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5 Seiten

Hundertsechs Tage

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Shiva
Hundertsechs Tage. Hundertsechs Tage. Hundertsechs Tage. Keine Zeit wenn man bedenkt wielange ein Menschenleben dauert. Hundertundsechstage. Keine Zeit wenn ich bedenke, wieviel Tage in meinem Leben schon gekommen und gegangen sind. Selbst wenn mir scheint, als wäre schon die Zwanzigfache Zeit vergangen. Ich wippe vor und zurück. Andauernd. Mich friert. Es stinkt widerlich, mir ist übel, aber das ist mir schon seit Tagen. Ich fürchte mich. Ich fürchte mich sosehr, wie ich mich noch nie gefürchtet habe. Ich fürchte um mein Leben, um meinen Verstand, und ich fürchte die Zeit. Wieder geht mir die scheussliche Zahl durch den Kopf. Hundertundsechs Tage sind verdammt lange, wenn man nicht weiss, wielange man noch warten muss. Für jemanden der wartet, der hungert, der bangt, vergeht die Zeit nicht. Und wenn sie dann endlich vergangen ist, hat man nur noch mehr Angst. Weil ein Tag den anderen ablöst, und sich nichts ändert. Es bleibt die Angst, es bleibt der Hunger. Und die Hoffnung vergeht. Immer weniger kann man sich zuversichtlich geben. Wie gerne würde ich weinen. Doch ich darf nicht resignieren. Ich wippe wieder vor und zurück.
Der Hunger scheint mich zu zerfressen. Ich schleiche zu meinem Bett. Wenn ich schlafen kann, dann spüre ich nichts mehr. Kein Hunger kann mich dann quälen. Aber es fällt schwer, Schlaf zu finden, wenn man hungert. Teufelskreis. Hier, hier ist mein Bett. Ganz leise setze ich mich hinein, lege mich hin, ziehe die Decke über mich. Ich lausche, obwohl ich Angst habe vor dem Lauschen. Ich höre vorbeifahrende Autos , doch ansonsten ist es leise. Keine Schüsse, keine Schreie. Fast so als wäre Frieden. Fast so, als wäre alles, wie es war bevor die schrecklichen Hundertsechs Tage kamen.
Ich erinnere mich sehr gut daran, wie schön es war, als da draussen noch Frieden war. Damals hab ich mich ständig beklagt, über das Leben. Damals dachte ich, es würde mir an allem fehlen. An Freiheit, an Frieden, an Geld, Spass und Liebe. Heute aber weiss ich ,dass damals alles wirklich gut war, und dass ich ein gottverdammter Idiot war, weil ich das alles nicht zu schätzen wusste. Zwar war ich wirklich nie besonders reich , schön, beliebt oder begabt, sondern immer nur ein ganz normaler Durchschnittsmensch, aber heute weiss ich, dass ich wie eine Made im Speck lebte. Genauso wie all die anderen ganz normalen anderen Durchschnittsbürger das tun. Sind wir auch "nur" mittelmässig, durchschnittlich, wir haben alles, was man braucht, mehr noch, wir haben Luxus, und von diesem Luxus im Überfluss. Wahrscheinlich ist auch genau das das Problem. Soviel Überfluss, dass er süchtig macht nach noch mehr Überfluss. Paradoxon. Egal, ich will mich eigentlich nicht mehr daran erinnern. Weil es kann sein, dass es nie wieder so wird. Ich muss mich daran gewöhnen, dass Krieg ist. Und ich muss froh sein, wenn ich ihn überlebe..
Jäh werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Es klopft an der Türe. Mein Herz schlägt schneller. Viel schneller. Viel zu schnell. Meine Hände werden nass, krampfen sich zusammen, ich wage es nicht mehr zu atmen. Oh mein Gott, würde nur mein Herz aufhören zu schlagen. Es pocht so laut, dass ich Angst habe, dass man mich hören könnte, dass es mich verraten könnte. Herzschlag bedeutet Leben, und Leben bedeutet in meinem Fall Sterben.
Ich sehe wirre Bilder vor meinen Augen. Soldaten, wie sie die Türe aufstossen, mich finden, ich schreie, fliehe mich in eine Ecke, kauere mich zusammen, und sie kommen her, zu zweit treten sie mich, die ich wimmernd in der Ecke liegend um Gnade wimmert, treten mit schweren Stiefeln auf mich ein, und ich scheine wirklich schon Blut auf meinen Lippen zu spüren, während ich diese Bilder vor mir sehe. Die restlichen Soldaten schlagen meine Einrichtung zusammen, suchen Wertgegenstände, werfen meine Bilder hinunter, alles was mir was bedeutet hat, um dann zu mir zu kommen, mich festzuhalten, mir die Kleider vom Leibe zu reissen und mich zu schänden. Sie verletzen mich, meinen Leib, meine Seele, demütigen mich, schlagen mich, und dann kommt einer nach dem anderen über mich, solange bis der Lebenshauch mich verlassen wird.
Es klopft erneut. Eine sanfte Stimme sagt : "Mach auf, ich bins, mach auf, es ist alles gut, mach bitte auf, ich möchte mit dir sprechen und habe dir Lebensmittel mitgebracht " Es ist die Stimme meiner einstmals besten Freundin. Ich habe sie immer geliebt , mehr als mich selbst. Habe ihr blind vertraut. Hätte mein Leben für sie gegeben. Und jetzt steht sie vor der Türe um mich auszuliefern. Ich schliesse die Augen. Eine Träne rinnt über meine Wangen. Sogar sie.. Sogar sie ist nun gegen mich. Ich hasse den Krieg. Ich hasse ihn. Ich zähle die Sekunden. Sicher wird bald die Türe eingetreten, und dann werden die Bilder, die vorher noch Vorstellungen werden, zu Wirklichkeit. Plötzlich erinnere ich mich an Wortfetzen aus meiner Kindheit, ein Gebet, welches mein Vater mit mir immer gebetet hat, wenn er mich zu Bett brachte. Ich flüstere es kaum hörbar vor mich hin und bereite mich auf mein Sterben vor, indem ich mein Leben an mir vorbeilaufen lasse. Kindheit, Jugend und jetzt. Ich denke an den Tag Hundertundsieben. Versuche, mich daran zu erinnern, warum Krieg ist, und warum ich gesucht werde. Warum ich eigentlich sterben muss. Aber ich weiss es nicht. Ich habe seit Hundertundsechs Tagen versucht, mir alles auszureden, habe mir gesagt, dass kein Krieg ist, habe mir gesagt, dass ich nicht sterben muss, da ich mir dachte, ich könnte diese Zeit dieser Isolation nur so überstehen, indem ich mich in eine andere Welt träumen würde. Aber die menschliche Psyche ist hart. Alles was passiert ist, ist, dass ich der Isolation nicht entkommen konnte, sich kein einziger hoffnungsvoller, positiver Gedanke in meinem Kopf bilden konnte, und ich nur verdrängt habe, was aus welchem Grund passiert ist. Und das ist übel. Denn so kann ich auch keine Lösung finden. Das einzige was ich mit Sicherheit weiss, ist, wer ich bin, dass Krieg ist, und ich gesucht werde und sterben muss. Es klopft nochmal . Wie grausam das alles ist. Und plötzlich fühle ich, wie es warm wird zwischen meinen Beinen. Warm und nass. Es ekelt mich sosehr.

Hundertsechs Tage lang habe ich meine Wohnung nicht mehr verlassen, keinen Menschen mehr gesprochen, kein Licht und kein Wasser mehr gesehen. Denn ich muss mich verstecken. Und das beste versteck ist nunmal meine Wohnung. Kurz vor meiner Flucht habe ich jedem gesagt, dass ich in die Tschechei fliehen würde, da ich dachte, dass es eine gute Idee wäre, die Leute irrezuführen. Keiner würde glauben, dass sich ein Mensch in seiner eigenen Wohnung versteckt. Natürlich nicht. Die Leute würden wohl glauben, es wäre dämlich sich in seiner Wohnung zu verstecken. Ist es aber nicht. Immerhin hat mich noch keiner gefunden, es wird nur vermutet, dass ich hier bin. Und darum schicken sie Annegret, meine beste Freundin. Weil sie glauben, ich wäre dumm genug, ihr die Türe zu öffnen.
Ich wünschte jedoch, ich wäre wirklich woandershin geflohen. Etwas härteres, als sich in seiner eigenen Wohnung zu verstecken, gibt es wohl nicht. Zumindest nicht, wenn man die Fenster nicht öffnen kann ( geschweige denn die Vorhänge öffnen ), und wenn man kein Wasser benutzen darf, kein Licht einschalten oder ähnliches. Meine Notdurft verrichte ich in einen Eimer, den ich ins Badezimmer gestellt habe. Daher kommt dieser widerliche Gestank, der mir soviel Übelkeit bereitet. Denn obwohl die Badezimmertür immer geschlossen ist, riecht es in der ganzen Wohnung danach. Damit keiner merkt, dass ich noch da bin, habe ich meine Kanarienvögel umgebracht und sie in so eine Tüte verpackt, die man Luftdicht abschliessen kann. Der Wahnsinn. Er umgibt mich, er ist so nah, er ist in mir. Ich kann ihn riechen, fühlen, und sogar schmecken. Besonders jetzt, da das Ende so nah ist.

Es sind sicher zwei Stunden vergangen, seit Annegret da war. Doch nichts ist passiert. Langsam wage ich mich zu entspannen . Sie sind also drauf reingefallen. Ich bin erleichtert. Doch wielange werde ich noch Glück haben? Der Gedanke daran, dass es das Schiksal nun doch gut mit mir meint, macht mir wieder Mut und ich greife auf mein Nachtkästchen, auf dem noch eine Dose Apfelmus steht. Man riecht den Schimmel , aber das bin ich gewohnt. Ich nehme zwei Esslöffel und kämpfe gegen den Brechreiz an. Nun kann ich doch ruhig einschlafen. Es wird schon gut werden.

"AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!" Ich schrecke auf. Ich schreie, ich tobe, renne in die Küche, hole mir ein Messer. Tatsächlich, tritte an meienr Tür, heftiges Poltern, ich nehme Worte wahr. Türe .. öffnen... Niemals, niemals, niemals, diese SCHWEINE; niemals öffne ich die Türe, ich sehe zum Fenster, sehe auf mein Messer. Ich könnte aus dem Fenster springen. Aber ich würde mich nur verletzen, sterben- nein, es ist nicht hoch genug, dennoch hoch genug um nicht unbeschadet zu landen. Also nur das Messer. Aber nicht die Türe öffnen. RRRRRRRRrrrums wird die Türe aufgerissen und zwei Polizisten stehen vor mir, sehen mich erschrocken an. Sie halten Waffen in der Hand. Ich renne auf sie zu, will dem kleineren von ihnen ein Messer in den Bauch rammen. Doch er hält mich fest. Ich tobe, schlage um mich.. doch schon habe ich Handschellen an, und liege am Boden. Ich blicke auf. Plötzlich steht ein Mann in weiss vor mir. Neben ihm Annegret, und sie weint. "IHR SCHWEINE , DU HURE, BESUDELT EURE HÄNDE MIT MEINEM BLUT" schreie ich, total ausser mir, und ich bekomme noch aus den Augenwinkeln mit wie sich der Mann in weiss über mich beugt mit einer Spritze.

Tieeefer schlaf. Lange nur schwarz. Keine Angst, kein Hunger, kein gar nichts. Und als ich aufwache, riecht es plötzlich gut. Steril, aber gut. Krankenhaus. DAS ist der Himmel? Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Der Himmel ist ein Krankenhaus? Ich möchte aufstehen. Doch irgendwie bin ich ans Bett angebunden, und in meinem Arm sind Nadeln. Ich verstehe nichts mehr. Schreie. Und keine zwei Sekunden später steht eine Schwester in meinem Zimmer.


Inzwischen sinds viel mehr Tage als Hundertsechs. Wahrscheinlich siebenhundertsechs. Und ich bin noch immer in der Klinik, die nicht der Himmel ist, sondern tatsächlich nur ein Krankenhaus. Es geht mir gut dort, udn das seltsame ist, ich habe noch kein Kriegsopfer getroffen. Das scheint mir sehr seltsam, zumal mir vor allem alle Menschen versuchen einzureden, dass wir gar keinen Krieg haben und nie Krieg hatten. Dass ich mir das nur einbilde von wegen schlechten Drogen oder irgendsowas. Aber ich bin skeptisch. Das kann alles nur Manipulation sein. Ich habe Angst. Um meinen Verstand. Ich will hier raus. Aber draussen ist Krieg. Oder nicht?
Ich klingle der Schwester. Brauche Schlaf, vielleicht erkenne ich dann die Wahrheit
 
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Kommentare  

Gefiel mir. Du hast das für mich gut nachvollziehbar dargestellt. Brr.

Oliver (20.02.2004)

Sehr spannend. Du könntest dir überlegen, ob sich nicht sogar ein Roman daraus machen ließe. Vom Thema her sehr interessant.

Jana Kühle (20.01.2004)

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