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Hydra

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Paulina
Von ihrem Schlafzimmer aus haben Samantha und Fabian einen ungestörten Ausblick auf die Landstraße, die schnurgerade durch Wald und Wiesen zur nächsten Ortschaft führt. Seit gestern Nachmittag Bauer Hansen seinen Wagen in den Chausseegraben fuhr und ohne sich noch einmal umzudrehen, torkelnd auf Schusters Rappen querfeldein Reißaus nahm, wirft Samantha, sobald sie am Fenster vorbeigeht, unwillkürlich jedes Mal ein Auge auf das alte Ungetüm, dessen weit aufgerissene Tür vom Wind hin - und hergeschwungen wird und dabei ächzendes Knirschen von sich gibt. Als die Dämmerung hereinbrach, war plötzlich die schwarze Hofhündin Hydra, die seit Jahr und Tag in einem finsteren Holzverschlag hinter den Stallungen des Landwirtes ihr trostloses Dasein fristet, an der Unfallstelle aufgetaucht, wie toll um das Auto herumgerast und hatte ein herzerweichendes Wimmern angestimmt, das in ein pausenloses, markerschütterndes Jaulen mündete.

Samantha hat sich die ganze Nacht schlaflos im Bett gewälzt ,steht, kaum dass der Morgen graut, bereits wieder hinter der Gardine und beobachtet aufmerksam, wie Hydra die Schnauze so tief wie möglich unter den Kotflügel steckt.
„Da geht doch etwas nicht mit rechten Dingen zu“, sagt sie zu Fabian, der sich, vom ohrenbetäubenden Geheul genervt, die Gehörgänge mit Watte zugestopft hat.
„Halt dich da lieber raus“, meint er vorsichtig, „mit Bauer Hansen ist nicht gut Kirschen essen. Wer weiß, was der Trunkenbold wieder auf dem Kerbholz hat.“
Aber Samantha hat sich schon den Mantel über die Schultern geworfen und marschiert mit Riesenschritten dem Ort des Geschehens entgegen.
Hydra springt aufgeregt auf sie zu, deutet mit Kopf und Pfoten auf den Kotflügel und scharrt und kratzt erneut an dem mittlerweile völlig ramponierten Vorderteil. Samantha
kauert sich neben den verstörten Hund, lauscht angestrengt und vernimmt kaum hörbares, klägliches Fiepen. Samantha schaut kurz in die treuen Augen des Tieres, in denen sich alles Leid und aller Schmerz der Welt widerspiegelt und weiß Bescheid.
„Du Ärmste!“, ruft sie entsetzt, „Deine Kinder sind in dieser verdammten Kiste eingeklemmt und du kannst nicht helfen.“ Mitfühlend streichelt sie die winselnde Hundemutter, holt ihr Handy aus der Manteltasche und benachrichtigt in Windeseile Fabian, die Polizei und auch Bauer Hansen, auf den unbezähmbarer Groll in ihr hochsteigt.
Und tatsächlich – binnen weniger Minuten ist Fabian mit dem nötigen Handwerkszeug zur Stelle und beginnt unverzüglich den Kotflügel aufzuschweißen.
Geschafft!
Schweißgebadet zerrt er aus einer Lücke zwischen Innenraum und Unterboden einen faserigen Jutesack, aus dem nur noch schwache Lebenszeichen dringen.
Bremsen kreischen, Räder quietschen! Zwei junge Beamte in Uniform stürmen aus dem Polizeiauto, gefolgt von dem schnaufenden, bulligen Bauern Hansen, der sich wutentbrannt auf Fabian stürzt, ihm das Bündel entreißt, hoch über seinem Kopf herumwirbelt und mit brutaler Wucht auf das Autodach schmettert. Samantha schreit gellend, Fabian steht wie versteinert ... Und da! Hydra fletscht drohend die Zähne, setzt zum Sprung an, wirft sich mit dem massigen Körpergewicht gegen ihren Herrn, schleudert ihn zu Boden, schnappt nach dem Beutel und stellt die Vorderpfoten knurrend auf seinen Brustkorb.
Ein Knall! Ein Schuss!
Hydra sinkt, von der Kugel eines der beiden Polizisten tödlich getroffen, röchelnd ins Gras und windet sich in ihrem Blut. Mit schwindender Kraft robbt sie auf Samantha zu und legt ihr behutsam den Sack mit ihren Jungen vor die Füße. Ein letzter, flehender Blick aus ihren gebrochenen Augen – vorbei.

Am nächsten Tag prangt auf der Titelseite der Lokalzeitung in fetten Lettern: „Wieder ein Hundebesitzer von mordgieriger Killerbestie angefallen!“
Samantha überfliegt den folgenden Text: „Nur dem beherzten Eingreifen unserer Polizei ist es zu verdanken, dass Schlimmeres verhindert wurde...“ und faltet sorgfältig die Blätter zusammen. Sie mag nicht weiterlesen, nimmt Benjamin, den einzigen Überlebenden aus Hydras Wurf von fünf Welpen, auf ihren Schoß, drückt ihn liebevoll an sich und raunt: „Wir wissen es besser.“
 
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Kommentare  

Hat mir gefallen, flott und flüssig erzählt.
Bevor der Polizist schoss, hätte die Frau eine Erklärung abgeben können, Hydra würde noch leben. Einen Vergleich mit Beissbestien zu ziehen finde ich allerdings falsch, denn die Vorgeschichte zu den meisten dieser Zeitungsberichte dürfte wohl anders verlaufen sein. Diese Hunde greifen nicht an um ihre Jungen zu schützen, sondern sind von Natur aus agressiv oder auf Angriff dressiert, bzw. von ihren Besitzern gequält worden. 4 Punkte


NW (26.03.2004)

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