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4 Seiten

Nein, Gott macht keinen Urlaub

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
In diesem Dorf, fernab der Zivilisation, gab es für jene Bewohner, die der Bürgerkrieg übrig gelassen hatte, seit Tagen keine Nahrung mehr, noch trinkbares Wasser, nachdem sie davor schon quälenden Hunger und Durst gelitten hatten.
Das Gerippe des toten Viehs lag verstreut in der ausgedörrten Savanne. Seine ausgebleichten Knochen bildeten einen harten Kontrast zur dunkelroten Erde, auf die sie noch lebend niedergefallen waren.

In dem Dorf war eine erbarmungslose Stille eingekehrt. Das Lachen und das Palaver waren verstummt. Es gab nichts mehr zu tun. Es fehlte außerdem jeder Mut und die Kraft dafür. Der Krieg und die anhaltende Dürre hatten alles zerstört. Die Hütten waren niedergebrannt. Alle saßen unter alten Fächerbäumen, schauten mit leeren Augen in irgendeine Ferne und hatten den Gedanken daran aufgegeben, dass sie das Mitleid der Welt doch zumindest noch streifen werde. Jung und Alt waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Selbst auf den ausgemergelten jungen Körpern saßen Greisenköpfe. Fast jeden Tag fiel einer von der Gruppe lautlos zu Seite und blieb dort liegen. Geier, die ihre Aufgabe hätten erfüllen können, gab es in dieser Gegend keine mehr. Sie waren dem weiterziehenden und ergiebigen Bürgerkrieg gefolgt. Der barmherzige Gott war in Urlaub. Und dem Teufel war der Anblick der Seelen zu schäbig, als dass er sich um diese hätte kümmern wollen. Ein letzter Hund, der sich von den Leichen ernährte, klagte von Zeit zu Zeit heulend an, nicht wissend wen.

Aus der Staubwolke lösten sich vier weiße Fahrzeuge, die das rote Kreuz der Hilfsbereitschaft trugen. Dieser Konvoi fuhr seit Monaten kreuz und quer durch das vom Krieg gemarterte Land. Wenn es die Situation, zumal die Logistik zuließen, wurden die Vorräte an Medikamenten und Hilfsgütern aus der Luft aufgefüllt. Die Blicke der bewegungslosen Dorfbewohner konnten sich auf den Anblick der Ankommenden nur zögerlich einrichten. Alle blieben sitzen, wo sie waren. Es fehlte selbst diese letzte Kraft.

Dem ersten Fahrzeug entstieg ein hagerer älterer Mann, der sich auf einem Gehstock abstützen musste. Er trug die Uniform eines britischen Offiziers, also einer Macht, die mitverantwortlich war für das tonlose Leid in diesem Teil der Welt. Es war sein letzter Tag im Dienste der Menschlichkeit, oder was von dieser übrig geblieben war. Als Colonel im Ruhestand war er in diesem Land geblieben, wo er einst für das Große Empire gekämpft hatte, das sich hier in dem Augenblick zurückgezogen hatte, als die Ausgaben den Gewinn aus diesem Land übertrafen. Alternd waren ihm dann Zweifel gekommen, die Gnade der Einsicht. Deshalb hatte er sich als Kenner des Landes als Berater den Hilfsorganisationen für einige Jahre unter der Bedingung zur Verfügung gestellt, dass er mit Sondervollmachten ausgestattet würde. Wie gesagt, heute war sein letzter Tag in diesem Dienste, der ihn zwar nicht reingewaschen aber sein bohrendes Gewissen besänftigt hatte.

Aufrecht und mit schwerem Schritt näherte er sich der ihm nächsten Gruppe der Eingeborenen, die immer noch regungslos auf der Erde saßen, mit dem Rücken an den Stamm eines mächtigen Fächerbaumes gelehnt.
Ein penetranter Gestank lag über der Gegend, so dass er sich ein Taschentuch vors Gesicht halten musste, bevor ihm eine Helferin eine Atemmaske brachte.

Er beugte sich über eine Frau, die in ihren Armen ein kleines Kind hielt. Beide waren bis auf die Knochen abgezehrt. Die Brüste der Mutter hingen als Hautlappen herunter. Sie schaute teilnahmslos zu ihm hoch. Ihre Gesichtszüge ließen eine junge Frau vermuten, soweit es die Entstellungen durch die Entbehrungen und die Angst zuließen.
Er winkte eine Helferin herbei, sie solle die Ärztin des Konvois verständigen, die irgendwo mit anderen Fällen beschäftigt war. Die Ärztin gab sodann Anweisung, Mutter und Kind zuallererst mit dem mitgeführten Wasser zu reinigen und sodann die beiden mit Infusionen zu versorgen. Eine Krankenschwester solle sich sodann um ihren medizinischen Zustand kümmern, vor allem darum, ob sie überhaupt noch transportfähig seien. Sodann schaute die Ärztin in die Runde und zählte insgesamt vierzig menschenähnliche Wesen in ihrem Schmutz und Kot, umgeben von verwesenden Leichen. Sie breitete hilflos die Arme aus und rief in ihrer Ohnmacht zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Gott an, der hier doch auch zuständig sein musste. Doch immerhin tröstlich, dass es zumindest kein weiteres Kleinkind mehr gab.

Der Colonel sah ihre aufkommende Mutlosigkeit und ging zu ihr hin. Er werde über Funk Verstärkung von der Armee anfordern, die sich um die Bergung der Leichen, bzw. das, was davon noch übrig war und die Beseitigung des Schmutzes kümmern solle, soweit sie selbst damit nicht fertig werden würden, da man sich zuerst um die noch Lebenden kümmern müsse. Ferner solle sie ausreichend sauberes Wasser heranschaffen.
Außerdem wolle er über Funk ein Leichtflugzeug mit Medikamenten anfordern, das überall in dem flachen Steppenland landen könne. Sodann begaben sich die zwanzig Mitglieder des Konvois an ihre harte Arbeit, wuschen notdürftig, gaben belebende Infusionen oder verteilten hochwertige flüssige Nahrung an jene, die noch trinken konnten. Aber die Bestände des Konvois waren für einen solchen Einsatz nicht ausreichend eingerichtet.

Am kommenden Morgen waren es nur noch Achtunddreißig, die versorgt werden mussten. Nachdem diese beiden beerdigt waren, setzte das Leichtflugzeug zur Landung an. Ein älterer Arzt und der Pilot sprangen heraus und begannen sofort mit dem Ausladen der Medikamente. Sodann fragte die Ärztin ihren Kollegen, ob es möglich sei, die junge Mutter mit ihrem Kind in irgendeine medizinische Einrichtung zu fliegen. Der Zustand der beiden habe sich zwar nicht verschlimmert, aber er sei doch derart kritisch, dass sie hier kaum Überlebenschancen hätten. Der Arzt ging zu dem größeren Wagen, der in seinem Laderaum eine kleine Notambulanz hatte. Dorthin hatte man die beiden auf eine Pritsche gelegt. Er untersuchte Mutter und Kind flüchtig und besprach sich sodann mit dem Piloten. Der Laderaum des Leichtflugzeuges war zu klein für beide und die Zuladung der Maschine für drei Personen außerdem zu knapp. Deshalb entschied der Arzt, Mutter und Kind, so gut es ginge, auf seinem Sitz zu verstauen. Er selbst würde am Boden bleiben. Zwei Stunden später war das Flugzeug wieder in der Luft, begleitet von den hoffnungsvollen Gedanken der Helfer am Boden. Und nun konnte ein zweiter Arzt mithelfen.

Man versorgte bei Petroleumlicht bis tief in die Nacht. Doch Infusionen, Medikamente, flüssige Nahrung und Wasser gingen zur Neige, eben alles.
Erschöpft und wortlos saßen die Helfer, die beiden Ärzte und der Colonel danach um ein Lagerfeuer, das sie in beträchtlicher Entfernung vom Dorf und nicht weit von ihrem Gemeinschaftszelt entfacht hatten. Jeder von ihnen war damit beschäftigt, dass das Grauen der letzten Tage nicht gänzlich von ihm Besitz ergriff. Und jeder fragte sich bangend, wer von denen dort in der von Petroleumlampen schwach erhellten Dunkelheit morgen auf seiner Decke nicht mehr atmen würde. Um jeden von ihnen hatten sie mit dem Mut der Verzweiflung gekämpft. Nun konnten sie nicht mehr viel tun und waren selbst seelisch und körperlich am Ende ihrer Kräfte. Bevor jedoch als Allerletztes, die Hoffnung, schwindet, besteht Hoffnung.

Am kommenden Morgen atmeten noch alle Sechsunddreißig. Welch ein Zeichen! Als dann am Horizont eine lange Staubfahne sichtbar wurde, und nicht wenig später Lasten an Fallschirmen abgeschmissen wurden, fielen sich alle in die Arme. Die Augen vom Colonel wurden feucht, diesem ehemals beinharten Krieger im Auftrage ihrer Majestät. Dieser für ihn früher einmal unvorstellbare Abschied in ein Privatleben erschien ihm nun akzeptabel.

Nein, Gott, der auch in diesem Winkel der Erde zuständig ist, macht keinen Urlaub. Und das tätige Mitleid hatte die Leidenden erreicht.

K.A. 1. Sept. 2006
 
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Kommentare  

ohne viele worte. heftig. das happy end kommt unerwartet, aber tut gut;)
lg darkangel


darkangel (16.08.2007)

Du hast die grausige Situation so gut beschrieben, daß ich es kaum fassen kann. Dieser Text verdient wirklich alles Fünf Punkte und noch mehr. Ich bin tief beeindruckt.
LG


Destiny (14.10.2006)

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