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6 Seiten

In Ihr

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Niemand hörte es.

Schließlich war es vier Uhr morgens und jeder im Haus und in der Nachbarschaft bereitete sich durch Schlafen auf diesen Arbeitstag vor.

Niemand hörte es.

Das Anschlagen auf das Verandadach dieses kleinen, unscheinbaren jedoch hübschen Vorstadthauses.

Wäre jemand wach gewesen, so hätte er es gehört, aber es war mitten in der Nacht und somit bemerkte niemand die dunkle Gestalt, die sich auf die Leiter schwang, und behende die Sprossen empor und das Dach entlang huschte, um dann vor einem Fenster zu verharren.

Auch sie hörte es nicht. Genauso wenig wie das Kratzen des Diamanten auf dem Glas. Das Aufriegeln des Fensters, das Eindringen dieses Unbekannten und seine Schritte zu ihrem Bett blieben ungehört.
Sie bemerkte dies Unrecht erst, als ihm noch ein Akt der Gewalt hinzugefügt wurde, und sie die Hand auf ihrem Hinterkopf spürte, die der anderen, die mit einem nassen Tuch Nase und Mund bedeckte, entgegenhielt. Sie kannte den Geruch des Chlorophorms nicht, der sie des Bewußtseins entledigte und sie in einen tiefen, unfreiwilligen Schlaf versetzte.

Als sie erwachte und die Augen aufschlug sah sie nichts. Sie lag weich, wie auf einer bezogenen Matratze, und es war warm, obwohl sie, wie sie feststellte, keine Kleidung auf ihrem Körper trug. Ihr Versuch sich zu Bewegen verursachte ein dezentes Rasseln vieler kleiner Kettenglieder. Nach Aufklärung suchend wanderten ihre Finger zu ihren Handgelenken und gaben ein Bild ihrer momentanen Lage.
Hände und Füße waren durch Handschellen verbunden, die auf den Innenseiten mit irgendeinem Stoff ausgelegt waren, sodaß sich die Stahlkanten nicht in ihr Fleisch bohren konnten und eigentlich so gut wie gar nicht spürbar waren. Die Fesselwerkzeuge an den Hand- und die an den Fußgelenken waren mit einer ziemlich kurzen Kette verbunden. Sie konnte auf dem Rücken liegen, ohne dies auf ihren Armen tun zu müssen. Es war ihr möglich ihre Lage zu verändern, aber sie konnte nicht aufstehen oder sonst irgendwie gehen.
Schwärze umgab sie, sie konnte den Mund nicht weiter als einen spaltbreit öffnen und spürte das Gewicht und die Streben eines Gerüsts, das den Kiefer fixierte und, daß gestand sie trotz dieser Gewalt, die ihr angetan wurde, so perfekt gebaut war, daß sie atmen aber keinen Laut von sich zu geben vermochte, sie ihre Augen auf und zu machen konnte aber nicht das Geringste sah und welches stabil war, ohne sie zu verletzen oder zu drücken. Wer macht soetwas? Welcher Entführer macht solch ein Aufheben um mich? Was will er? Warum das alles? Warum ich?

Ihre Gedanken gerieten ausser Kontrolle, kreisten, jagten sich selbst, verschlangen sich gegenseitig um neue Abkömmlinge zu zeugen. Sie geriet in Panik. Sie wollte weg von hier. Verzweifelt riß sie an den Ketten und wollte schreien, aber das Einzige, das zu vernehmen war, bestand in einem gedämpften Wimmern. Ein unbändiger Wille zu leben ließ sie, ihr unbekannte, Kräfte aufbringen. Der Verstand ließ sie ihren Kampf abbrechen und die Einsicht in ihre hoffnungslose, ausgelieferte Lage nahm ihr ebenso schnell ihre Kräfte und sie sank auf die Matratze zurück. Zu ihrem eigenen Gewicht kam das des drohenden Todes hinzu, den sie über sich spürte wie eine schwarze, dichte Wolke, der sie nicht entrinnen würde. Die Tränen blieben ihr, die ihr scheinbar für die Dauer der Entstehung dieser grausamen Welt aus den Augen flossen. Es versank alles um sie herum und macht Platz für ein Universum des puren Leides.

Irgendwann wachte sie wieder auf. Doch war sie sich nicht sicher ob sie tatsächlich geschlafen hatte, und zu diesem für sich alleine schon verstörenden Gefühl gesellte sich das Befremden, daß sie keine Vorstellung von der Zeit hatte.
Ihr Verstand meldete sich zurück, und befahl ihr, zu versuchen, eine Fluchtmöglichkeit zu finden. Also begann sie auf ihrem Lager in alle möglichen Richtungen zu rollen. Die ersten beiden Versuche führten sie zu einer Wand auf der linken Seite und einer am Kopfende, als sie sich jedoch mit einem kleinen Funken Hoffnung in die verbleibenden Richtungen arbeitete stieß sie auf Gitter, die alles nahmen, was sie bis dahin gehabt hatte. Nun war das Einzige, was ihr noch blieb das Wimmern, das sich an den Wänden brach, und gleich dem einzigen Geräusch dieser Welt in nie geahnter Klarheit in ihr Bewusstsein drang.

Stunden schienen der Vergangenheit anheim gefallen zu sein, in denen sie einfach nur dagelegen hatte, als das Grauen aus dem tiefsten Grunde ihres Magens ausbrach, seinen Weg über ihren Rücken antrat, um in ihrem Gehirn, mit dem unbarmherzigen Schlag eines Schlachters, die apathische Ruhe, die sich bei ihr im Laufe der Zeit eingestellt hatte, zu zerschlagen. Dieser Schlag war der, eines aufschnappenden Schlosses. Das, unter normalen Umständen kaum hörbare Quietschen der Türschnalle und den Angeln, brachte eine Lawine zerstörerischsten Ausmaßes ins Rollen.
Sie sah sich in die Zeit in der sich Menschen, solchen Geräuschen folgend, Greueltaten und Leid hilflos ausgeliefert sahen. Es war Krieg und sie das einzige Opfer. Ihr war wie bei einem Flugzeugabsturz. Alles entzog sich ihres Einflusses und was ihr blieb war die Ecke in die sie sich kauerte, ihre Tränen als einzige Freiheit die sie noch hatte und ihr Wunsch zu leben.
In ihrer nutzlosen Zuflucht erstarrte sie, wagte nicht einen Muskel zu bewegen, als ob dadurch das drohende Unheil von selbst und untätig vorüberziehen würde. Sie lauschte in die Stille und sog jedes noch so schwache, unbedeutsam scheinende Geräusch in sich auf.
Das sanfte Streifen von Stoff, gleichgültiges Klicken eines Schalters, daß diese Szenerie für einen Bruchteil einer Sekunde in die Realität schleuderte, Plätschern von Wasser in einem Glas. Hände umschlossen ihre Füße und zogen sie aus ihrem Versteck und lösten damit hysterisches unkontrolliertes Winden aus, daß ihr Körper für einen Weg zur Freiheit hielt. Sie fiel zurück in ihre Starre als sie einen kalten, metallenen Lauf in ihr Genick gepreßt spürte. Nun saß sie auf ihrem Lager und ihr Peiniger machte sich daran, mit einer Hand das Gerüst zu öffnen und es ihr abzunehmen. Ebenso ihre Handschellen.
Zum ersten Mal wurde ihr Sicht auf das sie umgebende gewährt. Sie saß auf einer Matratze in der Größe eines geräumigen Ehebettes, die wie ein Gitterbett eingezäunt und durch eine schmale Gangbreite von einem schweren Vorhang getrennt war. Die Wände waren grau, sauber und glatt. Vor ihr stand ein Tablett mit einem Teller voll von Hühnerteilen, ein Krug und ein Glas gefüllt mit Wasser und ein Zettel.

"Wenn du schreist erschieße ich dich.
Wenn du versuchst zu Entkommen erschieße ich dich.
Wenn du dich umdrehst erschieße ich dich.
Iß, und wenn du fertig bist gib die Hände wieder hinter den Rücken."

Der Text war handschriftlich geschrieben, und obwohl sich der Verfasser offensichtlich Mühe gegeben hatte, das Schriftbild zu verfälschen, so erweckte es doch das Gefühl bekannt zu sein. Ihr war es jedoch nicht möglich es einer bekannten Person zuzuordnen. Und obwohl das Essen gut war und tat mußte sie jeden Bissen in ihren Magen pressen, den das Grauen, daß jemand, den sie kannte, eine Waffe an ihren Hals hielt, in seiner Gewalt hatte. Sie wollte sich übergeben, doch ihr Körper tat ihr diesen Gefallen nicht.
"Wer sind sie und was wollen sie von mir?"
Schweigen.
"Meine Eltern sind nicht reich."
Weiterhin Schweigen. Die Antwort bestand bloß darin, daß der Lauf fester in ihr Fleisch gedrückt wurde, was ihren nächsten Satz bereits im Aufkommen erstickte.
Sie aß zu Ende, verschränkte ihre Arme hinter dem Rücken, und wurde genauso fixiert wie vor der Fütterung alleine zurückgelassen.

Dieser neue Anstoß brachte ihre Gedanken wieder zum Kreisen. So sehr sie es auch versuchte war sie doch nicht in der Lage nachzuvollziehen, wer ihr soetwas antun wollte den sie kannte. Sie war der Meinung keines dieser Cheerleaderflittchen oder verwöhnten Zicken zu sein, die sich nur mit den Coolsten oder Reichsten oder den Footballstars der Schule beschäftigte. Im Grunde war sie bloß eine graue Maus, die gerne bereit war jeder Person eine Freundin zu sein. Auch gab es keinen Ex-Freund oder enttäuschten Verehrer, denn seit fünf glücklichen Monaten hatte sie ihren persönlichen Prinzen auf dem weißen Roß gefunden, der ihr alles gab was sie brauchte und alles bekam, was er wollte. Sie wollte zu ihm. Sie wollte in seinen Armen liegen und die Ereignislosigkeit des Alltags in sich spüren, sich in ihr und dem Glück einwickeln. Wieder blieb ihr der Schmerz und die Tränen, die sie in Delirium der Agonie, der Dunkelheit und der Einsamkeit begleiteten.

Nach scheinbaren Jahren des Leides mußte sie eingeschlafen sein, als sie durch ein schnappendes Schloß aufgeschreckt wurde. Schritte folgten. Streifen des Vorhangs. Ein Streichholz flammte. Das Ahnen des Grauens fegte ihren Kopf leer und nahm ihr selbst den Reflex der Schutzsuche. Er legte sich neben sie und der Zärtlichkeit einer Schlange gleich streichelte er ihren Körper.
Sie wünschte sich er würde sie in Ruhe lassen, ihr Freiheit und Leben zurückgeben. Wie ein böser Traum schien ihr alles. Ein Traum, der an den Grundfesten des Verstandes rüttelte. In dem ein gesichtsloses Monster den Träumenden jagt. Wenn plötzlich alle Muskeln den Dienst verwehren, und das Opfer ihres eigenen Willens der Vernichtung preisgeben. Das Verderben sich mit großen, unaufhaltsamen Schritten nähert, und mit jedem Stück das es vorrückt seine Fratze verändert, sie in die des abgrundtief Bösen entgleisen läßt. Doch diesmal gab es kein errettendes Erwachen, bei dem einen schlichte Dunkelheit, die bekannten vier Wände und der Alltag auffangen.
All das wußte sie, doch schien es ihr so dermaßen unwirklich, daß tief in ihr die Hoffnung ständig sich regte einfach zu erwachen um ihren Freund anrufen und ihm sagen zu können, daß sie ihn liebte.
Es waren Schlangen in ihrem Bauch, die sich wanden, aneinander rieben, danach trachteten ihr Gefängnis in Stücke zu reißen, sich jedoch trotzdem vermehrten und kleine Würmer gebaren, die ihren Weg suchten, indem sie an den Wänden des Inneren ihres Wirtes entlangkrochen, auch um sich davon zu ernähren. Der Weg zum Mund war ihre Möglichkeit zur Flucht die sie wählten.
Er wollte mehr.
Sie spürte es.
Er nahm es sich.
Sie spürte wie die Schlangen in ihr wuchsen, sich aufblähten um ihre Ketten zu sprengen, sie zum Zerbersten zu bringen. Sie sollte schreien, sich freikämpfen doch die Ketten nahmen ihr all das und zwangen sie dazu, schlicht auf das Ende zu warten.

Als sie wieder alleine war, brach sie zusammen. Er hatte ihr alles genommen. Ihr Leben, das Geschenk Freiheit, das ihr ins Leben mitgegeben worden war als einzigen Lebenszweck für den zu leben es sich lohnte, ihren Glauben an das Gute hatte er ihr entrissen, ihn zerschmettert und ihr als Fraß in den Rachen geschoben, gleich einem Beweis dafür, daß es nichts Gutes mehr auf Erden geben sollte.
Güte als dünner trügerischer Film auf einer Kloake des Verlangens nach eigener Befriedigung. Ein endloser Schlund der Verachtung, gesäumt mit den Leichen derer, die nicht lernen konnten diesen Strom zu nutzen. Vorbei an Wächtern, die ewige Quelle der Energie des Hasses. Sie staken ihre Fühler in die Masse und vollbrachten unermüdlich ihr Werk, die Blitze abzugeben, die die Welt mit Grauen erfüllten, die Beugsamen gegeneinander aufhetzten. Er hatte sie in die Hölle geworfen und war mit der Gleichgültigkeit eines befriedigten Geistes gegangen, die ihn das Leiden einer Seele vergessen ließen. Er hatte es im Fernsehen gesehen und hatte es nicht nötig darüber nachzudenken, den das Spiel war vorüber. Er hatte ihre Menschlichkeit zerstört.

Die Stille war perfekt.
Genauso ihr Haß.
Es gab nichts Gutes mehr auf Erden und es gab keine Erde für sie, auf die sie zurückkehren konnte.
Eine Reflexion ihres Freundes trieb in einer weit entfernten Welt. Wie wenn man unter Wasser gegen den Himmel schaut. An den Ufern des Lebens die Freunde sieht. Man sieht Bilder, verschwommen, gebrochen. Rundherum Stille, die das, was man sieht verzerrt und aus der gewohnten Realität heraus-versetzt. Einst hatte sie in seiner Welt gelebt. Sie liebte ihn immer noch, doch war sie zu einem Monster geworden, das nicht mehr würdig war in seiner Realität zu leben. Es war alles verloren und auf sie wartete nurmehr der Tod. Doch sie wollte ihn sehen. Das unmenschliche Wesen der Hölle, das alles mit einem Schlag vernichtet hatte.

Sie war kein Mensch mehr. Auch sie war zu einem seelenlosen Tier geworden, lauernd auf ihren Peiniger um ihm die Maske zu nehmen und ihm endgültig gegenüber zu stehen. Die Zeit war auf ihrer Seite und verbündete sich mit ihr, als sich die Tür wieder öffnete und die Stiegen seine Ankunft verkündeten. Das sanfte Streifen von Stoff, gleichgültiges Klicken eines Schalters, das die Szenerie für einen Bruchteil einer Sekunde in die Realität schleuderte, Plätschern von Wasser in einem Glas. Er nahm ihr ihre Ketten und Kopfgerüst ab. Sie sah wieder den -teller vor sich, doch war er ohne Bedeutung für sie.
Sie spürte wieder den Lauf in ihrem Genick, doch war er ohne Bedeutung für sie.
Mit einem Ruck drehte sie sich um.
Die Welt blieb stehen.
"Du bist ein Teil meines Fleisches. Mein Bruder.
Wir haben dasselbe Leben, die selben Eltern, die uns lieben und uns alles ermöglicht haben. Warum."
Er hatte nicht damit gerechnet. Er hatte es einkalkuliert wie eine Variable in einer Gleichung, doch er hatte es nicht erwartet. Er mußte seinen Grundsätzen gehorchen und dieser Zwiespalt ließ ihm nichts mehr in seiner Hand.
Nur den Tod als sich bloß einige wenige Muskeln in seiner Hand spannten.
"Weil ich dich liebe"

 
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Kommentare  

wahnsinn, wie es der autor versteht, spannung aufzubauen. mich hats so gegruselt, und ich konnte nicht mehr aufhören zu lesen.
ich mag solche geschichten, obwohl sie mir eine basis für meine alpträume in der nacht bieten.
schön und schiach zugleich!


Kersti (27.03.2002)

Super Pezi!!!!!!!!!! super!!!!! So wie es der Töpfer gfallt!!! dein Lesterschwein

bullysmanitugirl (10.10.2001)

Ein gruseliges Szenario, gut geschrieben. Aber gefallen tut es mir nicht - mich schaudert's.

Gudrun (20.05.2001)

faszinierender Schreibstill...gefällt mir gut :)

purtropa (20.04.2001)

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