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5 Seiten

Rotampler 3/3

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten
Eigentlich war Sebastian ein ruhiger, besonnener Typ. Aber es gab durchaus Situationen, in denen auch er einmal aus der Haut fahren konnte. Z.B. wenn er unter Zeitdruck stand. Die Erfindung der Zeit war ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Alle schienen ihr ständig in irgend einer Weise hinterher zu rennen, meistens des Geldes wegen.

Sebastian mochte das ganz und gar nicht. Es gab nur wenige Dinge - und Geld gehörte ganz sicher nicht dazu - die ihn dazu veranlassen konnten, der Zeit hinterher zu rennen. Der neue Star Trek Film gehörte aber eindeutig dazu.

Die Bahn verpasst. Verdammt! Er wollte keine einzige Sekunde von dem neuen Film verpassen. Es wurde ein toller Film angekündigt, der die Fans und alle, die es werden wollten, zufrieden stellen würde.
Das Kino, in das er gehen wollte, war noch eine ganz schön weite Strecke entfernt. Er hatte noch etwa 15 Minuten. Und da war die Werbung schon mitgerechnet.

Hastig machte er sich auf den Weg. Heute musste es sein. Er wollte unbedingt in die Vorpremiere rein, dann wäre er nämlich in seiner Clique - allesamt Star Trek Fans - der erste gewesen, der den neuen groß angekündigten Film gesehen hätte.


Selbstverständlich sollte es nur ein Spaziergang werden. Es war Sonntag, nun hatte Karl endlich mal für seinen Sohn Thorsten Zeit übrig. Die ganze Woche über arbeitete er in einem Lager, musste Bestellungen einer Computerfirma in Kisten packen und abschicken.

Der Artikel mit den Rotamplern hatte Karl keines Wegs vergessen gehabt. Er achtete peinlichst genau darauf, dass er mit seinem Sohn erst bei grün über die Strasse ging. Dabei hatte er sogar einmal einen Polizeiwagen gesehen. Hatten die Polizisten vielleicht bemerkt, wie er und sein Sohn darauf achteten, dass die Ampel auch wirklich auf grün geschaltet war, wenn sie losgingen?
Er wusste es nicht. Aber es hätte ja durchaus so sein können.
Hatten sie ihn vielleicht sogar erkannt? - schließlich hatte er ja drei Vorstellungsgespräch bei ihnen gehabt. Wenn die sahen, wie korrekt er sich verhielt, und wenn die bemerkten, wie gesetzestreu er seinen Sohn erzog, dann könnte er doch vielleicht durchaus noch einmal eine Chance bei ihnen bekommen, dachte er hoffnungsvoll so bei sich.

Er achtete noch peinlicher darauf, dass er und sein Sohn auch wirklich erst bei grün und nicht etwa schon bei Orange über die Strasse gingen. Und damit das so viele Menschen wie möglich mitbekamen, schließlich sollten auch die ganz normalen Leute sehen, wie gut er seinen Sohn erzog, erklärte er es ihm noch einmal so laut, dass es noch nicht störend wirken sollte, aber er sich sicher war, dass es jeder um ihn herum hören konnte.

Plötzlich bemerkte er, dass ein Teeneger direkt ihm gegenüber auf der anderen Straßenseite hastig nach links und nach rechts sah. Wahrscheinlich wollte er wissen, ob ein Auto kam, vermutete Karl. Doch würde er es auch wagen, bei rot über die Strasse zu gehen? Karl traute dies dem Teenager in diesem Moment durchaus zu.

Vorsichtshalber drehte sich Karl noch einmal zu seinem Jungen um und erklärte ihm die Sache noch einmal, diesmal aber noch ein bisschen lauter als zuvor. Dann drehte er sich wieder in Richtung des Teenagers. Hatte dieser seine Ausführungen, die er zum wiederholten Male vor seinem Jungen gehalten hatte, gehört?
Es sah nicht so aus. Der Teenager sah noch unruhiger als zuvor aus. Weit und breit war kein Auto zu sehen und anscheinend hatte er es eilig. Aber die Ampel war nun mal auf rot geschaltet, und rot bedeutete, dass man stehen bleiben musste. Daran musste sich jeder halten. 250 Unfälle hatten die Rotampler im letzten Jahr verursacht! Und hier, direkt vor Karl, schien einer von denen zu sein. Für wie viele Unfälle zeichnete sich wohl dieser hier verantwortlich?

Karl sah böse in die Richtung des Rotamplers. Denn manchmal reichte das schon völlig aus, um einen Gegenüber derart einzuschüchtern, dass er sich sofort ordnungsgemäß verhielt. Irgendwie schien der Teenager aber Karl gar nicht wahrzunehmen, weshalb auch diese letzte pazifistische Möglichkeit zu scheitern drohte.

Und dann geschah es, direkt vor Karls Augen: Der Teenager sah sich noch einmal hastig um, ob irgendwo ein Auto zu sehen war, und als er weit und breit keines erblickt hatte, lief er einfach drauflos.

Schnell sah Karl noch einmal zur Ampel. Tatsächlich: sie war immer noch auf rot geschaltet. Demnach hatte er es hier also mit einem waschechten Rotampler zu tun. Sein Körper pumpte Adrenalin in seine Adern.


Schon eine halbe Stunde über dem offiziellen Anfangszeitpunkt. Höchst wahrscheinlich war die Werbung jetzt schon vorbei. Sebastian musste so schnell wie möglich zu dem Kino. Es war nicht mehr weit, weshalb er auch auf eine rote Ampel nicht mehr achten konnte.

Als er über die Strasse lief, traf sich sein Blick plötzlich mit dem Blick eines vielleicht vierzigjährigen Mannes, der auf der anderen Straßenseite stand. Neben ihm stand ein kleiner Junge, der höchstwahrscheinlich sein Sohn war.
Der Mann sah ihn mit einem furchteinflößenden Blick an. Sebastian erschrak ein wenig, weil er mit so etwas in diesem Moment nun wirklich nicht gerechnet hätte.

“Tolles Vorbild”, sagte daraufhin der Mann zu ihm in einem Tonfall, aus dem man nicht nur unterschwellig Aggression heraushören konnte.
Tolles Vorbild? Pah! Das war Sebastian in diesem Moment völlig schnuppe. Was sollte das ganze auch? Weshalb benutzte ihn dieser seltsame Mann als Erziehungsobjekt für seinen Sohn? Welches Recht hatte er hierzu? Wenn überhaupt dann war dies ein Fall für die Polizei und nicht für diesen seltsamen Mann mit dem bösen Blick.

Sebastian wurde sauer, schließlich ging es hier um Dinge, die ihm wichtiger waren, als eine blöde rote Ampel. Hier ging es um den neuen Star Trek Film. Deshalb tat er etwas, was eigentlich nicht seiner Art entsprach. Er tat es fast automatisch, ohne dass er sich dessen richtig bewusst war: er zeigte dem Mann mit dem bösen Blick den Stinkfinger und ging einfach weiter, schließlich hatte die Vorstellung him Kino höchstwahrscheinlich schon begonnen gehabt.

“Schon lange keine mehr in die Fresse bekommen, was?”, rief ihm der Mann gereizt nach.
Erst in diesem Moment wurde Sebastian klar, was er da eigentlich getan hatte.
Egal. Er war fast am Kino angelangt und könnte es vielleicht doch noch schaffen, rechtzeitig in den Saal zu kommen. Bei richtig populären Filmen dauerte die Werbung manchmal ein bisschen länger als eine halbe Stunde.

Er ging in das Kino hinein und versuchte sich zu orientieren, an welche Schlange er sich anzustellen hatte. Plötzlich wurde er von hinten angesprochen. Er drehte sich um und bemerkte, dass hinter ihm der Mann von vorhin mit seinem kleinen Sohn stand. Anscheinend hatte er ihn bis ins Kino hinein verfolgt. Offensichtlich hatte er es hier mit einem Psychopathen zu tun. Sebastian musste also vorsichtig sein. Solche Menschen waren unberechenbar und oft zu allem fähig.

“Was war denn das vorhin mit dem Finger, hä?”, fragte ihn der offensichtlich psychopathische Mann.
“Wie bitte?”, stammelte Sebastian nervös.
“Wir können auch raus gehen und das ganze vor der Tür klären”, schlug der Mann vor.
“Tut mir leid”, stammelte Sebastian verwirrt. Mit Psychopathen musste man behutsam umgehen.
“Ein Feigling”, sagte daraufhin der Psychopath plötzlich. Irgendwie kam es Sebastian nun so vor, als habe der andere mit solch einer Reaktion von ihm gerechnet gehabt. War das ganze lediglich eine durchgeknallte aber gezielte Aktion, den Sohnemann zu “erziehen”? Hatte dieser Psychopath Sebastian hierfür gezielt ausgesucht und irgendwie auch ausgenutzt? Ausgenutzt. Das war wohl oder übel das richtige Wort dafür. Sebastian kam sich in diesem Moment tatsächlich richtig ausgenutzt vor.

Der Mann drehte sich abrupt wieder um und ging. Dabei sagte er etwas zu seinem Sohn, das Sebastian noch verstehen konnte: “Siehst Du: so muss man mit solchen Menschen umgehen.”
Sebastian war also tatsächlich das Opfer einer durchgeknallten Erziehungsaktion geworden.

Den Film schaute er sich noch an, aber richtig genießen konnte er ihn nun nicht mehr.


Ein Jahr später. Karl las wieder einmal in seiner Boulevardzeitung. Die konnte er verstehen. Die schienen über die Sachen bescheid zu wissen. Diesmal war darin zu lesen - wenn auch nicht mehr auf der ersten Seite, sondern als winzig kleiner Artikel auf Seite acht - dass die Rotampler - Aktion der Polizei vor einem Jahr tatsächlich erfolgreich gewesen war: statt 250 Unfälle mit Beteiligung von Rotamplern hatte es im selben Zeitraum “nur noch” 227 gegeben.

Karl legte kurz die Zeitung ab und holte tief Luft. Selbstverständlich war ihm klar, dass auch er selbst zu diesem tollen Ergebnis beigetragen hatte. Denn auch er hatte die ein oder andere Rotamplung aktiv verhindert gehabt. Wusste die Polizei, was sie an ihm verloren hatte? Wussten die überhaupt, dass er ihnen völlig selbstlos geholfen hatte?
Karl musste grinsen. Natürlich wussten sie es nicht. Natürlich dachten sie, dass lediglich sie es waren, die für das gute Ergebnis gesorgt hatten.
Er seufzte tief, rief seinen Sohn herbei und zeigte diesem stolz und wie immer belehrend den Artikel. Dann sagte er zu ihm: “Siehst Du, mein Junge: So lange es in Deutschland Menschen wie uns gibt, so lange gibt es auch Hoffnung. Deshalb musst Du, mein Junge, wenn ich einmal nicht mehr bin, meinen Platz einnehmen. Durch Menschen wie uns wurden anderen Menschen das Leben gerettet. Vergiss das bitte nie.” Und Thorsten nickte mit seinem Kopf, wie er es immer tat, wenn er von seinem Vater belehrt wurde. Er war glücklich, weil er sich ziemlich sicher war, dass er zumindest an diesem Tag, an dem sein Vater so gut gelaunt war, keine Prügel von ihm befürchten musste.

Somit waren so ziemlich alle bis auf Sebastian zufrieden mit der Rotampler - Aktion gewesen: Der Polizeipräsident, weil er dadurch Geld in die Staatskasse gespült hatte; die Presse, weil sie mit den Rotamplernachrichten das Sommerloch stopfen konnte; Karl, weil es ihm so vorkam, als hätte er dazu beigetragen, anderen Menschen das Leben zu retten; Thorsten, weil er zumindest heute höchstwahrscheinlich keine Prügel von seinem Vater zu befürchten hatte.
Nur Sebastian hatte an der ganzen Sache etwas auszusetzen. Aber manche Dinge sind einfach wichtiger als andere. Meistens Dinge, bei denen es vorrangig ums Geld geht. So wie bei der Rotampleraktion.

ENDE
 
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Kommentare  

Ja, war recht nett.

axel (31.08.2009)

Die Story hat einen guten Schluss gefunden. Insgesamt war sie unterhaltsam und es war auch einiges zum Lachen dabei. Das Lesen hat sich gelohnt.

doska (30.08.2009)

War ganz niedlich und auch lustig. Ich mag Geschichten mit eigenwilligen Charakteren.

Petra (29.08.2009)

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