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Tief gefallen (entstanden aus: Vielleicht morgen, mal schauen ...)

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Middel
Jeden Tag sitzt sie vor ihrem Monitor in diesem stickigen Zimmer. Neuerdings ohne Licht. Die letzte Strompreiserhöhung nagt so sehr an ihrem mageren Budget, da hat sie beschlossen es einfach auszulassen. Beschlossen hat sie zudem, dass außer dem Laptop in ihrem Zimmer kein weiterer Stromverbrauch in der Wohnung vonnöten ist. Kühlschrank, Ofen, Heizung, alles unnütz. Ein weiterer, stiller Beschluss liegt darin überhaupt weniger zu essen, aber meistens vergisst sie ohnehin einkaufen zu gehen, sodass nicht wirklich was da ist. Das Meiste würde ohne Kühlschrank sowieso verfaulen. So hat sie in den letzten Wochen rapide abgenommen. Aber das stört sie nicht, ganz im Gegenteil, sie findet sich eh zu dick.

Ihr Leben ist gekennzeichnet von Ritualen, so holt sie jeden Morgen – außer an Sonn- oder Feiertagen –die Zeitung aus dem Briefkasten, fotografiert sich mit ihr und versendet das Bild an einen ihrer Freunde nach Polen. Immer mit dem gleichen Text und immer um Punkt 9 Uhr.
Sie kaut wieder an ihren Fingernägeln, das hat sie seit der dritten Klasse nicht mehr gemacht. Völlig abgekaut sind sie ein Spiegelbild ihrer Seele. Sie weiß das, aber auch das macht ihr nichts mehr aus. Bis vor ein paar Monaten hat sie die Nägel noch wöchentlich maniküren lassen, aber wozu sollte sie etwas verbergen, das niemand sieht? Außerdem hatte sie da ja noch einen Job, der ihr zwar nicht wirklich Spaß machte, ihr aber das nötige Geld für all die Dinge einbrachte, die ihr nun fehlen. Sie achtet auch nicht mehr auf ihr Äußeres, das ihr früher einmal sehr wichtig gewesen war. Obwohl erst zwei Jahre vergangen sind, in denen sich ihr eintöniges, aber sicheres Leben so radikal änderte, kommt ihr die Zeitspanne viel länger vor.

Ihr Aschenbecher füllt sich mit jeder ausgedrückten Zigarette und sie schwört sich bei jeder neuen Schachtel, dass es die letzte sein wird. Doch welchen anderen Luxus gönnt sie sich denn noch? Und was macht es schon, dass jeder Zug ihr Leben verkürzt? Will sie noch einmal 25 Jahre auf diesem Planeten verbringen? Noch einmal all das erleben, was sie in der letzten Zeit hat durchmachen müssen? Tief und ungebremst fallen und daran fast zerbrechen? Wobei sie gedanklich das „fast“ schon zu streichen beginnt. Aber sie ist ja nicht die Einzige, die tief gefallen war und diese Tatsache gibt ihrem jämmerlichen Leben zumindest den Anklang eines Sinns. Aber gibt es für sie Hoffnung? Aussicht auf Besserung? Solange sie diese Fragen immer und immer wieder mit „Nein“ beantwortet in ihren unzähligen inneren Monologen, solange wird sie wohl auch nicht aufhören zu rauchen. Eher wird sie wohl demnächst auf Tabak umsteigen und selber drehen müssen, weil das Geld für Filterzigaretten nicht mehr reicht.
Das halb geöffnete Fenster lässt sie teilhaben am Einerlei dieser verschrobenen Welt aus Stress und Lärm. Früher einmal war sie ein Teil dieser Welt, fuhr morgens mit dem Auto zur Arbeit und ging abends mit Freunden ins Kino oder man traf sich, „um die Stadt unsicher zu machen“, wie sie und ihre Freundinnen es nannten, wenn sie von einer Kneipe zur nächsten zogen. Heute hat sie keine dieser Freundinnen mehr, ebenso wenig ein Auto. Wenn sie hin und wieder einkaufen geht oder sich bei den Behörden melden muss, nimmt sie den Bus. Er hält nur wenige Meter neben ihrer Wohnung und wenn sie sich dann die zwei Etagen nach unten wagt, ist er meist gerade weg. Oft sitzt sie so an der Haltestelle und wartet auf den nächsten und auch wenn es meist nur Minuten sind, so kommt ihr die Zeit an der Haltestelle doch endlos vor und sie wünscht sich wieder in ihr sicheres stickiges kleines Zimmer zurück, dorthin, wo die Welt scheinbar in Ordnung ist und alles seine geregelten Bahnen geht.

Sie hat ja auch immer noch Freunde, einige kennt sie sogar mit ihrem realen Namen, aber die meisten bleiben lieber anonym, heißen Sonne82 oder MisterLover69 und könnten so alt sein wie sie, oder wie ihre Mutter, wer weiß das schon? Das Wichtige an Freunden ist, das hat sie mittlerweile begriffen, dass sie immer da sind. Ihre Freunde im Netz sind größtenteils rund um die Uhr da, das bringt Sicherheit. Sie teilen auch die selben Hobbys. Mit den „guten“ Freunden schreibt sie sich regelmäßig. Entweder in einschlägigen Foren oder in Chatrooms, manchmal auch per Mail. Doch sie muss aufpassen, damit niemand hinter ihr Geheimnis kommt. Man schickt sich Fotos, Videos. Sie hat viel gelernt über die Neuen Medien, schließlich sind sie nun ihr Tor zur Welt.

Ihr Laptop ist wohl mit Abstand ihr wertvollster Besitz. Wenn sie auch nicht viel Geld hat, so achtet sie doch peinlichst genau darauf, dass die wichtigen Rechnungen immer pünktlich bezahlt werden. Sie würde es wohl nicht überleben, wenn ihr Rechner nicht mehr läuft – und nicht nur sie. Allein der Gedanke lässt sie nach Luft schnappen und sich eine Zigarette anmachen – zur Beruhigung. Sie bemerkt, dass da noch eine im Aschenbecher glimmt. So was passiert ihr in letzter Zeit öfter. So, wie sie vergisst etwas zu essen.

Ihr Blick wandert zu einer alten Uhr, die sie einmal von ihrer Mutter geschenkt bekommen hat. Zum Geburtstag. "Damit du immer an mich denkst, wenn du sie ansiehst", hatte die Mutter gesagt. Oder war es zur Einweihung der ersten eigenen Wohnung? Sie beginnt kurz zu grübeln, eigentlich ist es auch egal. Sie funktioniert nicht mehr. Jetzt hängt sie da und macht keinen Mucks. Direkt neben dem Foto von ihrem letzten Freund. Er war der Grund, warum sie aufgehört hat in der Firma. Es war schon schwierig genug mit dem Freund in der gleichen Abteilung zu arbeiten, mit dem Ex-Freund auf der gleichen Etage, das hätte sie nicht ertragen. Die gemeinsame Wohnung teilt er nun mit dieser Büroschlampe. Sie war eine dieser „Freundinnen“ von damals.
Drei Stunden Schlaf pro Nacht, mehr braucht sie zur Zeit nicht. Dass das nicht gut ist weiß sie selber, aber es ist ja nicht für immer. Dass sie ein Problem hat, das sagen die Anderen, die wenigen, die sie noch hin und wieder anrufen, ihre Schwester, ihre Mutter; sie selber sieht das nicht so dramatisch, schließlich ist es ihr Leben und wenn sie wieder etwas mehr Regelmäßigkeit in ihrem Leben benötigt, dann wird sie es ändern. Derzeit ist es genau das Richtige für sie, alles läuft doch irgendwie, wenn auch nicht optimal, so doch zumindest weiter. In welche Richtung weiß sie zwar noch nicht, aber sie wird sich schon ihre Gedanken dazu machen, irgendwann.

Die modernen Computer sind schon Wunderwerke der Technik, denkt sie. Sie erlauben es z.B., mit Menschen zu kommunizieren, die viele Kilometer weit entfernt sind. Oder aber Menschen zu beobachten. Sie schaut auf die Uhr im PC, macht die Zigarette aus und öffnet ein Programm. Es dauert einige Sekunden, bevor sich das Fenster vollständig öffnet.
„Hallo Dieter, wie geht es dir?“, beginnt sie unvermittelt in ihr Headset zu sprechen, „Hast du gut geschlafen?“ Doch der Mann am anderen Ende scheint sie nicht zu hören, er liegt apathisch in einem Bett und bewegt sich nicht. Doch sie weiß es besser, schließlich sitzt sie jeden Tag um die gleiche Zeit am Bildschirm und beobachtet ihn. Er war einmal ihr Freund gewesen, vor einer endlos langen Zeit. Nun wird er sein Leben lang an dieses Bett gefesselt sein. Nicht fähig sich zu bewegen, geschweige denn aufzustehen oder ihr noch einmal weh zu tun. Nicht fähig zu sprechen. Nur seine Augen flackern unruhig hin und her, wie eine Kerze, die im Wind steht. Ängstlich und anklagend zugleich. Könnte er noch sprechen würde sie sofort ins Gefängnis wandern, das weiß sie, aber er kann es nicht mehr. Er kann niemandem mehr erzählen, wer ihn damals aus dem Fenster seiner Wohnung gestoßen hat. Für Alle war es der bedauerliche Unfall eines Betrunkenen gewesen und dabei wird es auch bleiben.

Der Mann in dem Zimmer bekommt selten Besuch. Aber seine Angehörigen und Freunde können ihn trotzdem jederzeit sehen und ihm erzählen, was draußen in der Welt so los ist. Eine Kamera über seinem Bett, sowie ein kleiner Bildschirm daneben machen es möglich.
Bis auf seine Mutter und seine Exfreundin machen nur sehr wenige Menschen davon Gebrauch. Und sollte es jemals anders sein und jemand würde hinter ihr Geheimnis kommen, so hat sie vorgesorgt. Jeden Tag um die gleiche Zeit verschickt sie ja eine Email mit den Worten:

„Dzień dobry, Skarbie, wyspałeś się? Ja jestem jeszcze śpiąca, nie chce mi się pracować. Brakuje mi Ciebie! Mam nadzieję, że spotkamy sie po pracy. Myślami jestem z Tobą, Całuję!“

Der Inhalt sollte möglichst unverfänglich sein, das hat sie absichtlich so gewählt, aber er ist eigentlich auch irrelevant. Wichtig ist, dass er täglich pünktlich um 9 Uhr morgens abgeschickt wird. Zusätzlich ist nahezu jede Mail – außer die von Sonn- oder Feiertags - mit einem Anhang ausgestattet, ein Bild von ihr, mit der aktuellen Zeitung des Tages. Sollte diese Mail nicht abgeschickt werden, wird spätestens 12 Stunden später ein gewisser Dieter Speier, derzeit bettlägerig in der BGU Frankfurt, einer angesehen Unfallklinik, tot aufgefunden werden. Aber bisher ist ihr niemand auf die Schliche gekommen und ihr "Freund" aus Polen musste für sein Geld nicht tätig werden.
 
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Kommentare  

Oha, das is ja ganz schön harter Tobak. Gefällt mir.
Sehr gut geschrieben, obwohl ich kein polnisch kann...
Grins!


Destiny (06.02.2008)

Ich hab nur recherchiert, polnisch kann ich nicht wirklich!

Middel (06.02.2008)

Du kannst ja besser polnisch als ich! *g
Spannende Umsetzung. Gefällt mir. Gruß Sabine


Sabine Müller (06.02.2008)

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