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Lilly (Kapitel 03)

Romane/Serien · Fantastisches
„Sie ist erstmal stabilisiert“, sagte Dr. Mendelbaum, als er ins Stationszimmer kam. Anne und Herr Jenssen beendeten gerade das Aufnahmegespräch. Mark Jenssen sprang sofort auf, als der Arzt den Raum betrat und sich die Gummihandschuhe auszog.
„Kann ich zu ihr?“
„Ja, aber sie schläft jetzt. Lassen Sie ihr etwas Ruhe.“
Mark ging noch während der Doktor sprach hinaus und eilte zum Zimmer neun.
„Irgendwie ist das alles seltsam“, meinte der Arzt zur Krankenschwester als sich Mark außerhalb der Hörweite befand. Sie bedachte ihn mit einem fragenden Blick. „Naja, sie benötigte fast die doppelte Menge Beruhigungsmittel, wie normalerweise für Kinder dieses Alters üblich ist.“
„Sie ist auch schon sechs“, warf Anne ein.
Doktor Mendelbaum war sichtlich erstaunt. Dieses kleine Mädchen kam ihm eher wie drei vor, allerhöchstens wie vier. „Trotzdem war es zuviel. Meine ersten Tests ergaben, dass keine der üblichen Anzeichen für einen Anfall dieser Stärke vorliegen. Ich denke, ich lasse sie morgen mal richtig untersuchen. Dann wissen wir mehr und können sie besser behandeln, wenn es erneut auftreten sollte.“

Bis auf das Krankenbett und die Einrichtung in diesem Raum war es so, wie es vor zwanzig Minuten auch schon sein sollte. Sie schlief endlich. Mark näherte sich vorsichtig ihrem Bett, als sei er sich nicht sicher, ob dort wirklich seine Tochter lag. Er zog einen Stuhl an ihr Bett heran und nahm an ihrer Seite Platz. So würde es die Nacht über sein. Mit seiner Frau Tanja hatte er vereinbart, dass er an ihrer Seite Wache halten würde und sie könnte dann nächsten Morgen kommen. Sie stimmte zu, ließ ihn aber durch ihren Blick wissen, dass sie mächtig wütend auf ihn war.
Sie hatte aber auch Recht, er hätte niemals den Rettungswagen rufen dürfen. Nun war es aber geschehen und gemeinsam würden sie es schon durchstehen. Niemand wird von ihrem kleinen Geheimnis erfahren, dachte er sich sicher. Sie mussten nur aufpassen, welche Informationen sie den Ärzten gaben und welche auf keinen Fall. Es war schon schwer, denn wenn sie behaupteten zu wissen, was mit Lilly los war, würde man es ebenfalls wissen wollen um es vielleicht in ihre Krankenakte einzutragen. Wenn sie allerdings vorgaben, nichts zu wissen, dann würde man Lilly geradewegs sezieren um das Geheimnis hinter den rätselhaften Anfällen zu lüften und dann könnte man auf Dinge stoßen, die besser keiner wissen sollte.
Lilly atmete regelmäßig ein und aus und Mark strich ihr eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Obwohl sie seit einigen Minuten regungslos dalag, wirkte sie sehr gestresst. Sie hatte auch beinahe eine halbe Stunde ziemlich stark gekrampft, eine enorme Belastung musste das für einen so jungen Körper gewesen sein.
„Keine Angst, Lillyschatz“, flüsterte er ihr zu. „Ich lass nicht zu, dass jemand von unserem kleinen Geheimnis erfährt. Du kommst schon bald nach Hause und dann können wir das gemeinsam durchstehen. Mami und Papi haben dich ganz doll lieb und wir lassen es nicht soweit kommen, dass man dich uns wegnimmt. Wir gehören zusammen, ganz egal was passieren wird.“
Er beruhigte auch sich selbst mit diesen Worten. Er wusste nicht, ob sie ihn hörte. Es kam ihm irgendwie seltsam vor, als würde er mit einem Komapatienten sprechen. Aber der Arzt meinte, sie würde nur schlafen. Dann konnte sie ihn ja eigentlich nicht hören. Trotzdem sprach er mit ihr, wie er es bereits tat, als sie noch ein Baby war. Er war sich sicher, dass es positiv war, auch wenn es klar war, dass man ihn nicht hörte. Dennoch mochte es wichtig sein, mit ihr zu reden, wie man Pflanzen gut zuredete um ihr Wachstum zu unterstützen. In diesem Fall sollte Lilly so bald wie möglich genesen. Oder zumindest einen gesunden Eindruck machen, damit man sie entließ und keine unbequemen Fragen gestellt wurden.
Mark fuhr sich durch seine verwühlten braunen Haare. Das rhythmische Kraulen auf seiner Kopfhaut wirkte wohltuend auf ihn. Wie ein kleiner Wellness-Urlaub für Zwischendurch. Danach schritt er auf und ab. Sollte er sich einen Kaffee aus dem Automaten besorgen? Was wäre, wenn genau in dieser Zeit Lilly aufwachte und jemanden bei sich brauchte, jemanden wie ihren Vater? Andernfalls sollte sie bis zum Morgen durchschlafen, der Arzt musste sie sicher mit allerlei Mittelchen voll pumpen, damit sie endlich einschlief. Sie wirkte zwar zierlich und äußerst zerbrechlich, aber Lilly war ein zähes Mädchen. Eine echte Kämpfernatur. Er entschied sich einen Kaffee zu holen, so konnte er wenigstens noch länger wach bleiben und an der Seite seiner Tochter wachen.
Es war elf Uhr abends und das Krankenhaus schien völlig verlassen. Die Patienten schliefen und die Besuchszeit war schon vor einigen Stunden zu Ende. Trotzdem musste Mark vor dem Kaffeeautomaten anstehen, denn ein Mann, kaum älter als er brauchte ebenfalls einen Kaffee. Er wirkte nicht wie ein Arzt oder ein Patient, der die Bettruhe nicht einhalten wollte. Der Mann bemerkte ihn.
„Thomas Berthold. Meine Frau ist hier, Lungenkrebs“, sprach der Mann, als er sich mit seinem Kaffee in der Hand umdrehte.
„Mark Jenssen, meine Tochter. Sie ist sechs und sie hatte einen Anfall“, gab Mark zur Antwort und fütterte den Automaten mit lauter kleinen Münzen.
„Anfälle? Mit sechs Jahren“, wiederholte der Fremde, als würde es dann mehr Sinn ergeben. „Das ist aber schlimm. Ist sie denn chronisch krank?“
„Ähm, keine Ahnung.“ Mark wusste es besser, aber sollte er ihm die Wahrheit verraten, einem Fremden? Er wollte gerade wieder zurück zum Aufzug gehen, da fragte der Fremde wieder: „Was meinen Sie, leisten Sie mir bei einer Zigarette Gesellschaft?“
„Ich rauche nicht.“
„Ich ebenfalls nicht, aber unter diesen Umständen…“
Wie konnte er nur so was sagen? Hatte dieser Mensch bereits aufgegeben? Seine Frau lag mit Lungenkrebs in der Klinik und dem Mann fiel nichts Besseres ein, als mit dem Rauchen anzufangen. Innerlich schüttelte Mark den Kopf über den Zynismus des Mannes. Allerdings wenn er sich unbedingt verpesten wollte, bitte sehr.
Mark wollte eigentlich wieder zu seinem Kind zurück und weg von diesem Mann, überlegte dann aber, dass man nicht im Gebäude rauchen durfte. Man musste dafür vor die Tür und etwas frische Luft konnte ihm gut tun.
„Wissen Sie was“, begann Mark, „wieso nicht. Ich wollte eigentlich auch etwas frisch Luft schnappen.“

„Hachja“, machte der Mann nach dem Anzünden der Zigarette vor den Türen der Klinik. „Die Sterne kann man heute Abend gut sehen, trotz der Lichter der Stadt.“
Mark nickte stumm. Es stimmte, die Sterne hingen majestätisch am Himmel und boten einen endlosen Blick.
„Sehen Sie mal da rüber.“ Der Mann deutete auf eine Ansammlung von Sternen. „Dort ist der Gürtel des Orion. Meine Frau und ich haben ein Teleskop und gucken oft in den Himmel. Normalerweise gehen wir dafür auf den Berg. Dort sind die Lichter der Stadt nicht so sehr zu sehen und wir sind auch näher an den Sternen. Dann kann man viel besser die verschiedenen Sternenbilder sehen und die Planeten, wenn man durchs Teleskop blickt.“
Wieder nickte Mark stumm. Obwohl es für ihn hohles Geschwätz war, schätzte er die Gegenwart des redefreudigen fremden Mannes. Es wirkte sich seltsam beruhigend auf ihn aus.
„Sie malte immerzu Bilder von den Planeten und den Nebeln, wissen Sie. Meine Frau, Hilde, war eine gute Seele.“ War eine gute Seele, sagte der Mann. Er sprach, als wäre sie schon tot. Vielleicht kam er mit ihrem Zustand besser zurecht, wenn er sie bereits innerlich der Ewigkeit übergab. Herrje, war es denn wirklich so schlecht um sie bestellt, dass es keinerlei Hoffnung mehr gab? Mark wollte sich mit einer entsprechenden Frage an ihn wenden, aber er kam ihm zuvor.
„Sie hatte ein gutes Leben, aber die Ärzte sagen, es ist nichts mehr zu machen, außer ihr die Schmerzen zu nehmen. Sie hat einen Organspendeausweis und kann so noch was Gutes tun, wenn es soweit ist. Alles andere verbrenne ich und lasse es auf dem Berg begraben. So wollte sie es.“ Er machte eine Pause. „Wir haben uns dort vor sechzehn Jahren kennen gelernt bei einem Fest für Hobbyastronomen. Jedes Jahr veranstalten die da so ein Spektakel, aber seit Jahren kommen nur noch solche Halbstarken hin, die nur Party machen wollen und sich die Kante geben. Früher war es mal wegen der Astronomie, wegen den Sternen, aber mittlerweile…“
Der Mann nahm ein paar weitere Züge von seiner Zigarette. Er musste wohl schon seit einiger Zeit rauchen, denn er machte nicht den Eindruck, als wäre das seine erste Zigarette.
„Und Sie?“
„Ich?“
„Ja, was machen Sie so, wenn sie nicht bei ihrem Kind sind?“
„Ich arbeite“, begann Mark.
„Verstehe.“ Der Mann wollte offensichtlich mehr wissen.
„Ich bin Anwalt. Und ich bin verheiratet. Meine Frau heißt Tanja und Lilly war unser Wunschkind. Wir haben ein Haus, keine Tiere und sind glücklich seit neun Jahren zusammen.“ Mark gab knappe Antworten als könne man damit einen Preis gewinnen. Er wusste selbst nicht, wieso er in solch ablehnender Weise sprach und dem Mann quasi zu verstehen gab, dass er nun genug Details wisse und es nun reiche. Aber der Mann dachte scheinbar nicht soweit wie er.
„Donnerwetter, da haben Sie wohl den Jackpot gewonnen.“
Mark wog den Kopf hin und her. Er mochte ihm nicht recht zustimmen konnte aber auch nicht wirklich abstreiten, dass es ihnen gut ginge.
„Es tut mir leid“, sagte der Mann. „Ihrer Tochter geht’s ja nicht gut, das habe ich nicht bedacht. Ich wollte nicht unhöflich sein.“ Er musste wohl gedacht haben, dass Mark sich beleidigt fühlte, weil er ihn als Glückspilz betrachtete in einer solchen Situation.
„Das ist doch nicht schlimm, wir hatten tatsächlich ziemliches Glück.“
„Wie haben Sie und Ihre Frau sich eigentlich kennen gelernt?“
Mark überlegte. Er wusste das Datum noch genau, es war der 8. Juli 1995. „Wir haben uns vor ungefähr elf Jahren kennen gelernt“, sagte Mark. „Wir hatten damals einen gemeinsamen Freund, der seine Beförderung feierte. Wir kannten uns bis dahin nicht, obwohl wir unabhängig voneinander eng mit ihm befreundet waren. Nachdem er uns einander vorgestellt hatte, kam eines zum anderen und wir haben stundenlang miteinander geredet.“
 
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