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Der Tanz im Mondschein

Kurzgeschichten · Romantisches
Jacob
Die Fahrt war endlos verlaufen. Laura hatte neben mir gesessen, leise und zurückhaltend auf meine Fragen geantwortet, sogar hier und da verhalten gelacht.
Ich fühlte, wie sich die Spannung steigerte, je näher wir zu unserem Haus kamen.
Kaum hatte ich unseren Wagen in die Garage gerollt, rannte sie mir voraus die Treppe zum Eingang empor, wartete ungeduldig, während ich mit dem Schlüssel herumfummelte und endlich die Tür aufgesperrt hatte. Sie lief hinein, ich folgte ihr, und als ich danach den großen, hohen Wohnraum betrat, hüpfte sie wie eine Ballerina über den knarrenden Holzboden, bewegte ihre Arme und Hände in anmutigem Rhythmus zu einer Musik, die wohl nur sie hörte. Sie tänzelte weiter, blieb kurz vor der Terrassentür stehen, um den hauchdünnen Store beseitezuschieben.
Urplötzlich wirbelte sie wieder zurück zu mir, umarmte mich, und ein Lächeln umspielte ihren Mund.
"Ich bin wieder da! Ich fühle mich wie neu!" Dabei lachte sie silbern wie ein Kind, ohne Scheu, und gab nur ihrer Freude Ausdruck, dass sie aus einer Welt der Dunkelheit wieder aufgetaucht war, dass sie endlich wieder zu Hause war.
"Ich fürchte, ich bin nach wie vor der alte Jacob geblieben!"
Ihr Blick, undefinierbar, streifte den meinen, wich zurück und strich sich über die Hüften. Ihre Hände zitterten leicht, und ihre Finger fuhren über den Stoff, was der Bewegung eine erotischen Bedeutung verlieh.
Ich atmete auf. Der Verlust unseres Babys hatte ihrem narzisstischem Trieb nichts anhaben können. Wie oft hatte ich darüber gelächelt, wenn sie sich zu ihren sonderbaren täglichen Übungen zwang und überall Cremetöpfe, Isodrinkbüchsen, große und kleine Flakons mit Duftessenzen oder dunkelbraune, dickbäuchige Glasbehälter mit kostbaren, angeblich energetisch aufgeladenen Kräutersäften standen.
Aber ihre Disziplin und auch das Geld waren gut angelegt - ihre Figur war so fest und reizvoll wie die eines jungen Mädchens.
Abrupt wandte sie sich leicht ab, hielt mitten in der Bewegung inne und sandte mir aus dem Augenwinkel einen trägen Blick zu, der Unbehagen in mir auslöste.
"Habe ich dir schon gesagt, dass ich jetzt nur noch einmal im Monat in die Selbsthilfegruppe gehen muss?"
"Nein! Aber das ist schön! Das bedeutet doch, dass du einen enormen Fortschritt gemacht hast, nicht?"
Ihr Nicken wirkte zufrieden. Laura streckte ihre Arme in die Luft und drehte eine zarte Pirouette, anmutig versank sie vor mir in einem Knicks.
Etwas unbeholfen nagte ich an der Unterlippe. Das Gespräch, das ich mit ihrem Psychiater, Herrn Dr. Freier, hatte, schoss mir durch den Kopf.
"Was Ihre Frau braucht, ist nur ein wenig Verständnis. Oder sagen wir mal so: Was wir in den paar Wochen erreicht haben, ist eine Besserung, keine Heilung! Ob dieser Zustand einen Monat, ein Jahr oder noch länger anhält, hängt von der Vielzahl von Einflüssen ab, denn, ihr ist bewußt, dass sie nie mehr schwanger werden kann!"
Ein Jahr oder noch länger! hatte er gesagt und mir schauderte, dabei starrte ich in Dr. Walter Freiers Rücken, der am Fenster stand und in den Park hinausschaute. Seine große, schlanke Gestalt war mit einem typischen Arztkittel bekleidet; sein dichtes, dunkelblondes Haar fiel lockig auf den weißen Hemdkragen.
Ein Dichter müsste so von hinten aussehen oder vielleicht ein Musiker, dachte ich damals und wartete darauf, dass er weitersprach.
Als er sich umdrehte, erinnerte nichts mehr an einen sensiblen Künstler. Er besaß eine wuchtige Stirn, und das Haar begann erst in der Schädelmitte und lag in einzelnen, spärlich langgezogenen Strähnen auf der Kopfhaut. Der unangenehme Eindruck wich, sobald er zu lächeln begann: ein freundliches, allwissendes und fast intimes Lächeln, und wenn er dann zu sprechen begann, lauschte man seiner melodischen Stimme:
"...Halten Sie sich mit überflüssigem Mitleid zurück! Versuchen Sie mit ihr einen Neuanfang! Beobachten Sie Ihre Frau und lassen Sie sie die Regeln bestimmen. Geben Sie nach, wenn sie sich launisch oder seltsam benehmen sollte!"
Das tue ich schon seit über 13 Jahren, wollte ich antworten, doch ich unterließ es.
"Überraschen Sie Ihre Frau!" hörte ich Dr. Freier wie durch Watte sagen. "Lassen Sie sich mal richtig fallen!"
Aha, sie hatte ihm erzählt, dass ich ein Langweiler war. Ich tat so, als wenn ich seinen interessierten fragenden Blick nicht deuten könnte, und nahm eine wartende Haltung ein.
"Können Sie sich eigentlich fallen lassen?"
"Würd' ich gern", entfuhr es mir.
"Was hindert Sie daran?"
Ich hob die Hände, ließ sie hilflos wieder sinken.
Er musterte mich kurz, setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Als wenn er mich vergessen hätte, widmete er seine Aufmerksamkeit dem Bleistiftköcher, wählte einen Kugelschreiber aus und versank in dessen Betrachtung.
Wieder wartete ich, und erst als ich nervös die Beinstellung wechselte und das Leder des Sessels an meiner Jeans einen knirschenden Ton in die Stille schnitt, seufzte er und sagte:
"Geben Sie Ihren Gefühlen nach! Fragen Sie nicht nach dem Warum oder Wieso. Brechen Sie aus dem Trott aus! Laura versteht das!"

"Jacob?" Lauras Stimme klang wie ein Hauch, der zu mir herüberschwebte.
Sie hob den Kopf, schaute mich fragend an, langsam glitt ihr Körper an mir hoch. Ich spürte den sanften Druck ihrer Hände auf meinen Schultern, und dann wanderten ihre Finger durch meine schütteren Haare. Laura berührte meine Wange, strich zärtlich mit den Fingerspitzen über meine Lippen.
"Lass uns ein Glas Wein trinken und wir machen es uns nett! Vielleicht nehme ich eine Dusche? Kommst du mit?
Ihre Stimme klang plötzlich heiser, und verführerisch, so verheißungsvoll. Ich fühlte einen Stich. Das war Laura! Die Laura, wie ich sie kannte! Liebte! Hübsch, gescheit, dabei narzisstisch und auch launisch. Nie hatte ich einen so lebensgierigeren Menschen wie sie kennengelernt, bis...
Am liebsten hätte ich ihre Hände heruntergeschlagen! Wie hatte der gute Onkel Freier gesagt? Geben Sie Ihren Gefühlen nach! Sollte ich sie etwa von mir stoßen? Jetzt?
"Lassen Sie Laura die Regeln bestimmen", ermahnte mich die Stimme Dr. Freiers.
"Eine wundervolle Idee!" hörte ich mich sagen. Vermutlich, nein, jetzt wusste ich es: Ich gehörte eben auch zu den Männern, die der komplizierten Psyche einer Frau, die um ihr totes Baby so trauerte, dass sie ihm folgen wollte, völlig hilflos gegenüberstand.
Verdammt, ich hatte schließlich auch ein Kind verloren! Daran hatte wohl keiner gedacht! Warum nahm dieser kluge Psychiater an, dass ich das alles locker weggesteckt hatte?
Ich hatte geheult wie ein kleiner einsamer Welpe, der zum ersten Mal alleine in seiner Hundehütte saß, und da waren keine mütterlichen prallgefüllten Zitzen, die meinen Hunger stillten, auch kein weiches kuscheliges Fell, das mir Geborgenheit bot, mir die Einsamkeit nahm.
"Hörst du mir überhaupt zu?"
Gewaltsam riss ich mich aus den Gedanken los.
"Ich finde, der Anlaß verlangt nach mehr als nur einem Glas Wein!" Ich versuchte, meine Stimme fröhlich mit festlichem Timbre klingen zu lassen.
Ein warmes Licht trat in Lauras Augen. Ich schob sie leicht von mir und ging in die Küche.
Sie setzte sich auf den Küchentisch und sah zu, wie ich die Flasche entkorkte.
Ich hob den Blick, sie beugte sich leicht vor, und ihr tief ausgeschnittenes Kleid ließ die wohlgerundeten Brustansätze sehen.
Wir setzten uns auf die Couch, und Laura kuschelte sich neben mich. Ihre Stimme nahm einen immer hektischeren Ton an, wenn sie über Dinge sprach, die wir versäumt hatten und unbedingt noch nachholen mussten, dabei tranken wir die Flasche leer.
Warum kann sie nicht einfach still sein? dachte ich und unterdrückte meine Gereiztheit. Die romantische Musik, die vertraute Nähe und der Wein würden reichen, die Geheimnisse vieler Liebesnächte erneut zu lüften.
Zärtlich strich ich ihr ein Haarsträhnchen aus der Stirn, hauchte ihr einen Kuss aufs Ohr und flüsterte: "Gilt dein Angebot noch?"
Ein fragendes Lächeln hob ihre Augenbrauen. "Oh, das ist eine gute Idee! Kommst du bald nach?"
"Soll...?"
"Nein!"
Das kam rasch, klar und deutlich, gleich einem Befehl. Ich schaute ihr nach, wie sie die Treppe hinaufging, mit schwingenden Hüften, eine Hand am Rücken, um den Reißverschluß ihres Kleides öffnen.
Sobald sie meinen Blicken verschwunden war, eilte ich zum Barschrank, nahm eine Flasche Wodka heraus und kippte mir mindestens drei Fingerbreit direkt in den Mund. Brennend rann die Flüssigkeit meine Kehle hinab. Angewidert schraubte ich die Flasche zu und stellte sie wieder zurück. Was tat ich da? Ich mochte Wodka überhaupt nicht.
Eine innere Unruhe erfasste mich. Am liebsten hätte ich das Haus verlassen, und Laura! Wollte ich das? Bevor ich mir eine Antwort geben konnte, schüttelte ich energisch den Kopf! Nein!
Wenn ich jetzt meinen Gefühlen nachgab und einfach aus dem Haus flüchtete, würde das auch Laura verstehen? Geringschätzig lächelte ich vor mich hin. Guter Dr. Freier. Nein, ich glaube nicht, dass Laura dies verstehen würde. Ich wünschte mir nichts mehr, als dass es wieder so werden könnte wie früher, bevor...
Entschlossen wischte ich diesen Gedanken weg, trabte durch den langen Flur, blickte mich um, als wenn ich zum ersten Mal die wunderschönen Stuckarbeiten sah, und ging die Treppe hoch, und hörte, wie das Wasser in die Badewanne plätscherte.

Laura
Ich hatte mich anders entschlossen. Keine Dusche - ein Bad!
Ich nahm Teelichter, setzte mich auf dem Boden und formte ein Herz daraus. Für die Aromalampe wählte ich Vanille und Rose; kichernd fügte ich noch ein paar Tropfen "Liebestraum" hinzu. Ich öffnete die Wasserhähne und regulierte die Temperatur auf eine angenehme Wärme.
Eine unerklärliche Befangenheit machte sich in mir breit. Ich hatte so eine Angst, Angst vor dem, was Dr. Freier einen Neuanfang nannte.
So verführerisch und verheißungsvoll wie ich mich Jacob gegenüber gab, war ich überhaupt nicht.
Meine Güte, dabei sind wir schon so lange verheiratet, und auch vorher waren wir schon etliche Jahre zusammen gewesen. Ich weiß nicht, wie viele!
Jacob würde es bestimmt wissen. Solche Dinge weiß er immer! Er ist derjenige, der den Hochzeitstag nicht vergisst. Er ist ein romantischer Pedant und ich die Lebensgierige, die Verrückte, die ihm manchmal das Leben unerträglich machte.
Aber an Jacob schien alles abzuprallen; wenn ich ausrastete, blieb er ruhig - er ertrug mich einfach.
Seine Stille, seine Beherrschtheit reizten mich.
Manchmal fragte ich mich, wie er wohl über mich dachte! Sogar seine grauen Augen blieben mir meist ein Geheimnis, aber damals, als er mich fand, spiegelten sich so viel Angst und Hilflosigkeit darin. Er litt - meinetwegen. Jedesmal wenn ich daran dachte, fühlte ich mich so erbärmlich, so schuldig! Und trotzdem: warum hatte er nicht ein einziges Mal geheult oder geschrien, mit dem Fuß aufgestampft oder Türen zugeknallt? Verdammt, er saß nur an meinem Bett, hielt meine Hand, hin und wieder sprach er davon, dass ich schon darüber hinwegkommen würde! Ich wäre ihm sowieso das Wichtigste! Er sprach mit mir so pastoral und salbungsvoll, wie mit einem trotzigem Kind, das keine Lust hatte, seine Vitamine zu schlucken oder sein Zimmer aufzuräumen.
Ich hielt ihn damals für einen Scheißkerl. Für einen arroganten, aufgeblasenen und gottverdammten Scheißkerl.
Und dann schlug meine Wut um in eine grenzenlose Trauer. Ich stürzte in ein tiefes Loch, das mich wie ein Strudel nach unten riss, und dort war alles schwarz und drückend und drohend, und mit jedem Atemzug sog ich Angst ein. Ich hatte Angst! Angst vor allem - vor Menschen, vor Situationen, vor mir! Ich welkte dahin wie eine Rose ohne Wasser, bekam stumpfe Dornen. Ich wollte weg, raus aus dieser Dunkelheit, fliehen - fliehen bis ans Ende der Welt - in diesem Moment sah ich nur einen Ausweg, aus diesem Tal der Finsternis zu entfliehen, diesem endlich ein Ende zu machen: Sterben! Tod! Sämtliche Möglichkeiten zog ich in Erwägung. Tagelang dachte ich darüber nach, plante und hoffte auf ein winziges Fünkchen Licht - unmerklich zerfiel ich in zwei Hälften. Die eine in mir wurde der Täter, der immer stärker wurde - die andere das Opfer. Teilnahmslos. Hilflos. Ausgeliefert.
Unwillig wischte ich die Erinnerung weg. Ich wollte mich nicht analysieren, nicht jetzt! Das konnte ich in meiner Selbstmörderleingruppe. Der reinste Seelenstriptease. Ich schämte mich für diesen zynischen Gedanken! Es war den anderen gegenüber unfair. Wäre mal interessant zu wissen, warum er den Beruf des Seelenklempners auserkoren hatte. Eine aus der Selbsthilfegruppe, Helma hieß sie, glaub ich, war der Meinung, dass Psychoanalyse nichts anderes sei, als krankhafte Neugierde von Verklemmten, und irgendwann einmal sei ein Beruf daraus entstanden. Ob Psychiater wissen, dass sie von ihren Patienten auch analysiert werden? Ich jedenfalls tat es und ämüsierte mich über seine Marotte, dass er, wenn er hinter dem Schreibtisch saß, seine Schuhe abstreifte, seine Füße überkreuzte und die Schuhe hin- und herschob.
"Fangen Sie und Jacob noch einmal an! Begraben Sie gemeinsam ihr Leid!" hatte er gesagt. Es klang so leicht wie "kaufen Sie Kartoffeln lieber im Bioladen, die sind gesünder!"
"Ersetzen Sie ihre Trauer, Ihre Unsicherheit durch etwas, was sie gerne tun!"
Fragend hatte ich ihn angesehen. Sein freundliches Lächeln wirkte so beruhigend und doch gleichzeitig ausdruckslos wie immer, wenn er mit mir sprach. Wenn er nicht mit seinen Schuhen spielte oder die Spitzen seiner Kugelschreiber betrachtete, legte er die Krankenakte exakt nach den Kanten seiner Schreibtischunterlage aus.
Er wartete auf meine Antwort, fragend sah er mich an.
"Ich tanze gerne", sagte ich und fast gegen meinen Willen fügte ich hinzu: "Als Kind wollte ich Tänzerin werden!"
Erstaunt zuckte seine rechte Augenbraue in die Höhe, dann rang er sich ein flüchtiges Lächeln ab.
"Dann tanzen Sie, Laura!"
Das Wasser plätscherte in die Badewanne.
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich vor dem Spiegel stand, ich hatte hineingesehen, ohne mich wirklich zu erkennen. Mir blickte ein Gesicht entgegen - fremd, mit einer steilen übellaunigen Falte zwischen den Brauen.
Jacob?!? Wo er wohl blieb? Und drehte den Wasserhahn zu. In einer Schublade der Badezimmerkommode wühlte ich nach der Wimpertusche, konnte mich für die Lippenstiftfarbe nicht entscheiden und schminkte meinen Mund nicht. Der Lippenstift würde sowieso auf Jacobs Hemdkragen landen, die Wimpertusche Fliegenbeinchen aufs Kissen drücken. Noch ein Hauch Parfüm und ichbeäugte kritisch mein Teelichterherz, schnupperte den lieblichen Duft, den die Aromalampe verströmte, nahm hier und da eine kleine Korrektur mit einer Akribie vor, als wenn ich ein erlesenes Festmenü zusammenstellen wollte.
Als ich wieder ins Schlafzimmer kam, stand Jacob an der Tür zum Flur. Er schaute mich an, das Lächeln erreichte seine Augen nicht - seine Lippen öffneten sich - aber nicht, um zu sprechen.
Ich selbst brachte kein Wort heraus, und die Luft zwischen uns schien immer undurchdringlicher zu werden.
Aber dann, dann kam Jakob einen kaum merklich tastenden Schritt, als wenn er die Oberfläche eines erst in der letzten Nacht zugefrorenen Teichs begehen wollte, und noch einen, auf mich zu. Er hob die Arme, die für den Bruchteil einer Sekunde hilflos in der Luft hingen - und breitete er sie aus.
Und dann hielten mich seine Arme umschlungen, und ich spürte die warme Kraft, die sich um meinen Körper legte. Ich hob den Kopf und presste meine Lippen auf seine Lippen. Es war wie ein verzweifelte Versuch, die Erinnerung an etwas, was früher so vertraut gewesen war. Ich fühlte sein Lächeln an meiner Wange und stieß einen Seufzer aus.
Wir küssten einander lange und überschwenglich, hörten kaum, wie das Telefon läutete.
"Geh nicht ran", murmelte ich und hasste diesen Anrufer. Rein zufällig streifte mein Blick die Uhr. Wer zum Teufel, falls es nicht dieser Freier sein sollte, wagte uns um diese Zeit noch zu stören?
Das Telefon klingelte unbarmherzig weiter.
Jacob warf mir einen Blick des Bedauerns zu.
Plötzlich fühlte ich seine Hand an meinem Rücken, er zog den Reißverschluß hoch.
"Komm!"
"Wo willst du hin!"
Ein verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht, und zwei Lachfaltenkränzchen zauberten etwas Geheimnisvolles in seine Augen. Er nahm mich an die Hand und zog mich aus dem Zimmer, durch den Flur, die Treppe hinab.
"Meine Schuhe!"
Wir standen vor dem Haus. Die Tür fiel ins Schloss.
"Warum ziehen wir nicht einfach den verdammten Stecker raus?"
"Wäre eine Möglichkeit", murmelte er und schloss den Wagen auf.
"Steig ein!"
"Du bist verrückt!" Was war mit ihm bloß los? fragte ich mich, und ein neugieriges Unbehagen machte sich in mir breit.
"Das wolltest du doch immer!"
Dabei grinste er breit. Es stimmte. Wie oft hatte ich mir gewünscht, dass sich Jacob einmal gehen ließ, dass er einmal aus einem Impuls heraus reagieren würde.
Wenn ich an gewissen Freitagabenden nach Hause kam, völlig geschafft von der Hektik des Tages, ihn in der Küche werkeln hörte, dann den gedeckten Tisch mit Silberleuchtern und handgestärkten Servietten sah und neben der Stereoanlage in fast chronologischer Reihenfolge unsere "Lieder" lagen, dann wusste ich, Jacob bot mir wieder einen romantischen Abend; er würde mich aufmerksam bedienen, artig würde ich seine kulinarischen Kochkünste loben, mit Champagner "auf uns" anstoßen und ein zwei Stündchen später mit ihm nach oben gehen, um mich dann einem vertrauten Ritus hingeben.
Wir fuhren durch die sternenklare Nacht. Der Mond hing wie eine große silberne Scheibe am nachtschwarzen Himmel. Dunstiger Nebel kroch über Wiesen und Feldern, das Licht der Sterne und des Mondes verlieh der Landschaft etwas Gespenstisches.
Im Autoradio spielten alte Schlager, aus einer Zeit des Hula-Hopp, Twist and Rock'n Roll, der Beginn der Autokinos, der Hot-Dogs und Burgers.
Wir fuhren hügelwärts, bis der schmale Weg endete.
"Steig aus!" forderte er mich auf und öffnete den Wagenschlag.
"Ohne Schuhe?" kicherte ich und amüsierte mich, wie er sich hilflos am Kinn kratzte.
"Verdammt, daran hatte ich gar nicht gedacht!"
"An was?" erkundigte ich mich neugierig.
"Ich... ich wollte im Mondschein mit dir tanzen, aber ohne..."
"Na los, ich denke, du willst mit mir tanzen?" Ich tänzelte hin und her und wiegte mich nach der Melodie.
Es war ihm anzusehen, wie unbehaglich er sich fühlte. Nach so vielen Jahren der sorgfältigen Planung, hatte er es geschafft, einmal spontan zu handeln.
"Du wirst dich erkälten!" Dabei lächelte er verlegen.
"Na und?"
"Es ist kalt!"
"Dann wärme mich!"
Ich tanzte auf ihn zu und umarmte ihn. Ich roch seinen vertrauten Duft, spürte seine Nähe.
Ich legte meine Wange an seine, und ein wunderbares Gefühl voller Zärtlichkeit durchströmte mich.
Er räusperte sich, seine Stimme klang belegt, als er in mein Ohr flüsterte: "Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt! Ich wollte mit dir wie damals ...", er lachte verhalten. "Ich wollte... Ich hätte das besser planen...."
Bevor er zu Ende sprechen konnte, legte ich meine Hand auf seinen Mund.
Jacob nahm meine Hände herunter und küsste die Innenflächen. Unsere Augen versanken ineinander, und in diesem Moment verspürte ich soviel Zuneigung. Mir zuliebe war er über seinen Schatten gesprungen, hatte versucht, einfach mal spontan und verrückt zu handeln.
"Ich liebe dich, Laura", murmelte er. "Lass uns nach Hause fahren. Hast du übrigens das Badewasser abgedreht?"
Ich lächelte, wurde unsicher, tanzte ein paar Schritte über die Wiese und spürte den kühlen Nachttau an meinen nackten Füßen.
Jacob hatte recht, ich würde mich erkälten.
 
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Kommentare  

Gut gelungen! Auch ich hatte das Gefühl, dass Laura in Gefahr schwebt und war erleichtert, dass es gut wird: falls du das beabsichtigt hast, dann wirklich alle Achtung!

Susan (02.02.2004)

Wieder einmal wunderbar erzählt, mit detailreicher
und ausgereifter Sprachwahl. Interessant ist hier,
daß unterschiedliche Teile der Geschichte von den
beiden Protagonisten wiedergegeben wird, wodurch
der Eindruck entsteht, es sind zwei verschiedene
Stories, was sie ja auch in Wirklichkeit sind, denn
jeder erlebt alles doch auf seine Weise. Klasse!

Aber hier hast du was vergessen, glaube ich:
<< Jacob?!? Wo er wohl blieb? Und drehte den
Wasserhahn zu. >>


Trainspotterin (24.03.2003)

Klasse!
Die Geschichte streichelte mich wie ein sanfter, warmer Wind im Mondschein und erinnerte mich an viele Dinge, die ich glaubte, zu kennen, aber doch nicht kenne.
Die Dialoge und die Erzählung verschmelzen so schön ineinander, dass man glaubt, selbst der Mittelpunkt der Geschichte zu sein!
Wirklich herausragend.


Marco Frohberger (30.01.2003)

Ich habe die Geschichte fast atemlos gelesen, sie hat mich sehr nachdenklich zurückgelassen. Kann es sein, dass man sich irgendwann ZU gut kennt? So gut, dass man glaubt, den Anderen gar nichts mehr fragen zu müssen - und deshalb den Moment verpasst, an dem man anfängt, sich in völlig verschiedene Richtungen zu entwickeln? Dass man "A" hört, wenn der Andere "B" gesagt hat?
Besser nicht zuviel nachdenken. Bekommt man Kopfschmerzen von.
Während des Lesens hatte ich für einen Moment das Gefühl, dass Laura eine Zeitlang in echter Gefahr war. Sehr sogar. Um so erleichterter war ich, dass zum Schluss alles darauf hindeutete, dass die beiden den kritischen Punkt überwunden hatten und nun für einen Neubeginn bereit sind.
5 Punkte. Prädikat "Muss man gelesen haben".


Gwenhwyfar (15.10.2002)

Das Interessante an dieser Geschichte ist, dass sie aus zwei verschiedenen Blickwinkeln erzählt wird; einmal aus Sicht des Mannes, einmal aus der Sicht der Frau. Schön geschrieben und das Happyend wird nicht durch zu aufdringliches Zuckerknirschen gestört.

Stefan Steinmetz (23.03.2002)

Die Geschichte ist echt klasse... und er Sichtwechsel gefällt mir auch sehr gut!!!

Maegumi (11.12.2001)

ich mag melancholische Geschichten... ob die beiden es schaffen werden?

christine (07.08.2001)

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