sah. Ein grimmiger Blick traf die junge Magierin, die daraufhin die Schultern zuckte und den Zauber mit einer kleinen Geste löste. Mit lautem Poltern fielen die Männer auf den Boden. Stöhnend blieben sie liegen.

Bevor der Wirt jedoch die Schwarzrobe zur Verantwortung ziehen konnte, trat ihm Deya in den Weg. Mit ihrem strahlendsten Lächeln sah sie den Wirt an. "Allen Göttern sei Dank, Ihr seid hier. Ihr wisst gar nicht, wie dankbar ich der jungen Klerikerin bin. Diese unverschämten Kerle haben meine Gefährtin und mich belästigt. Nicht auszudenken, was sie uns hätten antun können."

Sie schenkte ihm einen unschuldigen Blick. Diese Frau glich in nichts der kampfwütigen Raubkatze, die sie vor wenigen Augenblicken noch gewesen war. Der Wirt war einigermaßen besänftigt und gab ihnen mit einem Schnauben zu verstehen, dass sie sich besser auf ihre Zimmer zurück ziehen sollten. Mit einem nervösen Blick auf die Magierin gab er dem Stallknecht und den Mägden einen Wink, die bewusstlosen Männer wegzuschaffen.

Mairi und ihre Gefährtin packten ihre Bündel, aber zuvor sagte Deya dem Wirt Bescheid, dass er der Schwarzrobe ein Essen auf ihre Kosten ausgeben solle. Deya nickte ihr dankend zu. Dann folgten sie einem verschüchterten Mädchen auf ihre Zimmer.

Lyssa hatte unmittelbar nach dem Vorfall mit den beiden Frauen Müdigkeit vorgeschützt und war auf ihr Zimmer gegangen. Als sie den Tumult unten hörte, öffnete sie die Tür einen Spalt und horchte. Nach einer Weile kam ein Mädchen mit den beiden fremden Frauen. Sie schloss die Tür ein Stück, um nicht gesehen zu werden. Die Magd wies den beiden sonderbaren Frauen das Zimmer schräg gegenüber zu. Doch bevor sie in ihr Zimmer trat, warf die Frau die sie angesprochen hatte, einen kurzen Blick auf ihre Tür. Lyssa drückte schnell die Tür zu. Eine seltsame Unruhe befiel sie.

Sie setzte sich an den breiten Tisch, der am Fenster stand. Silbriges Mondlicht flutete ins Zimmer. Sie zündete die dicke Kerze an, die dort stand und starrte in die Flamme. In der Ecke waren mehrere Blätter Papier sorgfältig gestapelt. In einer Schublade fand sie Kohlestifte. Sie nahm sich einen Stift und ein Blatt und starrte eine Weile leer darauf. Dann begann sie zu zeichnen. Wer sie gesehen hätte, hätte gedacht, sie wäre in Trance. Einige Augenblicke später war sie mit der Zeichnung fertig. Als sie diese betrachtete, war sie selbst überrascht. Sie hatte ein detailgetreues Bild von den beiden Frauen und sich selbst angefertigt. Im Hintergrund hatte ein prächtiger Phönix seine flammenden Schwingen schützend über sie gebreitet.

Ein Hauch von Angst erfasste sie. Sie warf den Stift hin und kniete sich vor die Feuerstelle. Der flackernde Feuerschein und die Wärme taten ihr gut. Ein behagliches Gefühl breitete sich in ihr aus. Dann bemerkte sie etwas in den Flammen. Etwas...wie eine Figur...sie sah genauer hin und aus der kleinen Gestalt wurde ein prächtiger, lodernder Phönix, der sie direkt ansah und immer größer wurde. Entsetzt wandte sie den Blick ab. Als sie wieder hinsah, flackerten die Flammen wie vorher.

Ein leises Klopfen an der Tür erinnerte sie an ihren knurrenden Magen. Sie hoffte, dass es das Dienstmädchen mit dem Essen sei. Als sie jedoch die Tür öffnete, waren es die zwei fremden, aber doch so vertrauten Frauen. Sie hielten Speere in den Händen. "Dürfen wir eintreten, Schwester?"
Lyssa runzelte die Stirn über die allzu vertrauliche Anrede, besann sich aber ihrer Höflichkeit und bat sie hinein.

Alle drei nahmen sie in den Sesseln vor dem Feuer Platz. Ihre Waffen legten sie sich über die Knie. Lange herrschte Schweigen. Lyssa saß mit verschränkten Armen auf ihrem Sessel und starrte ins Feuer. Sie würde auf gar keinen Fall das Gespräch anfangen. Wenn diese Frauen ihr etwas zu sagen hatten, sollten sie anfangen. Nach einer Weile seufzte die Schwarzhaarige und begann:
"Mein Name ist Mairi. Deyalis und ich gehören der Gilde des Phönix an. Du hast von uns gehört? Nun, wir haben dich angesprochen, weil wir zu dir eine Verbindung gespürt haben. Auch du bist eine von uns."

Lyssa war überraschend ruhig.
"Ich habe von eurer Gilde gehört. Ihr seid eine von dreien. Söldner und Handwerker. Der einzige Unterschied zu anderen gleichen Gewerbes ist die 'Macht' wie ihr es nennt. Man sagt euch geheimnisvolle Fähigkeiten nach."
Mairi nickte.
"Du musst uns in die Wüste begleiten und dich ausbilden lassen. Dein Blut könnte ansonsten gefährlich für dich und deine Umgebung werden."
Das Mädchen allerdings schüttelte starrsinnig den Kopf.
"Ich werde nirgendwo mit euch hingehen. In mir fließt nur das Blut meiner Eltern und das ist nicht gefährlich, für niemanden."
Deyalis warf Mairi einen ergebenen Blick zu und stand dann auf.

Sie trat auf Lyssa zu und streckte ihr die Hand mit der Handfläche nach oben zu. Ein Zeichen war darin. Ob eingebrannt oder in die Haut gestochen, das konnte Lyssa nicht genau erkennen.
"Dies ist das erste Zeichen. Der Phönix ersteht in jedem von uns früher oder später auf und zeichnet uns als sein eigen. Sobald du es akzeptiert hast, wird auch dir dieses Zeichen erscheinen. Dies ist das zweite Zeichen."
Sie drehte ihr den Rücken zu und löste die Bänder ihres Hemdes. Es glitt herab und enthüllte ein flammendes Wesen auf dem Rücken der Frau. Lyssas Augen weiteten sich. Das Bild des sterbenden Phönix bedeckte den gesamten oberen Teil des Rückens mit seiner rotorangenen Pracht. Die goldenen Augen schienen sie unerbittlich anzustarren, bis sie den Blick abwenden musste.

Als sie wieder hinsah, band Deya gerade wieder die Schnüre ihres Hemdes. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Mairi stand auf und öffnete die Tür. Lyssa sah sich dazu nicht in Stande. Sie hatte das unsinnige Gefühl, sie müsse auch diese Tätowierung tragen. Ihr war, als besäße sie bereits seit langer Zeit das Recht dazu. Dann unterbrach Mairi ihre Gedankengänge. "Kleine Schwester, dein Essen wurde gebracht. Deya, ich habe auch uns eine Mahlzeit bestellt."

Lyssas Magen knurrte wieder und sie setzte sich an den Tisch. Der Duft des Essens vermischt, mit der süßen Blume des Weines war zu verlockend. Das Tablett war schwer beladen. Der Wirt hatte wirklich nicht mit den Portionen gegeizt. Drei dicke Scheiben Braten mit reichlich dunkler Soße, ein Teller mit Bratkartoffeln, mehrere Scheiben Brot und eine Schale mit Früchten entfachten ihren Hunger. Außerdem konnte sie während des Essens nachdenken und brauchte nicht mit den beiden Frauen zu reden. Zunächst fragte sie jedoch, ob es den beiden etwas ausmachen würde, wenn sie schon mit dem Essen anfinge und war sehr erleichtert, als diese verneinend abwinkten. Sie mußte sich ablenken, sie mußte nachdenken.

Deyalis betrachtete Lyssa beim Essen und musste daran denken, dass sie genauso gewesen war, bevor sie in die Gilde gekommen war. Die zarten, weißen Hände, die keine richtige Arbeit gesehen hatten. Das schmale Gesicht, das keinen Schmerz, keine Entbehrungen kannte. Und sie konnte sich vorstellen, dass den schlanken Körper keine Narben verunstalteten. Deyalis erinnerte sich, wie sie vor 8 Jahren zum ersten Mal mit der Gilde in Berührung kam.

Sie war etwa ein Jahr verheiratet gewesen und im 7. Monat schwanger. Ihren viel älteren Gemahl liebte sie zwar nicht, aber sie mochte und respektierte ihn. Als sie den Wunsch äußerte, den Schrein von Salista im Norden zu besuchen, gab ihr eifersüchtiger Mann ihr eine Eskorte von Kriegerinnen mit, da das Gildenhaus nicht weit von ihrer Burg entfernt lag. Er wusste genau, wie anziehend sie mit ihrer Anmut und Schönheit auf junge Männer wirken musste und befürchtete Annäherungsversuche von männlichen Kriegern. So lernte sie die ersten aus dieser Gilde kennen. Als ehrbare junge Dame war sie natürlich schockiert von Frauen, die kämpften, statt ihrer Aufgabe im Haushalt nachzugehen. Noch entsetzter war sie, als sie erfuhr, dass diese mit Männern ihrer Gilde unter einem Dach lebten, ohne verehelicht zu sein.

Deshalb beschloss sie, den Kontakt nur mäßig zu halten. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihre Abneigung gegen dieses Verhalten verbergen konnte, aber sie wollte ihre Eskorte auch nicht verärgern. Ihre Gespräche beschränkten sich auf die Frage, ob das Lager aufzuschlagen sei und dergleichen. Mairi war die einzige von ihnen, die sie an sich heranließ. Vielleicht, weil das Mädchen nur zwei Jahre jünger war, als sie selbst. In der Gesellschaft der älteren Frauen fühlte sie sich unwohl. Mairi war in die Phönix-Gilde hineingeboren worden. Ihre Mutter war eine Heilerin der Einhorn-Gilde gewesen, ihr Vater ein Krieger der Phönix-Gilde. Mairi, so stellte sich bald heraus, trug den Phönix in sich und war seit frühester Kindheit ausgebildet worden, als sich herausgestellt hatte, dass sie besser zur Kriegerin als zur Handwerkerin geeignet war. Auf der langen Reise in den Norden freundete sie sich als einzige mit der Schwangeren an.

Als sie im Schrein angekommen waren, opferte die junge Frau der Göttin und hörte sich die Weissagung der Salistae-Priesterin an. Die Kriegerinnen erfrischten sich währenddessen, bis sie zurückkam. Sobald sie zurück war, fiel einzig Mairi ihr verändertes Verhalten auf. Sie war verschlossen und schweigsam. Noch mehr als zuvor, ihr Gesicht schien geradezu versteinert. Alle ihre Versuche die junge Adlige zum Sprechen zu bringen, scheiterten. Auf dem Weg zurück, ritt das junge Mädchen die ganze Zeit neben der Sänfte und versuchte, mit ihr zu reden. Vergebens.

Kurz, bevor sie die Burg erreichten, ließ die Führerin, eine ältere Frau namens Sinas anhalten. "Lhienne, ich muss mit Euch sprechen. Wir haben entdeckt, dass auch in Euch der Phönix lebt."
Lhienne hatte sie nur empört angestarrt. Und dann kam die Wut in ihr hoch. Wie konnten es diese Frauen wagen, sie, eine hochstehende, ehrbare Adlige auf eine Stufe mit ihnen zu stellen? Sie warf der Älteren einen kalten Blick zu.

"Ich bin keine von euch und das werde ich auch niemals sein, glaubt mir. Das Leben, das ihr führt, ist nicht das was ich führen wollen würde."
Die Kriegerin sah sie gelassen an.
"Wie Ihr meint. Ich kann euch nicht zwingen. Solltet Ihr es Euch anders überlegen - Ihr wisst, unser Gildenhaus liegt in der Wüste. Ich meine es ernst. Wenn das Blut nicht ausgebildet wird, kann es gefährlich für seine Umgebung werden, ihr werdet es sehen. Aber, wie ich bereits sagte, ich kann Euch nicht zwingen, sondern nur hoffen, dass Ihr unsere Warnung ernst nehmt. Kommt zu uns, wenn Ihr Hilfe braucht oder Euch ausbilden lassen wollt."
Lhienne schlug das Angebot natürlich aus und ihre Wege trennten sich, sobald sie in der Burg angekommen waren. Einzig Mairi sah die junge Frau mit Bedauern davonziehen.

Einen Monat später hatte Lhienne eine Frühgeburt. Nach langen, heftigen Wehen gebar sie ein Mädchen, das sehr schwach war und in Lebensgefahr schwebte. Die junge Mutter, selbst durch den Blutverlust gefährlich geschwächt, erwartete von ihrem Mann Trost. Doch kaum hatte ihr Gemahl einen Blick auf sein Kind geworfen, kam er brüllend an ihr Bett gestürmt und fing an sie zu beschimpfen. Er glaubte, ein so schwächliches und krankes Kind, noch dazu ein Mädchen könne niemals von ihm sein. Sie müsse ihn betrogen haben.

"Du hast mich gehörnt, du verlogene Schlampe! Ich habe doch gleich geahnt, dass du eine von der Sorte bist. Hast du wirklich geglaubt, du könntest mir das Kind eines Fremden unterschieben?!"

Als sie ihm entrüstet widersprechen wollte, schlug er sie ins Gesicht. Sein Siegelring riss eine lange Wunde in ihr Gesicht. Die Narbe besaß sie heute noch. Sie rollte sich zusammen, weinte und wies alle Beschuldigungen von sich. Doch dies erzürnte ihn noch mehr, er schrie noch lauter und wollte sie erneut schlagen. Schließlich konnte der Hausverwalter ihn beruhigen und aus dem Zimmer ziehen. Aber er handelte in seiner Wut sofort. Er sperrte sie ins Frauengemach, ließ sie allein mit ihrer alten Amme und nahm ihr jegliche Befehlsgewalt.

Das Essen wollte er in einem Korb durchs Fenster bringen lassen und so jeden Kontakt unterbinden. Daher hatte sie einzig ihre Amme Risel als Hilfe, als nur kurze Zeit später ihr Sohn geboren wurde. Der Kleine hatte sich, zu ihrem Unglück, mehr Zeit gelassen als seine Schwester. Doch nun überwältigte die Schwäche und Erschöpfung sie und sie sank in einen Schlaf, aus dem sie nicht mehr aufzuwachen drohte.

Tagelang wütete das Fieber in ihr, bis ihre gesamte Lebensenergie fast geschwunden war. Kurz vor der Schwelle zum anderen Reich, drang das Weinen ihrer Kinder durch den Nebel, der sie umschlossen hatte. Ihre Sehnsucht nach der Ruhe und dem Frieden und dem Vergessen auf der anderen Seite des Schleiers war übermächtig und ließ sie beinahe hinübertreten. 'Aber meine Kinder brauchen mich!' Zögerlich wandte sie dem Schleier den Rücken zu und begann sich dann durch den Fiebernebel zu ihren Kindern zu kämpfen. 'Eines Tages werde ich wieder hier stehen und dann werde ich endlich Frieden finden.'

Als sie ihre Augen öffnete, sah sie das besorgte und tränenüberströmte Gesicht ihrer Amme.
"Oh Mylady, Ihr seid wieder wach. Den Göttern sei gedankt. Ich dachte schon, ich hätte Euch an das andere Reich verloren. Was wäre dann aus Euren Kindern geworden?"
Sie deutete auf die Wiege neben dem Bett.
"Eure Zwillinge sind so winzig, dass sie beide in die Wiege passen. Wie sollten eure Kleinen ohne Euch überleben?"

Lhienne streckte die Arme aus.
"Gib sie mir, Risel, gib mir meine Kinder."
Als die beiden Kleinen in ihren Armen lagen und sie auf ihre vollkommenen kleinen Gesichtchen blickte, weinte sie zum ersten und zum letzten Mal um das Leben, das sie verloren hatte.

Einige Tage später, nachdem Risel sie mit Fleischbrühe wieder aufgepäppelt hatte, packte sie ihre Sachen zusammen. Sie war fest entschlossen, ihre Kinder nicht in diesem Haus, nicht unter solch einem Mann aufwachsen zu lassen. Selbst wenn die Kleinen die Flucht nicht überleben sollten, wäre es besser, als sie in seinen Händen zu lassen. Er würde das Leben ihrer Kinder nicht zerstören.

Risel versprach ihr, kein Wort zu verraten, als sie sich weinend von ihr verabschiedete. Bei Nacht kletterte sie aus dem Fenster, ihre Zwillinge in eine Trage auf ihrem Rücken gepackt, die Risel ihr gefertigt hatte, ihren Silberschmuck am Körper, trotz des schrecklichen Unwetters, das seit Tagen über der Burg tobte.

Ihr Gemahl merkte bald danach den 'Verrat' der jungen Frau. Der jähzornige Mann brach sofort auf, um seine Frau zurückzubringen. Lhienne war mit den Kindern bereits über den Fluss geflüchtet. Flussaufwärts machte sie eine schreckliche Entdeckung. Unweit des Ufers fand sie die Leiche einer jungen Wanderin, die noch nicht sehr lange tot zu sein schien. Anscheinend hatte sie einen giftigen rohen Pilz gegessen, denn der Rest davon, lag noch in ihrer Hand. Eine leichte Purpurfarbe bedeckte ihr Gesicht. Da bekam sie eine grausige Idee, um ihren Verfolger loszuwerden.

Schnell zog sie die Leiche aus und kleidete sie in ihre eigenen Gewänder. Das Haar besaß ihre eigene honiggoldene Farbe, nur etwas dunkler. Sie legte ihre Kinder, die ruhig schliefen, auf das Bündel und zerrte den Leichnam zum Wasser. Vorsichtig sah sie sich um und stieß die tote Frau in den Fluss. Sie betete, dass der Geist der jungen Frau ihr vergeben würde.

Lhienne wusste, dass weiter stromabwärts ein Astgeflecht war, dort würde der Leichnam hängen bleiben. Das Gesicht würde durch den Aufenthalt im Wasser so verunstaltet werden, dass sie nicht mehr zu identifizieren wäre. Bestimmt würden alle sie für Lhienne halten. Sie nahm ihre Kinder, die noch immer friedlich schliefen und machte sich auf den langen Weg in die Wüste.

***********

Lyssa sah von ihrem Essen auf und bemerkte, dass die blonde Frau sie beobachtete. Sie ließ das Brot sinken und schob den Teller von sich. Sie hatte keinen Hunger mehr. Trotzig verschränkte sie die Arme und wartete, dass die Frauen wieder anfangen würden, zu sprechen. Insgeheim verspürte sie den heftigen Wunsch, mit ihnen mitzugehen, aber das hätte sie sich niemals eingestanden. Mairi sah sie mit einem unergründlichen Blick an, stand dann auf und lief im Zimmer herum. Schließlich trat sie zu ihr und sah auf sie nieder. Dabei bemerkte sie die Zeichnung, die noch auf dem Tisch lag. Sie hob sie lächelnd auf.

"Du fühlst den Ruf deines Blutes. Du weißt es. Wehr dich nicht dagegen. Komm mit uns."
Lyssa kniff die Lippen einen Augenblick zusammen und seufzte dann.
"Verdammt will ich sein, aber es stimmt. Ich fühle eine eigenartige Verbundenheit mit euch. Aber das heißt nicht, dass ich so ohne weiteres mit euch kommen werde. Könnt ihr mir bitte sagen, wie ich es meinem Bruder beibringen soll? Sandro wird mich nie gehen lassen. Wie soll ich es ihm erklären? Er meint, mich beschützen zu müssen. Er wird niemals zulassen, das ich mit euch mitgehe."

Deyalis stand entschlossen auf.
"Dann darfst du es ihm eben nicht sagen. Wir wollen dich nicht entführen, du mußt aus freiem Willen mitkommen. Deshalb mußt du ihm und den anderen eine Nachricht hinterlassen. Ich denke, wir brechen sofort auf. Dann brauchst du nicht mit deinen Leuten zu reden und wir brauchen keine Vergeltungsmaßnahmen dieser Banditen zu befürchten. Ich sage dem Wirt Bescheid." Sie stand auf und verschwand mit schnellen Schritten aus dem Zimmer. Mairi sah sich um und hob dann die Satteltaschen und das unausgepackte Bündel auf. Bevor auch sie aus dem Zimmer ging, grinste sie Lyssa verschmitzt zu.
"Ich freue mich, Schwester."

Lyssa nahm das Fässchen mit Tinte, tauchte die Feder hinein und überlegte was sie den anderen schreiben könnte. Es war alles so schnell gegangen. Sie war vollkommen überrumpelt worden. Mit den kühnen Strichen, die ihr zu eigen waren, begann sie dann ihrem Bruder zu erklären, warum sie glaubte, mit den beiden Frauen mitgehen zu müssen.

Sie bat ihn inständig, ihr nicht zu folgen, sondern Eric in seinem Kampf zu unterstützen. Außerdem ersuchte sie ihn, ihrer Mutter Bescheid zu geben. Auch sie würde versuchen, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen. Sonst würde ihre Mutter mit den Soldaten, sämtliche sieben Provinzen nach ihnen durchkämmen lassen, womöglich auch noch die Silberinseln. Lyssa schloss den Brief mit ihren Segenswünschen für das, was ihrem Bruder und den anderen bevorstand, und der Hoffnung, ihr Weg würde sie irgendwann zu ihnen zurückführen.

Sie unterschrieb schnell und faltete das Blatt Papier zusammen. In das weiche Kerzenwachs, das sie auf den Brief getröpfelt hatte, drückte sie rasch ihren kleinen Siegelring. Dann stand sie auf, zog ihren Umhang vom Stuhl, nahm ihre Satteltaschen auf und verließ das Zimmer ohne einen weiteren Blick. Der Brief, die Zeichnung und das flackernde Feuer waren der einzige Hinweis, dass sie überhaupt in diesem Zimmer gewesen war. Unter das Bildnis hatte sie wie einen letzten Gruß, ihren Namen geschrieben.

Jenyrea öffnete leise die Tür, um Lyssa nicht zu stören, falls sie schlafen sollte. Doch das Feuer brannte hell und Lyssa war nicht zu sehen. Sie trat ein und sah sich um. Keine Spur von ihren Sachen. Besorgt sah sie sich im Zimmer um. Auf dem Tisch sah sie einen Brief und ein Blatt. Das eine war eine Zeichnung von Lyssa und zwei fremden Frauen. Sie glaubte, sie vorhin unten im Schankraum gesehen zu haben. Hinter ihnen prangte ein Feuerwesen. Jeny erkannte ihn als Drachen. Auf dem Siegel des Briefes war eine kleine Lilienblüte zu sehen. Lyssas Siegel. Als sie es berührte, war das Wachs unter ihren Fingern noch warm. Sie brach es auf und entfaltete den Brief. Langsam las sie es durch, dann, ungläubig, noch einmal.

Sie eilte aus dem Zimmer in den Raum, in dem sich der Rest der Reisegesellschaft aufhielt. Revyn, ihr Anführer, sah ihr blasses Gesicht und stand auf.
"Was ist passiert, Jenyrea? Du wirkst aufgeregt."
Sie reichte ihm wortlos den Brief. Nachdem er den Brief langsam durchgelesen hatte, trug er den Inhalt den anderen vor. Sandro erbleichte und wollte sofort aufspringen, doch ein strenger Blick des Ealfin hielt ihn davon ab.

"Ihr habt gehört, was sie möchte. Wir müssen ihren Wünschen entsprechen. Auch wenn Ihr etwas anderes für sie wollt. Unsere Wege haben sich getrennt und nun müssen wir den unseren zu Ende gehen, wie sie ihren geht."
Sandro kämpfte einen Augenblick sichtlich mit sich, dann gab er nach. Er wusste, Lyssa würde nichts tun, was sie nicht wirklich wollte. Er spürte durch das Zwillingsband, der sie verband, dass sie glücklich war und das musste er respektieren.
 
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Kommentare  

Sag mal, schreibst du beruflich Kochbücher? *ggg*
Wieder hast du mir Hunger gemacht.
So Deyalis hieß früher Lhienne? Deren Zwillinge...sind das etwa Sandro und Lyssa?
Dass Lyssa sich von den Anderen trennt, fand ich irgendwie schade. Ich hoffe, sie kommt wieder mit ihrem Bruder und seinen Gefährten zusammen. Aber zuerst macht sie wohl tatsächlich ihre Ausbildung in der Wüste.
Wieder ein schöner Teil. Es ist echt traurig, dass die meisten Leute auf Webstories solche Fortsetzungsromane nicht lesen (und erst recht nicht Romane am Stück). Gerade die längeren Geschichten bieten doch viel mehr Details, mehr Charakterstudien und mehr Handlung.
5 Punkte


Stefan Steinmetz (15.04.2003)

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