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4 Seiten

Dotty (oder: 60 Minuten bis Weltuntergang)

Schauriges · Kurzgeschichten
"Das Ding ist mindestens so groß wie Frankreich!"
Noch immer hatte ich diesen Satz des Entsetzens im Ohr. Geschockt, wie gelähmt. Ich sitze da. Kerner schüttelt mit dem Kopf, als ich leise fragte, ob man nicht die Welt davor warnen sollte, was uns da in gut 60 Minuten treffen wird.

Eine Entscheidung, an die niemand je gedacht hatte sie fällen zu müsen. Kerner blickt mich nur ratlos an. Ich werfe wieder einen Blick durch das Teleskop. Sehe es deutlich vor mir, wie es sich immer dichter dem Mond nähert. Geschwindigkeit, Vektoren. Unser Computer gibt uns keine Chance. Kalt und grausam. Dem ist es egal, die Maschine kümmert es nicht, auch nicht, das sie in einer guten Stunden keinen Strom mehr bekommt, wohl bis ans Ende aller Tage.

Der Klotz wird uns treffen.

Mir schießt es durch den Kopf, das der Entdecker dem neuen Himmelskörper einen Namen geben darf. Wie soll ich einen Asteroiden nennen, der sich mit rund 3000 Kilomtern in der Sekunde der Erde nähert?

Kerner steht auf und holt sich einen Kaffee. Ich sitze noch immer vorm Monitor, sehe mir immer wieder die Kurve an, die der Computer als Flugroute für den Asterioden vorausberechnet hat.

Sollen wir anrufen? Wen soll ich eigentlich anrufen? Die ESA in Pfaffenhofen? Bis die ihr Hubble - Teleskop ausgerichtet haben ist uns das Vieh schon fünf mal auf das Dach geknallt. Weiß eigentlich außer mir und Kerner noch jemand Bescheid? Die Amis vielleicht? Sitzen die schon in ihrem NORAD - Bunker, Cayenne - Mountain? Der sicherste Ort der Welt. Wo war das gleich nochmal? Nevada? Georgia?

Bescheid gesagt haben die jedenfalls auch niemanden, sonst hätte es schon längst etwas für das Sondermeldungskörbchen bei den Nachrichtenagenturen gegeben. Würde auch nicht diese Reportage auf N24 laufen. Unten im Bild tickern munter die Börsenkurse entlang. Völlig Bedeutungslos geworden.

Sie sind ahnungslos. Ich sehe aus dem Fenster unten im Tal die Autobahn, der Verkehr dünn, den Lichtpunkten nach überwiegend Lastwagen. Über die jetzt in der Dunkelheit unsichtbare Brücke der Schnelltrasse schiebt sich die erleuchtete Fensterfront eines ICE über die Autobahn. Keiner weiß es außer mir und Kerner. Sie beschäftigen sich mit völlig anderen Dingen.

Ich beneide diese Menschen dort unten. Ich wünsche mir plötzlich auch ahnungslos zu sein.

Soll ich die Polizei anrufen? Die Feuerwehr? Oder die Telefonseelsorge?
Ich möchte schnell meine Sünden beichten, denn in jetzt weniger als 50 Minuten kommt ein Asteroid runter, der so groß ist wie Frankreich. Ich würde wohl auch lachen, wenn ich am Anderen Ende der Leitung sitzen würde.

Kerner sitzt vor dem Rechner. Fieberhaft arbeitet er.
"Wo geht er hin?" frage ich ihn
Er schwitzt und sieht gar nicht gut aus. Ich fürchte aber, das ich auch nicht mehr wie eine gute Figur für eine Deo - Reklame aussehe.
"Habs gleich!"
Kerner läßt die Finger über die Tasten fliegen.
Ich sehe derweil aus dem Fenster, höre nur das Staccato der Tastenanschläge.
An Kerner ist echt eine Sekretärin verloren gegangen.

Der Mond, und links daneben, das ist die Venus. Und das da ist der Merkur, das ist der Mars, und das da ist Alpha Centauri. Erinnerungen an romantische Abende, ich als Student mit einer Kommilitonin, in die ich total verschossen war, auf dem Grashügel beim Uni-Campus. Rings um die Großstadt, und über uns der unendliche Nachthimmel mit seinen Millionen von Sternen. Ich deutete von Punkt zu Punkt, und ihr Blick folgte meinem Finger, wobei sie immer näher an mich heran kam und wir schließlich...

"Nordsee! Er geht in die Nordsee!" Das Tippen hatte kurz zuvor plötzlich nachgelassen.

Die Nordsee. Randmeer des Atlantischen Ozeans, nicht mehr wie 200 - 300 Meter Tiefe.

Wen soll ich nur anrufen? Kerner und ich sind Singels. Manch einer würde sich einfach ins Auto setzen und zu seiner Famile fahren, sich sonderbar verhalten, seine Frau und die Kinder umarmen und festhalten bis es passiert.

In der Glotze kommt Werbung. Keine Ahnung warum das Ding die ganze Zeit läuft, es lief schon bevor wir den Asterioden entdeckt haben. Noch immer keine Reaktion. Spot für Spot flimmert über die Mattscheibe, mir fällt auf, das Kerner den Ton lauter gestellt hat.


Wie würde die Menschheit jetzt reagieren? Ich sehe auf die Uhr. Noch eine knappe halbe Stunde. Wie würden sie reagieren, erfuhren sie jetzt davon, was uns blüht? Runter in den Keller? In eine Tiefgarage? Ich weiß, das man die unteren beiden Etagen der Tiefgarage der Kurfürstengalerie als Atombunker ausgebaut hat. Da parken normalerweise Autos, kaum ein Normalsterblicher weiß das, einige wenige wundern sich vielleicht nur über die angelehnten, fünfzehn Zentimeter dicken Türen aus massivem Blattstahl, die zu den Treppenaufgängen oder zu der Auffahrt führen. Über Überdruckventile und Wasseranschlüsse.

Dort werden auch jetzt Autos parken, und die Leute werden oben in der Galerie in der Spielbank oder irgendwo im Kino sitzen.
Mit einer Vorlaufzeit von 48 Stunden könnte man Feldbetten und alles Nötige dort rein schaffen. Immerhin ist man in der untersten Etage etwa 30 Meter unter der Erde.
Ob das reichen würde? Angesichts dessen, was da kommt?

Gibt es eine Flutwelle? Kommt eine Feuerwalze? Eine Druckwelle mit Windgeschwindigkeiten um die 1000 Kmh, wie ich es mal in einem Bericht gehört hatte?
Als wenn die Russen, Amis, Franzosen, Chinesen und Engländer, weiß der Teufel wer noch alles, ihre Atom und Wasserstoffbomben auf einem Haufen stapeln und hochgehen lassen.

Lächelnd kommt mir die überfällige Leasingrate für mein Auto in den Sinn. Die Quengelbriefe von der Bank, weil mein Konto in den Miesen steht. Was machte es jetzt noch? Ich könnte meinen ehemaligen Mathelehrer anrufen und ihn ein Arschloch nennen. Wir könnten machen was wir wollten, nur haben wir keine Zeit mehr.

Kerner ist aufgestanden, blickt mich seltsam an. Spricht davon, das er das nicht erleben möchte. Ob ich auf die Schnelle etwas wüßte. Wenn man beim Erhängen den Knoten in den Nacken legt erstickt man qualvoll. Hat man den Strick so, das der Knoten unter dem Kinn sitzt bricht es einem das Genick und man ist sofort tot. Wegen der Hebelwirkung mit dem Unterkiefer, glaube ich.

Pulsadern aufschneiden? Kerner schüttelt den Kopf. Ich kann ihn verstehen, plötzlich.
Zu Schmerzhaft. Da ist es angenehmer, wenn einem eine tausende Grad heiße Druckwelle mit dreifacher Schallgeschwindigkeit in Stücke reißt. Oder eine Kilometer hohe Wassersäule mich zerfetzt. Glaub ich jetzt mal...

Mein Kopf dröhnt. Kerner wimmert wie ein kleines Kind. Ich fühle mich auch zum Heulen.
Er schreibt etwas. Wer soll denn das noch lesen können?

Ich blicke wieder aus dem Observatorium hinab auf die Autobahn. Wieder eine Diskussion: Soll Kerner einfach durch den Wald den Berg runter, auf die Fahrbahn laufen das ihn ein Laster oder Reisebus erwischt? Er kann Fragen stellen.

Bis du unten bist, ist der Asteroid schneller.

Ich muss an "Armageddon" denken, ein Film den ich mir mit Kerner zusammen im Kino ansah, als wir beide zusammen studiert hatten. Viel zu spät. Die im Film hatten 18 Tage, ich hab noch rund 18 Minuten. Im Film hieß der Killerkomet "Dotty". Ich weiß noch immer nicht wie ich es nennen soll.

Kerner schreit. Schlägt mit der Tastatur auf den Schreibtisch wie ein Berserker. Die Tasten lösen sich, fliegen durch das Labor. Mir landet die "Enter" Taste vor den Füßen.

Ich lasse ihn randalieren. Stehe neben dem Teleskop an der Öffnung in der Dachkuppel und sehe nach draussen.

Ein Flammenschweif schießt plötzlich von Süden her über den Nachthimmel, kommt immer tiefer herunter, verschwindet schließlich am Horizont. Erst jetzt erreicht das Röhren und Tosen mein Ohr. Ich verfolge in Gedanken seinen Weg.

Wie eine gigantische Feuerwerksrakete donnert es über die Nordausläufer des Harzes, über die Norddeutsche Tiefebene, über das Oldenburger Land, erreicht Bremen, immer größer werdend. Überfliegt die Küste bei Wilhelmshaven, schießt über die Insel Langeroog hinweg, die Hitzestrahlung des glühenden Feuerballs setzt die Reetgedeckten Dächer in Brand, vielleicht,möglicherweise... Die Bahn immer flacher werdend. Wie eine gigantische Feuerwerksrakete. So groß wie Frankreich halt.
 
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Kommentare  

ich find das sehr schön beschrieben. nicht angenehm vielleicht, aber eindeutig zum nachdenken halt.

 (31.08.2006)

Hallo Ben, die Geschichte finde ich gut. Ich finde jedoch, daß sie leider schon am Anfang aufhört - es wäre schön, wenn Du sie weiter schreiben würdest. Liebe Grüße Isolde

Isolde (12.05.2004)

Hallo Benjamin, bin eben, auf der Suche nach deiner E-Mail, über diese Geschichte gestolpert.
Die Idee ist gut. Über den Hintergrund ließe sich reden. Aber alles ist zu vorhersehbar. Es ist eine gerade Linie ohne erkennbaren Anfang, ohne erkennbares Ende. Spannung ist auch nicht unbedingt vorhanden.
Aber - ich denke, aus dieser Story läßt sich was machen.
So wie sie jetzt ist würde sie mir 3,25 Punkte wert sein. Aber wie schon mal irgendwo erwähnt, nur ganze Punkte zählen, also vier.
Gruß


Charly (12.04.2004)

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