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5 Seiten

***Lamia*** 2.4.1 Zwiespältige Gefühle

Romane/Serien · Fantastisches
Zögernd stand Jarno auf und sofort nahm er den eindringlichen Ruf des Schlosses wahr. Es rief nach ihm und trieb ihn an, die Reise wieder aufzunehmen – mehr denn je zuvor. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass dieser Ruf, das Locken, für die Zeit seiner Rast ausgesetzt hatte. Der junge Koch sah verwirrt gen Himmel – die Sonne suchend. Er bemerkte, dass er viel Zeit verloren hatte. Hatte er sich doch zur Mittagszeit hierher gesetzt, so war es nun bereits später Nachmittag. Nicht mehr lang und die Sonne würde hinter den Baumkronen verschwinden, um der Schwärze der Nacht zu weichen. Eilig wickelte er den Rest Brot in die Serviette und band das kleine Bündel an seinem Gürtel fest.

Während er langsam seine Reise fortsetzte, überschlugen sich Jarnos Gedanken – so gegensätzliche Gefühle wüteten in seinem Inneren. Er hatte Angst – Todesangst, dieses Schloss zu erreichen und zu erfahren, welche Geheimnisse es barg. Und natürlich wusste er ganz genau, dass diese Todesangst äußerst begründet war. Dadurch, dass er sie so klar fühlte, würde sie ihn schützen. Gleichzeitig spürte er diese immer stärker drängende, nervöse Euphorie. Er zitterte innerlich bei dem Gedanken daran, dass er Lamia endlich wieder sehen würde.

Und dieser Vogel? War er ein Bote des Todes, wie es Jarno einst gelehrt wurde? Oder war er ihm wohl gesonnen? War er für den beklemmenden Tagtraum verantwortlich? Ein Traum, den er nicht verstand. Er hatte in diesem Traum Gefühle empfunden, die er jetzt nicht mehr begreifen konnte. Er hatte über Wissen verfügt, das ihm nun wieder genommen worden war. Und dennoch erinnerte er sich. Als ob er genau wüsste, was passiert war. Was war passiert? Wann war das passiert? Und warum war es passiert? Es fühlte sich an, als müsse er nur danach greifen. Schon müsste er wissen, was nun zu tun war. Und doch ließ es sich nicht greifen. Jarno war äußerst verwirrt. Hatte Lamia sich seine Gedanken gefügig gemacht. Er wusste, dass sie dazu fähig war. Oder hatte er eine ihm bisher noch fremde Macht gespürt, die ihn warnen wollte? Und was hatte es mit dem Hirschkadaver auf sich?

Schneller, als Jarno gedacht hatte, verdunkelte sich seine Umgebung. Regenwolken schoben sich langsam, aber unaufhaltsam vor die untergehende Abendsonne und gleichzeitig stieg vom Boden her Nebel auf. Schwärme von Mücken begannen ihren Regentanz und die feinen Nebeltröpfchen ließen vereinzelte, kunstvoll gearbeitete Spinnennetze sichtbar werden. Das Dämmerlicht und das Rascheln des Laubes unter seinen Füßen ließ diesen Ort – das Hier und Jetzt – so unwirklich erscheinen. Und Jarno spürte, dass er nicht mehr alleine war. Plötzlich zerriss ein lang gezogenes Kreischen die bedrückende Stille. Der Koch sah sich um, wusste er doch genau, wonach er zu suchen hatte. Doch entdecken konnte er ihn nicht. Langsam bog Jarno in einen von Trauerweiden gesäumten Weg ein.

Plötzlich war es da! Da sah er es zum ersten Mal. Das Schloss Mohtice.

Mächtig wuchs das weiße Herrenhaus vor ihm in den dunklen Abendhimmel. Jarno stockte bei seinem Anblick der Atem. Die vielen Türme schienen beinah die schwarzen Gewitterwolken zu berühren. Und vor dem düsteren Hintergrund des sich zusammenbrauenden Naturschauspiels leuchtete ihm die weiß getünchte Fassade dieses Meisterwerks architektonischer Handwerkskunst längst vergangener Generationen strahlend entgegen. Und wieder drang der fordernde Ruf des Schlosses in Jarnos Bewusstsein. Selbst wenn er den Entschluss fassen würde, umzukehren, wäre es dafür längst zu spät. Er konnte diesem Locken nicht mehr widerstehen.

Ein mehrere Meter hohes Tor versperrte ihm den Weg. Ungeduldig rüttelte Jarno an den eisernen Stäben und wieder ertönte das Kreischen. Der Koch sah an dem Tor hinauf, folgte der vermeidlichen Richtung des Geräusches. Und da, ganz oben auf der höchsten, der wie Pfeilspitzen aussehenden Stangen, die aus dem Tor herausragten, saß der Rabe. Jarno war nicht überrascht, war er doch mittlerweile an die Anwesenheit dieses Tieres gewöhnt. Wie bei seinen früheren Begegnungen mit dem Vogel waren seine kalten schwarzen Augen gerade auf den Koch gerichtet.

Was wollte er nur von ihm? Wollte er ihn warnen? Oder wollte er sichergehen, dass Jarno den Weg zum Schloss fand? Noch einmal rüttelte er leicht an dem Tor. Und diesmal, wie von Geisterhand öffneten sich die beiden Torflügel mit einem rostigen Quietschen und der Vogel flog erschrocken davon. Der junge Koch sah ihm hinterher, doch in der immer mehr einbrechenden Schwärze der Nacht verlor er ihn bald aus seinem Blick.

Jarno ging den sanft geschwungenen Weg hinauf. Rechts und links von ihm konnte er nichts erkennen denn schwarzen, undurchdringlichen Wald. Doch hatte er dort im Dickicht zwei gelbe Augen aufleuchten sehen? Jarno öffnete seinen Umhang und legte den rechten Schoß zurück, so dass er seinen Dolch schneller ergreifen konnte. Dann begann er ungeduldig in den tiefen Taschen seines Umhanges herumzukramen. Im Eingangsbereich des Schlosses flammte unterdessen Licht auf und erleuchtete hohe Säulen, die einen Balkon trugen, auf dem er eine Gestalt erkennen konnte. Sie war in wehende, weiße Gewänder gehüllt. War das Lamia?

Die Schleierwolken verliehen dem Schloss einen düsteren Charakter. Kein Wunder, dass man sich im Ort erzählte, dort würden sonderliche Dinge passieren. Es wirkte beinah wie ein bleicher Totenkopf in der Dunkelheit. Zwei Fenster rechts und links neben dem Balkon erhellten sich – als hätte das Skelett seine Augen geöffnet. Die weiße Gestalt drehte sich um und verschwand im Inneren. Doch ein kleines Tüchlein hatte sich von ihr gelöst und schwebte sachte zu Boden.

Jarno verlangsamte seinen Schritt. Er hatte noch nicht gefunden, wonach er so verzweifelt suchte – war er doch schon beinah beim Schloss angelangt. Aber da, mit einem Mal erhellte ein Lächeln sein Gesicht. Er zog einen winzigen Flakon aus seiner Tasche und schien regelrecht erleichtert, als er das Fläschchen entkorkte und den Inhalt trank. Dann nahm er das spitzenbesetzte Tüchlein auf. In einer Ecke waren kunstvoll die Initialen LT mit feinem Goldfaden gestickt worden. Jarno roch daran – kein Zweifel, es gehörte Lamia. Gewissenhaft verstaute er das seidene Tuch in einem seiner Beutel.

Als er unter dem riesenhaften Torbogen angelangt war, das die hölzerne Tür umspannte, betätigte er den Türklopfer in Form einer grotesken Teufelsfratze, die einen Messingring zwischen den langen spitzen Zähnen hielt. Das Geräusch wurde durch die Halle im Inneren um ein vielfaches verstärkt. Jarno wartete einen Moment, klopfte ein weiteres Mal und noch bevor er den Ring losgelassen hatte, spürte er, dass sich die Tür bewegte.

Ein vornehm wirkender Herr in Smoking öffnete und besah sein Gegenüber mit leicht gerümpfter Nase: „Wen darf ich melden, mein Herr?“ Sich seines ungepflegten Erscheinungsbildes wohl bewusst, neigte dieser sein Haupt zum Gruße: „Nun, ich bin Jarno! Wie darf ich Euch ansprechen?“ Der Butler zog eine Augenbraue hoch. Immerhin schien dieser Schmuddel Manieren zu besitzen. Er trat ein wenig beiseite: „Batos, mein Herr. Man erwartet Euch bereits. Darf ich Euch Stab und Umhang abnehmen?“ „Vielen Dank, das ist nicht nötig.“ lächelte Jarno ihm leicht kopfschüttelnd zu und stapfte mit seinen groben Wanderschuhen ein paar Mal auf. Große Lehmbröckchen fielen ab und Batos runzelte leicht angewidert seine hohe Stirn.

Als Jarno schließlich eintrat, stockte ihm der Atem. Er hatte eine Vorliebe für alte Herrenhäuser und dieses hier war ein Traum. Direkt von der Eingangstür aus blickte man auf einen gewaltigen, aus weißem Marmor gefertigten Kamin. Auf dem Sims zierten ihn rechts und links siebenarmige, gusseiserne Kerzenständer. Sie waren mit champagnerfarbenen, wunderbar warmes Licht spendenden Kerzen versehen. Und dazwischen sprang eine gigantische, mit schneeweißem Sand gefüllte und goldenen Griffen versehene Sanduhr direkt ins Auge. Neben diesem raumgreifenden Kunstwerk führten jeweils rechts und links Stufen in schier unendliche Höhen. War das eine optische Täuschung? Jarno legte seinen Kopf in den Nacken und versuchte die Decke dieser Halle auszumachen. Da war etwas – in weiter Höhe – oder doch nicht? Ein Klopfen ließ ihn zum Fenster sehen. Trotz der Dunkelheit konnte er durch die trüben Scheiben den Raben erkennen. Und wie er es gewohnt war, blickte ihn der Vogel direkt an. Dann nickte er, öffnete seine Flügel und flog davon. Als hätte er Jarno ein letztes Mal sehen und Abschied nehmen wollen. Dieser Rabe war wirklich ein ungewöhnliches Tier. Hatte er ihn tatsächlich hierher geführt?

„Wenn Ihr nun die Güte hättet, mir zu folgen, mein Herr.“ riss ihn Batos’ vornehme Stimme aus seinen Gedanken. Der Butler hatte sich bereits zu dem schmalen Flur neben der linken Treppe begeben. Neugierig folgte er Batos, dessen eilige Schritte auf dem hölzernen Boden wundersamerweise nicht zu hören waren – konnte er doch seine eigenen laut und deutlich vernehmen. Noch etwas anderes war äußerst ungewöhnlich an dem weißhaarigen Herrn. Jarno konnte es nicht sofort erfassen, doch als er an sich herunterblickte, erkannte er, was es war. Er sah seinen lang gezogenen Schatten vor seinen Füßen, der durch die Kerzen auf dem Kaminsims erzeugt wurde.

Batos warf keinen Schatten.

Als sie den Treppenabsatz hinter sich gebracht hatten, säumten alte Rüstungen den Gang. Und über jeder der kunstvoll gearbeiteten Eisenrüstungen hing ein in mächtige Goldrahmen eingefasstes Ölgemälde, das scheinbar die Herrscher vergangener Zeiten darstellte. Je tiefer er in das Gebäude vordrang, desto altmodischer wurden die Gewänder der dargestellten Herren. Jarno vermutete, dass die Rüstungen einst ihnen gehörten. Diese Sammlung wirkte äußerst beeindruckend auf ihn – wenn auch ein wenig beklemmend. Er hatte das Gefühl, die Rüstungen könnten jeden Moment loslaufen und die Augen der Personen auf den Gemälden würden ihn verfolgen. Doch genau das war es, was einen Maler ausmachte – woran man seine Kunst erkannte. Die Augen sollten lebendig wirken, redete Jarno sich ein. Natürlich verfolgten sie ihn nicht mit ihren Blicken.

Ein Geräusch – Holz auf Holz – ließ ihn zusammenfahren. Abrupt blieb er stehen und drehte sich um. Es hatte sich angehört, als hätte jemand eine Tür geschlossen oder einen Riegel verschoben. Wachsam sah sich der junge Koch die Gemälde ein weiteres Mal an. Das Geräusch war aus dieser Richtung gekommen. Doch erkennen konnte er nichts.

Plötzlich wurde ihm gewahr, dass der Butler ein gutes Stück von ihm entfernt war. Er konnte ihn nicht mehr sehen – er war bereits in einen anderen Gang eingebogen. Jarno musste sich sputen, Batos einzuholen.
 
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Kommentare  

Aha, nach langer Zeit geht es also weiter...
Ich nehme mal an, dass Jarno so lange unterwegs war, hehehe!
Jarno spürt den Ruf der Vampire. Seine Neugier wiegt also schwerer als seine Angst. In Schloss Mohtice wird er also seinem Schicksal begegnen, was, soweit ich denke, darin besteht, dass auch er ein unsterbliches Nachtwesen wird. Na, mal sehen, vielleicht gelingt ihm auch die Flucht...

Gruss


Ingo Gärtner (11.08.2004)

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