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10 Seiten

Das Haus auf der Klippe Teil 2

Romane/Serien · Schauriges
*
Es geschah ein zweites Mal, dass Caleb das Licht im Haus auf der Klippe sah, als sie am frühen Abend zurück in den Hafen einliefen und er war sich sicher, dass es auch der Kapitän gesehen hatte. Kaum im Hafen, zog es die Männer nicht wie üblich in die Bar, sondern sie gingen schweigend und in gedrückter Stimmung in die Kirche, beteten um Schutz für ihre Familien und sich selbst, stifteten Kerzen. Caleb war voller Inbrunst, betete für seine Mutter, seine Freundin, die so weit fort war, seinen toten Vater, für seine fernen Verwandten, obwohl diese ihn immer noch schnitten, weil er von seiner Mutter weggebracht worden und er nun keiner mehr von ihnen war. Er nahm jedenfalls an, dass das der Grund dafür war.
„Morgen habt ihr alle ein Auge aufeinander“, sagte Henry, „ich habe ein schlechtes Gefühl.“
Im Mittelgang tauchte eine weitere Gläubige auf, die eines der gezeichneten Kinder bei sich hatte, setzte sich mit dem kleinen Jungen in eine der hinteren Reihen und betete stumm. Der Junge war zwar im Schulalter, aber er würde wohl niemals eine Schule von innen sehen, denn er litt an einer der verbreiteten Erbkrankheiten, die Maghera Beg heimsuchten. Caleb sah ihn nur kurz an, schauderte, schämte sich dafür und wagte ihn nicht mehr anzusehen. Sein entstelltes Gesicht, diese harmlosen idiotischen Augen, der zu einem breiten Grinsen verzogene Mund, der wie der eines Fisches aussah, die verkrümmte Wirbelsäule und die graue Haut ließen ihn daran denken, dass es schon zu seiner Jugend viele solcher Kinder gegeben hatte. Die Familien schickten sie niemals weg, sie lebten in den Häusern bei ihren Eltern, bis sie der Herrgott wieder zu sich nahm. Niemand beklagte sich über dieses Los.
Als sie am nächsten Morgen mit der Seekin‘ Mary ausliefen, war das Wetter so schlecht, dass die Männer sich mit Taue sichern mussten, um nicht über Bord gespült zu werden. Sie erreichten die Hummerbänke, aber alle Reusen waren leer, die Köder, Innereien vom Knurrhahn, waren unangerührt.
„Schlechte Zeichen“, sagte Henry, „wir drehen um.“
Es blieb ungeklärt, wie Tim über Bord gehen konnte, er war jung, aber er war ein erfahrener Seemann. Solche Unfälle passierten. Wäre Caleb nicht gewesen, wäre er nicht neben ihm gewesen, hätte ihm an seinem Tau nicht so lange festgehalten, bis sie ihn wieder an Bord hatten, wäre vermutlich mehr passiert als nur die tiefe Platzwunde über dem rechten Auge. Und hätte Caleb ihn nicht eigenhändig ins nächste Krankenhaus gefahren, obwohl alle sagten, sie würden ihn zu Dr. O’Malley bringen, wäre sein Auge verloren gewesen. Das sagten die Spezialisten im Krankenhaus.
Die Männer feierten Caleb wie einen Helden und als Tim aus dem Krankenhaus zurückkam, wurde Caleb zu einem großen Familienfest eingeladen.
„Es war nur Glück im Unglück“, sagte Caleb, dem so viel Aufmerksamkeit unangenehm war, „jeder von uns hätte das Gleiche gemacht.“
„Ich habe das Gleichgewicht verloren“, erklärte Tim, „ich war einen Moment unaufmerksam.“
Die Feier war ein großes Ereignis, es gab viel zu essen und zu trinken, es wurde ausgelassen gelacht, Geschichten erzählt, die Kinder liefen in ihren Schlafanzügen herum, weil die Erwachsenen es irgendwann nicht mehr versuchten, sie zurück in ihre Betten zu stecken, als es Schlafenszeit wurde. Unter Alkohol begannen die Männer alte Fischerlieder zu singen, die Frauen räumten die leeren Schüsseln vom Tisch, brachten volle aus der Küche herein und verteilten weitere Gläser, Tassen, kleine Schüsseln mit Nachtisch. Caleb konnte sich nicht erinnern, jemals so lange und so viel gefeiert und gegessen zu haben. Irgendwann fand der letzte Gast ein Einsehen und ließ sich nach Hause bringen, die Kinder waren zusammengerollt auf der Couch eingeschlafen, die Hunde zu ihren Füßen, eine grobe Wolldecke war über sie ausgebreitet.
„Wo wir gerade hier sind“, sagte Tim beim letzten Kaffee, nachdem sich seine Eltern ebenfalls zur Nachtruhe verabschiedet hatten, „du wolltest doch die Bilder von meinem Onkel sehen. Komm mit. Wir müssen nur leise sein.“
Sie fanden die Bilder, auf Rahmen gespannte Leinwände, Mappen mit Bleistift- und Kreidezeichnungen und blasse Aquarelle unter der Schräge des Dachbodens, abgedeckt mit einer alten Decke, die aus dem Bestand der ländlichen Feuerwehr stammte. In dem staubigen Licht der Dachbodenbeleuchtung konnte Caleb nicht viel erkennen, aber die meisten Bilder zeigten Fischer bei der Arbeit, Szenen in aufgewühlter See, viele Familienportraits, die grünen Hügel, die das Dorf umgaben, zeitlose Dorfszenen, die bewiesen, dass hier die Zeit wirklich still stand. Nur ein einziges zeigte undeutlich und vage das Haus auf der Klippe, nur erkennbar durch die Position im Meer, es war eine ruhige Hafenansicht am frühen Morgen. Das Haus war nur angedeutet, ein dunkler Fleck im milchigen Nebel.
„Das sind alle“, flüsterte Tim, „sieh mal, hier hat er alle Familienoberhäupter versammelt.“
Caleb erkannte seinen lange verstorbenen Großvater, es war, als würde er sechzig Jahre in der Zukunft in den Spiegel schauen. Die Familienähnlichkeit der einzelnen Familien war beeindruckend und ließ Tim und Caleb lange auf das Gemälde starren. Da waren sie alle, die McMahons, die Cahills, die Coogans, die Byrnes, die O’Malleys, die Harrisons, die Gallaghers, die Doyles. Der Maler musste für das Gruppenportrait alte Fotos als Vorlagen benutzt haben, denn mindestens zwei der Männer waren jünger gestorben und hätten kaum in der Gruppe Modell sitzen können. Sie alle wirkten sehr ernst und gewissenhaft.
Caleb wollte sich seine Enttäuschung darüber nicht anmerken lassen, dass die in den Chroniken erwähnten Gemälde des Hauses auf der Klippe nicht aufgetaucht waren. Tim bemerkte trotzdem, dass er etwas anderes erwartet hatte.
„Ich weiß, dass du glaubtest, diese anderen Bilder wären hier“, sagte er, „aber mein Vater hat sie vernichtet, als er sie das erste Mal zu Gesicht bekam. Er hat nicht erlaubt, dass wir auch nur einen Blick darauf geworfen haben.“
„Aber aus welchem Grund hat er sie vernichtet?“
„Er hätte diese Bilder niemals malen dürfen. Dad sagte, er musste mit einem Boot vor die Klippe gefahren sein, vermutlich näher heran, als es gut war, um die Skizzen von dem Haus zu erstellen. Das Haus bringt Unglück.“ Das war alles, was Tim sagte.

**
Aus den Wochen auf der Seekin‘ Mary wurden Monate und langsam ging der Sommer zu Ende und das Ende der Hummersaison war absehbar. Calebs Hände waren rau und kräftig geworden, er hatte an Gewicht zugelegt und sein Interesse an dem Haus schien etwas nachgelassen zu haben. Zwar fuhr er noch in die Bibliothek, aber längst stellte er keine Fragen mehr. Er erzählte dem Kapitän, dass seine Mutter wollte, dass er zurück aufs College ging, aber er selbst wusste nicht, ob das noch das Richtige für ihn war.
„Sie hat mir einen Brief geschrieben“, sagte er, „weil mein Handy abgeschaltet ist. Ich habe es total vergessen. Am liebsten würde ich ihr schreiben, dass ich noch länger bleibe, um bei dir zu arbeiten. Noch ein halbes Jahr, ich kann weiter arbeiten und zum nächsten Schuljahr wieder anfangen.“
Kapitän Henry gab zu Bedenken, dass das Hummergeschäft bald zu Ende war, denn es war nicht erlaubt, ganzjährig Hummer zu fangen. Außerhalb der Saison wurden die Kutter repariert, Reusen geflickt und Bojen gestrichen. Das war die Arbeit der Schiffseigentümer und die Besatzung musste sich andere Jobs suchen. Die meisten lebten von ihren Ersparnissen und das mehr schlecht als recht. Caleb plante, bis zum letzten Tag auf der Seekin‘ Mary zu arbeiten, danach aber noch in Maghera Beg zu bleiben, weiter zu versuchen, mit den Coogans in Kontakt zu kommen.

An Bord des Kutters hörte er zufällig Teile einer Unterhaltung zwischen zwei Männern, die nebeneinander saßen, die Reusen bestückten und glaubten, es sei niemand in Hörweite. Sie flüsterten, dass es ein Unglück gewesen sein könnte, das Opfer verhindert zu haben und es würde sie nicht wundern, wenn es doppelt so schlimm zuschlagen würde. War ein Opfer gefordert, musste es gebracht werden. So war es schon immer gewesen.
Obwohl Caleb den Zusammenhang nicht verstand, stellte er seltsamerweise eine Verbindung zum Haus auf der Klippe her.
Wer forderte ein Opfer? Die unbekannte Person, die heimlich in dem Haus ein und ausging?
Caleb war schon der Gedanke gekommen, hatte diesen in seinem Notizbuch notiert, dass Schmuggler das Haus nutzten, allerdings hätten Schmuggler kein Interesse an Opfern aus dem Fischerdorf. Sie würden nur Sorge tragen, dass niemand ein Fuß auf die Klippe setzte.
In der Bibliothek entdeckte er eines Tages ein altes Buch, das er bisher übersehen hatte, zumindest glaubte er das, bis ihm der Bibliothekar mitteilte, dass der alte Schinken zusammen mit anderen Antiquitäten zur Restaurierung weggegeben worden war und jetzt erst wieder zur Verfügung stand. Der alte Ledereinband war ausgebessert, die Leimung erneuert, verblasste Texte wieder hergestellt worden. Der Autor war ihm vollkommen unbekannt und die Verlagsangabe zeigte, dass es sich um eine private Veröffentlichung handelte, die sicher über einen Nachlassverwalter ihren Weg in die Bibliothek gefunden hatte.
Was Caleb bereits in den ersten, schwer lesbaren handschriftlichen Kapiteln fand, war so fesselnd, dass er große Teile herauskopierte, und als ihm das Geld für den Kopierer ausging, er ganze Passagen abschrieb. Er überredete den Bibliothekar, ihn über Nacht einzuschließen, damit er weiterlesen könne, denn es war nicht erlaubt, dieses Buch auszuleihen.
„Ich stehle schon nichts“, sagte er, „wie denn auch? Untersuchen sie mich morgen früh, wenn sie aufschließen.“
Es war wie ein Fieber, das ihn gepackt hatte. Obwohl er wusste, dass dieses alte Buch eine private Chronik ohne den Anspruch auf Korrektheit und Vollständigkeit war, dass es keine Quellenangaben gab, erschien es ihm als die Antwort aller Fragen. Das Buch selbst war knapp einhundert Jahre alt, aber die Berichte darin reichten sehr viel weiter zurück.
Der Bibliothekar sagte, er riskiere seinen Job, wenn es herauskäme, dass er Caleb über Nacht in der Bibliothek gelassen hatte, aber er tat es trotzdem, weil er in dem glühenden Gesicht erkannte, dass er ihn entweder einschließen oder das Buch überlassen musste. Er sagte, Caleb solle nur im hinteren Bereich ein kleines Licht eingeschaltet lassen und um Gottes Willen nicht herumlaufen.
„Ich werde hier am Tisch sitzen bleiben und lesen“, sagte Caleb, „nichts anderes werde ich tun.“
Er blätterte in dem Buch hin und her, machte Notizen, Querverweise zu Ereignissen, denn das Buch ließ einen chronologischen Ablauf vermissen, es schien, als habe der Autor alles hastig zusammengetragen, die meisten Kapitel handschriftlich, anderes gedruckt. Jahresangaben ergaben sich nur aus den Texten der kurzen Kapitel. Nach den ersten Seiten hatte Caleb geglaubt, es sei eines der seltenen Kapitel über das Haus auf der Klippe, aber er blätterte weiter und weiter und stellte mit glühendem Gesicht fest, dass das ganze Buch von dem Verhältnis des Hauses auf der Klippe und dem Fischerdorf Maghera Beg handelte. Im ersten Kapitel berief der Autor sich auf ein Schriftstück aus der Gründerzeit des Dorfes, in dem erwähnt wurde, dass die Klippe mit dem Haus nicht betreten werden solle. Es wurde kein Grund genannt und so erfanden die Dorfbewohner einen Grund für das Verbot, der ihnen logisch erschien. Es solle nicht betreten werden, da es einem Fischer gehörte, der sich von der Welt abgewandt hatte. Die Familien, die in der Chronik zuerst genannt wurden und somit die Ältesten sein mussten, waren die Cahills und die McMahons. O’Malleys, Harrisons, Doyles, Gallaghers, Coogans und Byrnes kamen nach und nach in die Region, bauten gemeinsam das Dorf auf, errichteten die Kirche und den Hafen, kauften den ersten gemeinsamen Kutter. Caleb überflog die Berichte über familiäre Ereignisse, den Geburten, den Sterbefällen, Vermählungen und stellte fest, dass schon damals kaum frisches Blut in die Familien floss und dass Verbindungen von den Vätern sehr sorgsam gewählt wurden. So etwas wie Liebesheiraten schien es nicht gegeben zu haben.
Männer und Frauen, die Maghera Beg verließen, kamen sehr selten zurück. Kirche und Staat hatten einen nur oberflächlichen Einfluss. In einem Kapitel wurde von Father Doyle berichtet, der in seinen besten Jahren in sein Heimatdorf zurückgekehrt war und während einer Sonntagspredigt die heidnischen Bräuche angesprochen hatte, von denen jeder wusste, die jeder praktizierte und die jeder öffentlich abstritt. Er war kaum zwei Wochen in seinem Amt und musste der Meinung gewesen sein, etwas in seiner alten Heimat verändern zu können. Sie alle sollten diese Dinge als das ansehen, was sie waren: Relikte aus der Vergangenheit, die längst keine Bedeutung mehr hatten. Hummer und Fische mit abnormen Zeichen (einige Seiten weiter fand Caleb Zeichnungen von deformierten Hummern in dem Buch), die wieder ins Meer zurückgeworfen wurden, weil sie ‚dem anderen‘ gehörten, an die Vorboten des Unglücks zu glauben, wenn das Haus auf der Klippe sichtbar war, dem Licht in dem Haus eine absonderliche Bedeutung zuzuschreiben, das alles nannte Father Doyle und bemerkte nicht das blanke Entsetzen, das sich in der Kirche breit machte. Noch am selben Abend entwickelte sich ein besonders heftiger Sturm, der drei Tage lang an der Küste tobte, viele Häuser und Boote beschädigte und nur das Haus auf der Klippe unberührt ließ. Man fand Father Doyle tot in seiner Kirche und selbst der alte Mediziner, der in seiner Zeit schon vieles gesehen hatte, konnte nicht sagen, woran er gestorben war. In der ganzen Kirche roch es nach Salzwasser und verfaultem Fisch. Das war überliefert, zusammen mit einer der seltenen Quellen, einem Zeitungsausschnitt mit der Todesanzeige von Father Doyle aus dem Jahr 1901.
Einige Traditionen von Maghera Beg wurden immer wieder dokumentiert, diese setzten sich durch die Jahrzehnte fort und an einige konnte Caleb sich erinnern, denn seine Mutter hatte viel davon erzählt, nachdem sie in die Stadt gezogen waren.
Die erstgeborenen Söhne wurden zweimal getauft – einmal in der Kirche und mit dem heiligen Wasser und ein zweites Mal beim ersten Vollmond an einer bestimmten Stelle im Hafenbecken. Aus welchem Grund? Damit aus den Söhnen ordentliche Seemänner wurden, die die Tradition weiterführten, sagten die Alten. Kein einziges Haus hatte Fenster in Blickrichtung auf die Klippe, unabhängig davon, wie weit es vom Ufer entfernt war. Viele Kinder kamen schon damals mit kleinen oder großen Fehlbildungen zur Welt, mit einem elften Finger, Schwimmhäuten zwischen den Zehen, einem dritten Gelenk an beiden Daumen, mit unterentwickelten Ohrmuscheln. Caleb erinnerte sich an ein Mädchen in seinem Alter, die statt Augenlidern nur dünne strenge Hautfalten über den Augäpfeln gehabt hatte, die ihr das Blinzeln fast unmöglich gemacht hatten. Sie hatten sie „den Oktopus“ genannt, obwohl keiner von ihnen gewusst hatte, wie denn ein Oktopus aussah.
Und von einem Schwur der Familien war die Rede, aber als Caleb weiterblätterte, fand er die folgenden Seiten vernichtet. Jemand hatte die Seiten nicht einfach herausgerissen, sondern heraus gebrannt, die verkohlten Ränder waren noch sichtbar und waren auch bei der Restaurierung nicht ersetzt worden. Caleb strich über die verbrannten Ränder der Seiten. Die Zerstörung musste mit Absicht herbeigeführt worden sein, denn alle Seiten der Kapitel davor und danach waren unversehrt. Er machte Notizen, bis seine Schreibhand verkrampfte und er vor Erschöpfung die Augen nicht mehr offen halten konnte.
Wenn es einen Schwur der Gründerfamilien gab, dann sicher, das Vergangene lebendig zu halten, kein Stück Land zu verkaufen, möglichst unter sich zu bleiben. Das war kein Geheimnis.
Caleb kam der Gedanke, dass diese Chronik mit all ihren detaillierten Innenansichten von einer Person aus Maghera Beg verfasst worden sein könnte und diese Person mochte Familiendokumente als Quellen benutzt haben.
A. Dannon. Chronik von Maghera Beg.
Es gab natürlich keine Familie Dannon in Maghera Beg, aber sicher war es nicht der richtige Name. Caleb bewegte seine verkrampften Finger, blätterte in dem Buch weiter, versuchte die kleine steile Handschrift zu entziffern, die immer wieder vor seinen Augen verschwamm, weil er so müde war. Endlich legte er das Buch beiseite, legte sich auf eine der Sitzbänke zwischen der Kinderbuchabteilung und den Sachbüchern und schlief augenblicklich ein. Fast hatte er erwartet, wild zu träumen, aber als er aufwachte, war es, als habe er überhaupt nicht geschlafen. Er brauchte einige Sekunden, bis er sich erinnerte, dass er in der Bibliothek war, tastete nach den Kopien und Notizen in der Innenseite seiner Jacke und fuhr mit dem ersten Bus nach Maghera Beg zurück, nachdem der Bibliothekar aufgeschlossen und ihn hinausgelassen hatte. Er hatte nicht auf seine Uhr gesehen, aber er hatte kaum eine halbe Stunde geschlafen.
Im Hafen stieg er aus, setzte sich an die Mole und starrte auf das Meer hinaus. Die Nebelbank lag wie Watte über der Küste, Caleb konnte nicht einmal die Spitzen der Bojen in der Hafeneinfahrt erkennen. Er erkannte das Muster, aber er sah noch nicht das ganze Bild. Es gab sicher eine uralte Verbindung zwischen dem Dorf und dem Haus und diese Verbindung wollte er finden. Er konnte nicht sagen, weshalb es ihm so wichtig war, und ob er endlich Ruhe finden würde, wenn er die Antworten auf seine Fragen hatte.
Pat Coogan traf ihn im Hafen, lud ihn auf ein Bier ein. Caleb war sprachlos, denn bislang hatten die Coogans, die Familie seines Vaters, keinen Wert darauf gelegt, mit ihm zu sprechen oder ihn zu sehen, sie waren ihm aus dem Weg gegangen, hatten ihn höflich aber reserviert behandelt. Nun dirigierte Pat ihn in der Bar in eine ruhige Ecke, holte zwei Bier vom Ausschank, nahm ihm gegenüber Platz. Draußen zog ein neuer Sturm aus, der Wind brauste um die Häuser, trieb die Gischt weit über die Mole in den Hafen.
„Du bist ein netter Junge, Caleb“, sagte Pat, „und deshalb möchten wir dich warnen. Es ist eine ernst gemeinte Warnung und bitte glaube mir, dass ich weiß, wovon ich spreche. Es war kein Zufall, dass deine Mutter dich fortgebracht hat und es ist auch kein Zufall, dass du zurückgekommen bist. Was weißt du über den Schwur?“
„Was?“ machte Caleb. Pat beugte sich ihm entgegen und vor Calebs innerem Auge erschien das Portrait der Familien, das alte Gesicht der Coogans, diese markanten Zeichen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden.
„Du schnüffelst herum, seit du das Haus gesehen hast. Ich glaube dir nicht, dass du es vergessen hast, denn es hat dich nicht vergessen. Du bist wieder hier, obwohl deine Mutter versprochen hat, es nicht geschehen zu lassen. Also, was weißt du über den Schwur?“
Caleb tastete nach seinen Unterlagen unter der Jacke, ihn überfiel ein kalter Schauer, als er darüber nachdachte, dass der Tod seines Vaters kein Unfall auf einem Kutter gewesen sein mochte. Auch hatte er vor Augen, wie Tim neben ihm in diesem irrwitzigen Sturm das Gleichgewicht verlor und mit rudernden Armen über Bord ging. Weshalb hatte er das Gleichgewicht verloren? Was hatte er vorgehabt?
„Wenn ich dir sage, was ich weiß, beantwortest du mir dann die Fragen, die ich noch habe?“
Es war sehr still in der Bar, oder kam es ihm nur so vor? Sein Zeitsinn musste durcheinander sein – er war mit dem ersten Bus am Morgen angekommen. So früh öffnete keine Bar. Er musste lange am Hafen gesessen und die Welt um sich herum vergessen haben.
„Ich beantworte dir deine Fragen, wenn du beim Leben deiner Mutter schwörst, sofort abzureisen, niemals zurückzukommen und es mit ins Grab zu nehmen, was du weißt.“
Wer hat die Seiten aus dem Buch verbrannt? dachte Caleb.
Der Bibliothekar hatte ihm erzählt, das Buch sei bereits mit den verbrannten Seiten in den Besitz der Bibliothek gelangt. Caleb sagte, er schwöre es beim Leben seiner Mutter, nahm einen Schluck Bier. Es schmeckte seltsam und er nahm noch einen Schluck, um den Nachgeschmack zu bestätigen.
„Ich vermute, dass es ein Bündnis zwischen einiger oder aller Familien gibt, das Geheimnis des Hauses auf der Klippe zu bewahren. Deshalb kommt niemand von außerhalb her, um dumme Fragen zu stellen. Selbst die Gemälde, auf denen es zu sehen war, wurden zerstört. Ganz Maghera Beg ist damit beschäftigt, dem Haus etwas Unheimliches anzudichten, damit keine nachfolgende Generation es wagt, nachzusehen, was sich wirklich dahinter verbirgt.“
Der Barceeper musste Limonade oder Beerensaft ins Bier gemixt haben, der süße pelzige Nachhall auf seiner Zunge wollte gar nicht verschwinden.
„Ich habe das Buch von A. Dannon gefunden“, sagte er mühsam, scharf beobachtet von Pat, „viele Seiten sind zerstört, der letzte lesbare Satz vor den verbrannten Seiten beginnt mit ‚die ersten Siedler verbündeten sich mit ihm‘, der Rest ist zerstört. In meinen Notizen…“ Es wunderte ihn etwas, dass sein Notizbuch und die Kopien bereits vor ihm auf dem Tisch lagen. Pat hatte sie zunächst ausgebreitet, dann wieder zusammengeschoben und sein volles Glas darauf gestellt.
„Das Haus war vor Maghera Beg da“, sagte Caleb, leerte sein Glas, „vielleicht sind wir nur hier, um zu verhindern, dass es zerstört wird. Wir reparieren es heimlich, weil…“
„Nein, Caleb“, sagte Pat mit sanfter Stimme, „wir beschützen es nicht. Unser Schwur ist es, die Welt vor ihm zu beschützen.“
 
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Kommentare  

Das wird ja hier immer unheimlicher. Caleb verhindert ein "Opfer" und forscht in der Bibliothek. Er wird gewarnt, aber wird er darauf hören? Ich fürchte nicht:)

Jochen (09.09.2009)

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