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5 Seiten

Augenblick

Trauriges · Kurzgeschichten · Sommer/Urlaub/Reise
© Martinol
Das Mädchen entschloss sich nach einigem Hin und Her, heute doch nicht zum Supermarkt zu gehen, sondern ihre notwendigen Einkäufe beim etwas weiter weg gelegenen und wesentlich umständlicher zu erreichenden Greißler zu erledigen. Sie war am Vortag auf einem Fest in einem Nachbarort gewesen, erst in den frühen Morgenstunden heim gekommen und deshalb sehr müde; wahrscheinlich hatte sie auch noch einiges an Alkohol im Blut. Sie verfluchte ihre Mutter, die sie gebeten hatte, noch einige Dinge einzukaufen, da sie selbst nicht mehr dazu kommen würde da sie länger arbeiten musste. Eben erst aufgestanden, versuchte sie sich an die zu kaufenden Dinge zu erinnern. Trotz der Müdigkeit wusste sie, dass es eilte. Da es Samstag war und sie sich momentan absolut nicht mehr sicher war, wie lange dieser Greißler in dem kleinen Ort geöffnet hatte, da nämlich, wie für Samstage üblich, die Ladenöffnungszeiten sogar bei den Supermärkten verkürzt waren, und, wie sie meinte, die kleinen Greißler sicher nicht so lange offen hatten, musste sie sich beeilen. Das war schon immer so, dass diese Greißler und kleinen Lebensmittelnahversorgungsfamilienunternehmen Samstags um zwölf Uhr zusperrten, und die wenigen Greißler, die überhaupt noch existierten, machten sicher auch früh zu, weil es eben meistens alte Greißler waren, welche ihre Läden noch offen hielten, zumeist für die alten Einwohner der Ortschaften und Dörfer, die den Supermarktketten naturgemäß argwöhnisch gegenüberstanden, wie den meisten neumodischen, wie sie zu sagen pflegten, Einrichtungen der österreichischen oder europäischen Infrastruktur.

Das Mädchen schlüpfte überhastet in ihre Hose, warf sich irgendein Oberteil über und knotete ihre langen, glatten, dunkelblonden Haare zu einem Knödel zusammen, während sie in die schmutzigen und schon etwas zerrissenen Schuhe schlüpfte. Besonders auf die Haare war sie stolz, und seit gestern noch um einiges stolzer, denn ihr neuer Freund Mathias war sehr begeistert von ihren Haaren und dem Duft, der von ihnen ausging, was er auch auf dem Fest mehrmals meinte, als er ihr zärtlich durch die Haare strich. Bunte Fäden hingen an ihrer Erinnerung daran. Sie war sehr verliebt in ihn, und sie hatte ihm auch zugeflüstert, dass sie so glücklich sei, dass sie ihn kennen gelernt hatte. Endlos schien ihr die Zeit gewesen zu sein, als sie in seinen Armen gelegen hatte, im Halbdunkel vor der Halle, und er sie so gut er konnte gewärmt hatte. Sie war in seinen Augen ertrunken, und sie vermisste schon seit ihrem Erwachen am Morgen diesen Blick. Er würde bald zu ihr kommen, das hatten sie sich beim Abschied noch ausgemacht. Sie würden zusammen zu Mittag essen und anschließend einfach für einander da sein.
So lange war sie allein geblieben, so lange hatte sie gewartet bis der Richtige kam. Und jetzt schien es ihr als hätten sich ihre Träume selbständig gemacht, wären auf zauberhafte Art wahr und greifbar geworden – zu Fleisch und Blut und echter Liebe, sowie Augen wie Bergesgewässer.

Sie blickte an sich hinab und seufzte glücklich. Man konnte von ihr sagen sie sei „trendy“, ein schöneres Wort war „zeitgemäß“. Sie legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres, was man aber anhand ihrer Kleidung keineswegs bemerkte. Wie heutzutage üblich, kleidete sie sich underdressed und fast third - handed, um nicht zu sagen lumpig oder trashy.
Das Geld einsteckend rannte sie los, ein letzter Blick auf das Zeitgefäß trieb sie noch schneller voran.

Direkt vor dem Haus war der kleine Garten, den ihre Mutter so übertrieben pflegte, ihr ganzes Herzblut in die Rosenbüsche steckte (oder sie damit begoss). Der leicht gebogene Weg war gesäumt von den Büschen, und vereinzelte wild gewachsene Margeriten brachen dreist die Symmetrie. Man hatte auf einen Gartenzaun verzichtet und sich für kleinwüchsiges Gebüsch entschieden, das kaum kniehoch den Garten einzugrenzen suchte. Sie lief quer über die Wiese zur Straße, musste nach links zur Hauptstraße, die den Verkehr durch das Dorf fließen ließ. Einigen Pfützen, die vom Gewitter in der Früh übriggeblieben waren, wich sie mit Seitenschritten aus. Niemand zeigte sich auf der Straße. Wohl mussten die meisten noch arbeiten und würden erst am Nachmittag zurückkehren, mit den Einkäufen und dem Wochenendgesichtsausdruck, den das Mädchen im Moment keineswegs trug, sondern eher die stressverzerrte Maske eines Börsenangestellten.

Die Hauptstraße war von der Gasse, die das Mädchen behend entlang lief, nur zwischen zwei Häusern zu sehen, die links und rechts der T-Kreuzung zweistöckig aufstrebten und früher einmal Bauernhöfe gewesen waren. Die Fahrzeuge blitzten immer nur kurz in verwaschenen Farben auf, ihre Motorengeräusche hallten nur für einen Moment dem Betrachter entgegen, wie vergeistigte Fangarme metallischer Monstrositäten. Das Mädchen erreichte, schon leicht außer Atem, das Haus auf der linken Straßenseite, das an der Ecke zur Hauptstraße lag und gelb gestrichen war, als kurz vor ihr einer der sonst vorbeisausenden Wagen wie in Zeitlupe ihr entgegen zu fliegen schien, von einem unglaublich lauten Knall begleitet und verfolgt von den Splittern der Windschutzscheibe und des anderen Fahrzeugs Scheinwerfern, welches frontal in das abbiegende Auto geprallt war. Das Mädchen stolperte in vollem Lauf, streifte zu Boden fallend die gelbe Hauswand und schlug hart mit einem Stöhnen auf den kiesigen Asphalt des Gehsteigs auf, das verunfallte Auto nicht aus den Augen lassend. Die Augen weit aufgerissen sah sie, wie das Auto mit dem anderen Haus kollidierte und den Verputz penetrierte, zurückfederte und sich zur Seite drehte und funkensprühend ein Stückchen rutschte. So schnell auch alles passierte und so ohrenbetäubend laut es für diese eine Sekunde war, so still und erstarrt schien es im nächsten Moment zu sein. Das zischen des Kühlwassers, das auf den heißen Motorblock tropfte, das leise Nachhallen der Zerstörung und das Abbremsen der nachfolgenden Fahrzeuge fügten sich zu einer unheimlichen Symphonie zusammen. Kaum wahrzunehmendes Stöhnen drang aus dem auf der Seite liegenden Auto, nur drei oder vier Meter von dem Mädchen entfernt. Es roch nach Öl und Benzin, nach dem über den Boden geschliffenen Blech und Gummiabrieb, irgendwoher drangen die ersten Stimmen der Zuschauer.
Das Mädchen hatte die Luft angehalten, der Schock steckte sichtlich in ihren Knochen. Sie fasste sich jedoch schnell, stand auf und lehnte sich gegen die Hauswand, Atem schöpfend. Sie versuchte, ihre wie Blitze durch das Gehirn zuckenden Gedanken zu ordnen und zu Handeln, sie musste irgendetwas tun, dessen war sie sich sicher. Ihr Knie gab nach dem ersten Schritt nach. Sie war sehr hart aufgeschlagen, und als sie nach unten sah, hatte das Blut bereits den Stoff der Hose durchnässt. Für einen Moment blieb sie stehen, zupfte verhalten am Saum ihrer Oberkleidung. Als sie wieder auf den Wagen blickte kam er ihr seltsam bekannt vor. Das Gefühl des Schreckens wurde stärker, ihr Herzschlag kam ihr so fremd vor als gehöre er nicht ihr sondern einer stampfenden Maschine die mit jedem Pumpzyklus weiteres Grauen in ihren Körper pumpte. Diese Farbe... sie kannte den Wagen bestimmt, und trotz des beklemmenden Gefühls der Ohnmacht näherte sie sich dem Wagen. Die Windschutzscheibe fehlte völlig, das Dach war an der Beifahrerseite etwas eingedrückt, ringsum lagen Splitter und abgebrochene Teile in Öl- und Wasserpfützen. Und sie wollte auch noch etwas anderes gesehen haben. Das konnte nicht sein... Humpelnd erreichte sie das Wrack, stützte sich ab und blickte hinein. Der Fahrer hing in den Sicherheitsgurten quer über die Mittelkonsole wo die Handbremse war; er hing fast kopfüber da, und überall von seinem mit einem T-Shirt bekleideten Oberkörper bis zur Stirn war Blut, das Gesicht entstellend verzerrt, weiße Augäpfel quollen schmerzerstarrt unter dem Rot hervor. Sie stieß einen leisen, erstickten Schrei aus. Das dumpfe Entsetzen, das sie beim Anblick des Wagens so unbegreiflich persönlich empfand, klärte sich in schrecklicher Erkenntnis: es war das Auto von Mathias, ihrem Freund! Tränen drangen in ihre Augen, ihre Hand stützte sich in eine kleine Blutlache. Die Pumpe barst beinahe. Das Autoradio spielte noch immer Musik aus einer trotz der Härte des Aufpralls unbeschädigten Box und unterstrich das Unsägliche, das sich hier ereignete, mit auf groteske Art passenden traurigen Klängen einer Gruppe, die sie beide vergangene Nacht in genau diesem Wagen neben einander sitzend angehört hatten. Das Mädchen kniete sich halb in den Wagen, wischte sich mit der blutbeschmierten Hand die Tränen von der Wange und berührte dann Mathias‘ Gesicht, streichelte leicht über seine Stirn. Durch das Schluchzen hindurch flüsterte sie ein „oh Gott“ über die bebenden Lippen. Mathias schaute sie mit traurigem Blick an, öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch es kam nur ein wenig Blut, mit Speichel vermischt, hervor. Er hatte starke Schmerzen, das Mädchen wusste das. Sie legte einen Finger auf seinen Mund, gebot ihm, nichts zu sagen. Mit der anderen Hand versuchte sie, den Gurt zu lösen, hantierte an dem Schloss und bekam es nach mehreren Versuchen auch auf. Mathias rutschte nach unten, fiel halb auf das Mädchen und presste einen erstickten Schrei heraus. Ein Schwall Blut brach jetzt irgendwo heraus, das Mädchen sah erst jetzt die klaffende Wunde auf seiner Brust. Der Atem von Mathias wurde immer flacher. Sie saß jetzt an das Dach gelehnt da, Mathias halb auf ihrem Schoß gelegen, sein Kopf an ihrer linken Schulter angelehnt und Schutz suchend. Überall war Blut, alles war blutig, und ihre Tränen nahmen das Blut mit, das sie auf ihrer Wange verwischt hatte. Es stank nach Blut und Benzin und Tod. Wieder versuchte er etwas zu sagen, drehte den Kopf mit letzter Kraft, um sie anzusehen. Seine Augen waren für einen Moment ganz klar, sie sahen das Mädchen an und sagten mehr als Worte, und die Wärme, die von diesen Augen ausging, war von dieser Übernatürlichen Art wie sie es sich immer erhofft und die sie erst gestern Nacht kennen gelernt hatte. Mathias versuchte, ihre Hand zu greifen. Doch sein Arm war mehrfach gebrochen und der Schmerz ließ ihn den Atem anhalten. Sie wusste was jetzt kommen musste, sie hasste alles um sich herum für diesen Moment, und zu den Tränen der Trauer und des Entsetzens mischten sich die des ungerichteten und ohnmächtigen Hasses auf alles um sie herum. Mathias sah ihr noch immer in die Augen, seine Lippen öffneten sich langsam und zitternd. Das Mädchen nahm seine Hand und drückte sie ganz leicht, als er kaum wahrnehmbar „Ich liebe Dich“ hauchte und seine Augen, die noch immer in die ihren schauten, langsam brachen...

Sie wusste nicht mehr, wie lange sie in dem Wrack gesessen hatte, den toten Mathias, den toten Geliebten in ihren Armen umklammert, vor Schmerz und Verzweiflung schluchzend, ihr Gesicht in seinen Haaren vergraben und spürend, wie die letzte Wärme aus ihm wich. Alles war weit weg, nicht greifbar und unfassbar. Der letzte Blick war noch immer in ihrem Kopf, verdrängte alles andere. Und das einzig Reale, das blieb, war der Schmerz in ihr.
 
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