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6 Seiten

Abgewartet

Trauriges · Kurzgeschichten
Ich stolpere die Treppe hinunter, denn ich habe noch meine Hausschuhe an, in denen es sich nun einmal schlecht rennen lässt. Meine alten, müden Knochen, knirschen schmerzhaft laut. Ein Mann in meinem Alter solle nun wirklich nicht mehr rennen, doch ich habe keine Zeit darüber zu sinnieren, denn ich muss ins Krankenhaus um zu einem alten Freund zu gelangen, der im Sterben liegt. Ich werfe mich ins Auto und fahre los.
Doch schon an der nächsten Kreuzung muss ich wegen einer roten Ampel halten. Ungeduldig warte ich auf Grün, während meine Gedanken durch die Zeit zurückreisen an den Anfang...

Ich kann mich an drei Kinder erinnern, die fröhlich im Park ihrer Nachbarschaft spielten. Ich kann mich erinnern, eins dieser Kinder gewesen zu sein. Ich kann mich an unsere erste Begegnung erinnern, ich spielte am Rand des Parks auf dem Spielplatz, denn ich wollte nie in den Park betreten, weil er so gross und bedrohlich erschien. Die beiden kamen gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen auf mich zu. Was ich vor der Freundschaft mit den beiden immer auf dem Spielplatz getan hatte, weiss ich nicht mehr. Was ich noch weiss, ist, dass der etwas kleinere Junge an mich herantrat, sagte, sein Name wäre Mark und mich fragte ob ich mit ihm spielen wolle. Ich stimmte zu, und so wurden wir Freunde. Jenes andere Kind, ihr Name war Julia, aber das sollten wir erst später herausfinden, setzte sich auf eine Bank und beobachtete uns. Ich weiss noch wie ich und Mark uns daran machten im Sandkasten eine Sandburg zu bauen, doch es wollte uns einfach nicht gelingen. Wir waren kurz davor aufzugeben, als Julia auf uns zu kam und mit ihrer leisen, ruhigen Stimme fragte: "Kann ich euch helfen?"
Ich schaute zu Mark, er schaute zu mir. Wir sahen uns an, zuckten gleichzeitig mit den Schultern und nickten ihr zu. Sie begann zu lächeln, krempelte ihren kleinen Ärmel hoch und dann ging es los. Am Abend, als unsere Eltern uns dann zum Essen riefen waren wir bereits die besten Freunde. Doch will mir einfach nicht mehr einfallen, ob wir die Sandburg fertiggestellt hatten oder nicht.

Am nächsten Tag machten wir uns gleich daran den Park zu erkunden. Ich hatte große Angst, das weiß ich noch, bin beim kleinsten Geräusch hochgeschreckt, aber mit den beiden zusammen, war es als würden sie mich beschützen. So trieben wir uns Tag für Tag in dem Park mit seinen hohen Bäumen, dichten Sträuchern und kleinen Tieren herum.
Die Jahre vergingen. Wir wuchsen auf, kamen in die Pubertät. Unsere Beziehung zueinander begann sich zu verändern. Zuerst unmerklich, dann wurde es jedoch immer deutlicher. Wir wurden zu Männern und aus dem kleinen, zierlichen Mädchen wurde eine wunderschöne Frau. Jedesmal, wenn Julia nicht dabei war, was in dieser Zeit häufiger der Fall war, fing Mark an von ihr zu schwärmen von ihren Kurven, die nun immer deutlicher zu erkennen waren. Ich hielt dies zuerst für eine jugendliche Schwärmerei, die mehr mit Hormonen, ich hatte Julia als Mädchen auch schon erkannt, als mit echten Gefühlen zu tun hatte. Natürlich verliebte ich mich in Julia, aber damals habe ich mich nun wirklich in jedes Mädchen verliebt, das mir über den Weg lief. Aber irgendwann überwand ich sie, doch aus irgendeinem Grund tat Mark das nicht. Ich dachte mir nichts dabei, denn ich wußte ja, was ich durchgemacht hatte und vielleicht war er noch nicht soweit, sie aufzugeben.
Irgendwann, wir saßen zusammen und machten Hausaufgaben für die Schule, erwähnte ich beiläufig Julias Namen, als plötzlich seine Augen glasig wurden, er seufzte und sagte, daß er sie schon seit zwei ganzen Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen hätte. Er fragte mich aus, ob sie vielleicht wegen irgendwas gekränkt wäre oder etwas paßiert sei.
Ich verzog daraufhin mein Gesicht und sagte:
"Also, jetzt hör mal, Mark. Würdest du bitte endlich deine Schwärmereien für Julia sein laßen? Oder lade sie doch einfach zum Essen ein, wie wäre das? Aber jammere mir nicht immer die Ohren voll, daß du sie soooo wahnsinnig toll findest und so weiter!"
Mark schaute mich einige Sekunden seltsam an und sagte dann:
"ALBERT, paß mal bitte auf. Das sind nicht nur irgendwelche Hormone, die verrückt spielen. Ich bin verliebt in Julia. Ich kann nicht anders. Sie ist das wunderbarste Geschöpf dieser Erde. Sie ist...". Er wollte wieder anfangen von ihr zu schwärmen, wurde jedoch jäh von der Klingel unterbrochen.
Julia war an der Tür. Ich öffnete ihr und ließ sie ein. Mark war, als er sie sah, ziemlich geschockt, sein Gesicht lief rot an und stammelte irgendwas Unverständliches.
Sie setzte sich auf die große Couch auf der wir beide zuvor gesessen hatten und fragte: "Also, fangen wir an?"
Mark warf einen erschreckten Blick zu mir:
"W-W-Womit?" "Na mit den Hausaufgaben", rief ich.
"Ich hab sie gebeten uns zu helfen. Wir drei zusammen können Berge versetzen, wie früher! Na was meint ihr?!"
Und so setzten wir uns alle drei hin und vollendeten diese dummen Hausaufgaben. Mark überwand während des Tages noch seine Befangenheit, jedoch nicht seine Schüchternheit, denn noch immer hatte er sie nicht gefragt.
Am Abend als sie gegangen war, stellte ich ihn zur Rede.
"Mark, sag mal was sollte denn das? Warum hast du sie nicht um ein Rendezvous gebeten?"
"Wir sind noch so jung, Albert, ich warte besser noch."
Und damit ging er. Ließ mich allein ohne daß ich eine Ahnung hatte, was mit ihm los war.

Spät am Abend faßte ich einen Plan Marks Gefühle zu Kochen zu bringen und die beiden endlich zusammen zu bringen. Ich würde seiner Angebeteten den Hof machen. Sicher war es ein kindischer Plan, doch damals wusste ich es nicht besser.
Sofort am nächsten Tag ging ich also zu Julia und wollte sie um eine Verabredung bitten. Es war ein Samstag morgen und ich traf sie zu Hause an.
"Einen wunderschönen, guten Morgen, liebe Julia! Wie geht es dir?", begann ich.
Sie lächelte mich herzlich an und fragte dann:
"Albert, was möchtest du?"
"Sag mal, hast du heute abend was vor?"
"Nein, eigentlich nicht. Weshalb?"
"Ich dachte mir, wir könnten vielleicht ins Kino gehen."
Unsicher blickte sie in meine Augen.
"Und was ist mit Mark?"
"Was soll mit Mark sein? Ich möchte mit dir einfach mal ins Kino gehen. Das ist alles."
"Du meinst eine Verabredung?"
Ich spürte wie das Blut mir ins Gesicht schoss und erwiderte:
"Ja, in diesem Sinne ist es gedacht."
Sie atmete tief durch, sah mir fest in die Augen und sagte:
"Albert, ich fühle mich geschmeichelt, dass du mich gefragt hast, aber ich glaube nicht, dass das etwas werden kann. Sieh mal, du bist einfach zu sprunghaft, zu sehr von deinen Launen abhängig. Heute treibt dich deine Laune dazu dich mit mir zu verabreden, morgen hast du mich vielleicht schon wieder satt und suchst dir eine neue Herausforderung. Ich will aber nicht als Herausforderung gesehen werden. Ich bin ein Mensch mit Gefühlen, so wie du auch. Ich glaube nicht, dass du das schon verstanden hast."
Ich blickte zu Boden, denn all das, was sie da sagte gefiel mir nicht sonderlich. Gleichzeitig wurde mir jedoch bewusst, dass sie mich vollkommen richtig eingeschätzt hatte. Es war nicht sonderlich angenehm mir das einzugestehen.
"Das bedeutet, du gehst nicht mit mir ins Kino?"
"Genau das bedeutet es."
Sie machte eine kurze Pause.
"Albert, du bist einer meiner besten und ältesten Freunde. Ich mag dich sehr, als einen Freund. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Verstehst du?"
Ich nickte. Im Grunde hatte ich nichts anderes erwartet. Jeder, der sie bisher gefragt hatte, hatte von ihr bisher eine Abfuhr erhalten. Doch irgendwie spürte ich, dass da mehr war als sie mir bisher gesagt hatte.
Ich runzelte die Stirn, legte den Kopf zur Seite, so wie ich es immer tue, wenn ich etwas nicht verstehe.
"Na gut. Das mag alles sein, aber warum weisst du dann auch jeden anderen ab, der dich nach einer Verabredung fragt? Ich meine, es kann doch jeder Mann so ein Unbeständiger sein wie ich. Es muss doch jemanden geben, mit dem du dich verabreden würdest, oder?"
Ich blickte in dieses zarte, wundervolle Gesicht, dessen blasse Wangen langsam Farbe bekamen.
Sie lächelte, wandte den Blick zur Seite, sagte ein paar Augenblicke lang nichts.
Dann holte sie tief Luft und sagte mit fester Stimme:
"Bert, ich kann nicht mit Dir ausgehen, ich mag jemand anderen und wenn ich mit Dir ausgehen würde, dann wäre das weder Dir oder mir, noch ihm gegenüber fair."
Ich zog gerade den Eiszapfen heraus, der sich in mein Herz gebohrt hatte, als sie hinzufügte: "Verstehst du das?"
Ich benötigte eine kleine Weile, um zu begreifen, dass ich gemeint war und brachte noch ein krächzendes "Hmmm..." heraus.
Doch ich wollte nicht, dass sie sah, wie verletzt ich war, also versuchte ich schlagfertig zu sein.
"Das wird Mark aber ganz und gar nicht gefallen!" erwiderte ich und verfluchte mich dreimal dafür. Schliesslich wollte Mark doch, dass das ein Geheimnis blieb. Doch sie reagierte ganz anders als erwartet.
"Mark?"
Ihre Augen wurden gross.
"Wie meinst du das?"
Verwirrt, im Begreifen der Situation, ein Grinsen erschien auf meinem Gesicht erschien auf meinem Gesicht wie hingezaubert.
"Julia!" rief ich überrascht. Vergessen war das geprellte Ego. Die Julia war in den Mark verliebt! und als sie mein Begreifen bemerkte, verwandelte sich ihr Gesicht in eine knallrote Tomate.
Sie schluckte, atmete hörbar ein und sagte dann:
"Bert, bitte sag Mark nichts davon, er soll nicht glauben, dass ich ihn mag."
"Aber was ist denn das nun wieder für ein Blödsinn. Sieh mal, du magst den Mark und er mag dich auch."
Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, begannen ihre Augen zu leuchten, ihr Gesicht errötete noch mehr, sofern das überhaupt möglich war, und es schien als würde sie plötzlich etwa drei Zentimeter über dem Boden schweben.
"Also?", sprach ich weiter, "Wo liegt das Problem?"
Daraufhin senkte sie langsam den Blick, normale Gesichtsfarbe stellte sich ein.
"Bert,", begann sie, "ja, ich mag ihn sehr, aber er muss den ersten Schritt machen."
Daraufhin verabschiedete sie sich mit der Begründung, sie hätte noch Dringendes zu erledigen und schlug mir, etwas zu heftig, die Tür vor der Nase zu.
Etwas verdutzt, zog ich von dannen.
Am Abend des selben Tages, traf ich mich wieder mit Mark. Wir begrüssten uns und sogleich begann ich von den Ereignissen des Morgens zu erzählen. Er blickte zunächst finster drein, als ich ihm von dem geplanten Rendezvous berichtete, sein Blick schlug jedoch schlagartig bei der Stelle mit den drei Zentimetern ins Staunen um. Nachdem ich mit meinem Bericht fertig war, schwieg er eine Weile.
"Was gedenkst du nun zu tun?", fragte ich schliesslich.
"Albert, ich werde gar nichts tun, nicht im Moment zumindest. Wir sind doch noch so jung, haben so viel Zeit."
"Das ist nicht der einzige Grund, oder?"
"Nein", erwiderte er mit einigem Zögern, "das ist nicht der einzige Grund. Ich habe Angst. Angst davor, dass aus meinem Traum Realität wird. Angst, dass er an der Realität zerbricht. Vor allem habe ich Angst davor, dass, wenn ich und Julia zusammen kommen, sie mir irgendwann langweilig, vielleicht sogar gleichgültig wird. Und ich will nicht, dass sie mir gleichgültig wird, dafür liebe ich sie viel zu sehr."
Damit war das Gespräch für ihn beendet.

Immer wieder versuchte ich mit ihm darüber zu reden, aber jedes Mal blockte er ab.
Die Jahre kamen und gingen. Aus den Jahren wurden schliesslich Jahrzehnte, aus mir wurde schliesslich ein alter Mann.
Oft versuchte ich die Beiden irgendwie zusammenzubringen, doch keiner der Beiden reagierte darauf und bald gab ich es auf.
Wir haben viel gemeinsam unternommen, wir verreisten viel, gingen zusammen aus und taten verrückte Dinge.
Ich selbst war viermal verheiratet, habe inzwischen sieben Kinder und zwölf Enkelkinder. Mark und Julia jedoch kamen niemals zusammen. Keiner von ihnen wagte den ersten Schritt. Und so blieben sie Freunde. Die besten Freunde. Ich weiss bis heute noch nicht, was besser gewesen wäre.

Und heute nun bin ich auf dem Weg ins Krankenhaus in etwas unangemessener Kleidung für die Strasse, weil eine alter Freund im Sterben liegt.
Ich parke den Wagen, springe hinaus und stürme, so weit meine müden Knochen das noch zulassen hinein ins Krankenhaus, die Treppen hinauf, muss mich mehrere Male immer ausruhen, da ich keineswegs mehr so gut in Form bin wie früher.
Ich betrete keuchend, mir an die Brust greifend, das Zimmer.
Da steht sie, Julia, schön wie eh und je, am Bett des Sterbenden.
Seine Lippen bewegen sich, sie beugt sich herunter und ich glaube Worte zu verstehen: "Ich wollte dir noch sagen, dass ich Dich lie..."
Eine Träne tropft auf die Stirn des Toten.
"Ich auch." haucht sie.
 
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Kommentare  

ich gebe zu, es ist meine erste geschichte gewesen & ich war damals fünfzehn.

Und da ich nunmal ungern meine Geschichten nochmals anfasse, bleibt sie so...

aber interessant, daß du den Begriff holprig verwendest. Könntest du, das bitte mal etwas näher erläutern, ich seh noch nicht ganz was du meinst.


Marcel, der Autor (13.04.2003)

der schreibstil ist ein bisschen holprig, wenn ich das mal so sagen darf, aber der aufbau der story und vor allem der inhalt... der gefällt mir irgendwie :) eine wunderschöne geschichte!
4 Punkte


Becci (05.04.2003)

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