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30 Seiten

Ahrok - 10. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Zehntes Kapitel: Kanalwächter

Am späten Abend saßen sie immer noch mit den sieben Kanalwächtern zusammen. Wo sollten sie auch anders hingehen? Das stachlige Tor war geschlossen und die Kaserne damit abgeriegelt. Im Leben der Soldaten war der Ausgang fest reglementiert und insbesondere zu solch später Stunde den Kanalwächtern nicht mehr gestattet. Vielleicht fürchtete man, dass sie einfach nicht wieder in dieses Drecksloch zurückkehren würden, wenn sie erst einmal die Schönheit der Welt da draußen gesehen hatten. Was es auch war, sie saßen nun jedenfalls hier fest und hatten noch immer keinen Bissen zwischen die Zähne bekommen.
Ahrok erzählte den Männern gerade seine Lebensgeschichte, wobei er einige Dinge dann doch lieber ausließ, während er andere Ereignisse etwas schillernder ausführte, als sie es tatsächlich gewesen waren. Nun, da er sich selber zuhörte, klang sein Leben gar nicht so schlecht, wie er es immer in Erinnerung hatte.
Ragnar hingegen blieb einsilbig wie schon den ganzen Tag. Die anderen Wächter akzeptierten das und stellten auch keine Fragen an ihn.
Schade, denn Ahrok war sehr gespannt auf ein paar Details aus dem Leben des Zwerges gewesen. Da er jedoch nicht der Einzige sein wollte, der ihn darauf ansprach, blieb es heute nur bei seinen eigenen Erzählungen. Es würde sich schon nach und nach ergeben, dass ihn Ragnar auch in seine Vergangenheit einweihte. Ahrok beschloss, zumindest in dieser Hinsicht seine oftmals nicht vorhandene Geduld zu bemühen.
Nach der gemeinsamen Vorstellung hatten die sieben Männer sich darüber geeinigt, welche Abteilung nun durch die beiden Neuzugänge verstärkt werden sollte. Es wurde rasch klar, dass die H-Brigade großen Wert auf ihren Namen legte und niemanden in ihren Reihen akzeptierte, dessen Namen nicht mit einem „H“ begann, also hatte man Ragnar und ihn für den morgigen Tag den drei Leuten zugeteilt, die sie heute als Letztes kennen gelernt hatten.
Der Elf in ihrer Truppe hieß Hideki, was so viel bedeutete wie „großer Baum“ oder auch „beeindruckender Baum“. Möglicherweise war das eine Anspielung auf ein mächtig gewaltiges Genital, aber wirklich sicher konnte man sich da bei den Elfen nicht sein. Er hatte schon als Kind nie verstanden, was diese Elfen immer mit ihren Bäumen hatten. Jedenfalls hatte dieser Hideki die Arbeit vor ein paar Jahren angenommen, um sich in der großen Stadt vor den Augen einiger Gesetzeshüter mit allzu vielen Fragen zu verstecken. Hierher kam niemand von der Stadtwache, hier fragte niemand nach Gesetzlosen, denn es hieß, dass die Arbeit bei der Kanalwache weitaus schlimmer war als ein Aufenthalt im Kerker Märkteburgs.
André, der jüngste Sohn eines Gewürzhändlers, war jemand, mit dem Ahrok sich sogleich verbunden fühlte. Der Junge war etwa in seinem Alter und, wie auch er, vor einem halben Jahr von zu Hause abgehauen. Da das Geschäft eines Tages an seinen älteren Bruder gehen würde und ihm deswegen nur die Wahl zwischen Kloster und Kaserne geblieben war, hatte er es vorgezogen, auf eigene Faust in die Welt zu zu ziehen, um sein Glück zu suchen. Er war auf seiner kleinen Abenteuerreise aber nicht sonderlich weit gekommen und da er in seinem Leben bisher nichts gelernt hatte, aber genug Ehrgefühl besaß, um nicht auf den Weg eines Diebes, Bettlers oder Wegelagerers zu geraten, schlug er sich seitdem mit dieser Tätigkeit durchs Leben. Natürlich nur so lange, bis sich etwas Besseres ergeben würde.
Die wunderlichste Gestalt aber war Quod. Ahrok hatte in einem langen und tiefschürfenden Gespräch erfahren, dass der Mann ein Troll–Zwergen-Mischling war, der unglaublich viel und gern redete. Das mittlerweile achtundsechzig Jahre alte Etwas war das denkwürdige Ergebnis einer ungewöhnlichen, wenn auch kurzen Liebschaft und allein die Vorstellung wie ein Troll und ein Zwerg sich zusammen in den Armen lagen, brachte Ahrok zum Schmunzeln. Dennoch verkniff er sich trotz seiner brennenden Neugier die Frage, ob Quods Mutter nun der Zwerg oder der Troll gewesen war und schwieg lieber, um einer weiteren, endlosen Geschichte zu entgehen. Es gab schließlich auch noch andere Abende und für heute hatte er wahrlich genug rührseliges Zeug von dem Zwergentroll gehört.
Die Gesichtszüge des missgestalteten Riesen wirkten so unnatürlich und grotesk, wie auch schon die ganze Geschichte um die Liebschaft seiner Eltern. Kümmerliche Hörner, stark ausgeprägter Haarwuchs und schlechte Zähne bewiesen, dass er von seinen Eltern nicht gerade die besten Eigenschaften geerbt hatte. Quod war alles andere als eine Schönheit, jedoch nicht wirklich hässlich, denn seine Augen strahlten eine Wärme aus, die rasch über sein abstoßendes Äußeres hinwegsehen ließ.
Trotzdem wurde er dort draußen in der Welt von niemandem akzeptiert. Mit dem Gemüse, welches man früher ständig nach ihm geworfen hatte, hätte er damals gut und gern einen kleinen Handelsstand betreiben können. Beinahe jede Woche hatte ihn ein Nachbar der Ketzerei, der Kindesentführung oder eines anderen garstigen Verbrechens beschuldigt. Irgendwann hatte er es einfach aufgegeben, in der Welt jenseits der Kasernenmauern leben zu wollen. Also hatte er sich für die Arbeit als Kanalwächter verpflichten lassen und war die letzten paar Jahrzehnte dabei geblieben. Keine Fragen, keine Diskriminierung. Bei der Kanalwache waren sie alle gleich.
„Hört zu, Leute! Jetzt beginnt der gemütliche Teil des Abends“, verkündete Quod. Seine linke, gelähmte Gesichtshälfte starrte Ahrok ausdruckslos an, während das rechte Auge vor Freude aufblitzte. „Jeder Neuankömmling in der glorreichen Kanalwache hat natürlich ´Das Ritual´ über sich ergehen zu lassen, um wirklich dazuzugehören. Die Kanaltaufe! Seid ihr bereit?“
Ahrok blickte auf Ragnar, dieser zuckte nur mit den Schultern. Das konnte ja halb so schlimm sein, wenn selbst André es überstanden hatte.
„Na wunderbar, dann kann es ja losgehen.“ Der Zwergentroll förderte von unter seinem Bett eine wirklich gewaltige Flasche mit durchsichtigem Inhalt und zwei Gläser zu Tage. „Es ist weniger ein Ritual, als einfach ein ganz normales Beisammensitzen unter Männern, aber, hey... ich steh auf den Namen ´Das Ritual´. Hier, André, du fängst an. Und du auch, Ahrok.“
Er wies ihn an, sich auf den Platz gegenüber von André zu setzen, dann schenkte er beiden ein Glas voll dieser beißenden Flüssigkeit ein.
Ahrok schnupperte daran. Oha, das Zeug ätzte ihm ja fast die Schleimhäute weg.
„Was ist das?“, fragte er vorsichtig.
„Das ist Quods Selbstgebrannter!“, lachte Hideki. „Wenn die alte Missgeburt auch sonst nichts kann, im Schnapsbrennen ist er unübertrefflich. Es gibt in der ganzen Altmark nichts Vergleichbares. Und nun endlich runter mit dem Zeug. Auf die Wächter!“
Ahrok nickte aufgeregt.
Endlich durfte er auch einmal richtigen Alkohol trinken. Was hieß hier „durfte“, er musste heute sogar. Die Männer um ihn herum blickten ihn mit freudiger Erwartung an. Er war nur noch Augenblicke davon entfernt in die Mitte dieses Haufens aufgenommen zu werden.
Gleichzeitig hoben Ahrok und der Junge die Gläser.
„Auf die Wächter!“, grölten alle aus vollem Halse und sie beide tranken aus.
André schüttelte sich kurz und schenkte Ahrok ein gequältes Grinsen. Er jedoch wurde von einem gewaltigen Hustenkrampf geschüttelt. Der Schnaps brannte wie flüssiges Feuer in seiner Kehle. Schlagartig wurde ihm schlecht, die Welt begann sich auf einmal schneller zu drehen und verfärbte sich in ein seltsam leuchtendes Grün. Alles um ihn herum bewegte sich, so dass er nicht einmal bemerkte, wie er vom Stuhl kippte. Hilflos zuckend blieb er auf dem Boden liegen. Seltsame Wesen krochen plötzlich aus den Wänden und begannen mit ihren langen, krallenbewehrten Armen an ihm zu zerren. Er wollte um Hilfe rufen, doch er würgte nur etwas Galle hoch.
Ragnar und die Kanalwächter begannen lauthals zu lachen, als sie ihn so liegen sahen. Letztendlich erbarmte sich einer von ihnen und schleifte Ahrok auf eines der Betten.
Quod wandte sich Ragnar zu: „Meine Güte, der ist aber ein Weicher. Das ging ja mal mächtig fix. Wo bleibt denn da der Spaß? Na gut, dann bist du jetzt dran.“
Der Valr setzte sich auf den soeben frei gewordenen Stuhl.
„Nun dann, trinken wir mal ´ne Kleinigkeit, Jungchen“, er hob das neu gefüllte Glas. „Auf die Wächter und so.“
Routiniert schüttete er den beißenden Inhalt in sich hinein.
„Scheiße noch eins, ich hab schon ranzige Butter getrunken, die besser geschmeckt hat als das hier. Hältst du deinen Schwanz in die Destille oder wie kriegst du es hin, dass von Natur aus leckerer Alkohol so beschissen schmeckt?“
Quod grinste.
André hingegen schüttelte sich angewidert. Entweder war das zweite Glas nun auch schon zu viel für ihn, oder aber er konnte sich nicht der Vorstellung erwehren, wie der Zwergentroll seine kostbarsten Juwelen in diesem Getränk badete. Das Ergebnis war zumindest, dass er die Hände hob und aufstand.
„Ich hab genug für heute. Wo steht der Eimer? Ich muss kotzen.“
Ohne auf den umher taumelnden André zu achten, nahm Quod auf dem freien Stuhl Platz.
„So, kleiner Mann, jetzt trinkst du mal mit einem, der ´ne Leber wie ein echter Zwerg hat.“
Sofort schenkte er nach.
„Auf die Wächter, Ragnar.“
Die beiden leerten sieben Gläser, bis Quod ohne Vorwarnung vom Stuhl rutschte und durch den nächsten Kanalwächter abgelöst wurde.
Es war ein barbarisches Ritual, in welchem sich keiner der gestandenen Kanalwächter gern geschlagen gab, erst recht nicht einem Zwerg, der schon so viele Gläser geleert hatte.
Witze wurden gemacht, böse Blicke ausgetauscht und zotige Herausforderungen gelallt, aber
einige lange Stunden später lagen acht Männer schnarchend in ihren Betten oder auf dem Boden, während Ragnar allein am Tisch saß und Glas um Glas in sich hinein kippte, bis die dickbauchige Flasche nichts mehr hergab.
Starr blickte der Zwerg in sein verzerrtes Spiegelbild auf dem Boden des Glases. Narben, rot gefärbtes Haar, eine sechsmal gebrochene Nase… war es das, was sein Vater von ihm gewollt hatte? Sein Schädel dröhnte von all den Gedanken und sein Magen revoltierte gegen das ekelhafte Zeug.
„Kotzen iss nich“, motivierte er seine Innereien und sie gehorchten.
Träge sah er sich nach einer neuen Flasche um, konnte aber keine finden.
Noch immer nicht…
Noch immer hatte er es nicht geschafft, all seine Erinnerungen zu ersäufen. Manchmal zweifelte er daran, dass es überhaupt möglich war, all diese quälenden Gedanken, die sich aus der Tiefe unermüdlich emporarbeiteten, ein für alle Mal zu verbannen. Wutentbrannt schleuderte er die Flasche von sich und sie zersplitterte über der Tür. So plötzlich wie die Wut über ihn gekommen war, verließ sie ihn auch wieder. Tiefer Gram legte sich auf die rosigen Gesichtszüge des Zwerges. Konnte diese Schuld jemals vergeben werden?

„Eintausend Jahre, stolz und hart
wir schwören dir bei Alriks Bart
bei Blut, bei Hadwin und unserem Leben
es wird weitere tausend geben!
Hammerfels, Hammerfels!
Der Fels in unseren Herzen, unser trautes Heim
so ist es und wird es immer sein.
Komm trink mit mir, Bruder, tanz und lach,
denn heute ist es Frickas Nacht!
Hammerfels, Hammerfels!

Das Blut der Berge strahlt heut Nacht
Ein Glanz für die Ewigkeit…“

Pah! Ewigkeit… noch lange starrte Ragnar vor sich hin ins Leere.
Hammerfels…

Der nächste Morgen war schrecklich für Ahrok. Über Nacht waren die bösartigen Kreaturen verschwunden, aber sein flauer Magen drehte sich immer noch und in seinem Kopf schien ein ganzes Regiment Schlachtentrommler ein Konzert abzuhalten. Die schreiende Trompete im Hof tat auch nicht gerade gut daran seinen Zustand zu bessern.
„Kompanie, Auuuuuufsteeeeeeeeehhhhn!!!“, Gunthers heisere Stimme verhieß nichts Gutes.
Ahrok zog die Decke über den Kopf und hoffte, niemand würde hier nach ihm suchen. Sterben wäre jetzt so schön.
Ragnar stieß ihn ohne Warnung so kräftig an, dass er aus dem Bett plumpste.
„Aufsteh´n, Ahrok.“
Nur mit Mühe konnte er die Augen öffnen. Selbst das schummrige Licht der Morgensonne, welches verhalten durch die kleinen Fenster fiel, brannte sich grausam in seinen Kopf hinein.
Nie wieder Alkohol! Wie konnte man dieses beschissene Zeug überhaupt freiwillig trinken?
Stöhnend zog er sich wieder am Bettpfosten nach oben, bemüht seinen ungehorsamen Beinen wieder das Stehen beizubringen. Der Tag fing echt beschissen an. Die Versuchung, sich dem Willen seiner Knie zu beugen und sich gleich wieder hinzulegen, war unwiderstehlich.
„Du hast mich hier hergeschleppt, jetzt steh auch endlich auf“, Ragnar zerrte ihn wie ein widerspenstiges Kind am Handgelenk zur Tür.
„Früüüüüüüüüüühhhhhhhstüüüüüüüüüüück!!!“, dröhnte es durch das Lager. Ahrok wünschte, die Jungs in der Armee würden nicht ständig so laut brüllen. Noch Minuten später hallte die Stimme in seinem schmerzenden Schädel nach.
„Tja, wo ist denn bloß die Kantine?“, grübelte Ragnar neben ihm.
Er selber hatte im Moment keine Muße sich zu erinnern, sondern war immer noch viel zu sehr damit beschäftigt, die Muskeln in den wackligen Beinen zu motivieren. Selbst als Ahrok versuchte, sich die gestrigen Ereignisse wieder in den schmerzenden Schädel zu rufen, war da nichts als dichter Nebel. Man hatte sie doch gestern eingewiesen. Oder nicht? Langsam krochen die Gedanken durch seine Hirnwindungen. Jeder einzelne Versuch, sich zu erinnern, tat weh. Alles sah so gleich aus.
„Ich glaub, wir müssen da drüben hin“, Ahrok wies auf das Haus vor dem der Rest der Kanalwache Schlange stand. Noch bevor die Worte verklungen waren schleifte ihn Ragnar auch gleich unsanft dorthin.
„Toll, dass ihr auch endlich kommt“, brummte ein Mensch, den Ahrok noch düster als Herbert in Erinnerung hatte, ungehalten zur Begrüßung. Die anderen nickten ihnen nur knapp zu. Ihren Gesichtern nach zu urteilen ging es den meisten nicht bedeutend besser als ihm selber. Alle neun Soldaten setzten sich der Reihe nach an einen einzigen der vielen freien Tische und ein wohl zu Recht unterbezahlter, dreckiger Mann reichte ihnen lustlos einen Korb mit Brot und einen Krug Butter.
„Iss schneller, Ahrok. Wir müssen in sechs Minuten los“, rief ihm Hideki zu. Der Elf schlang so schnell er konnte die letzten Bissen seiner Mahlzeit herunter.
Ahrok schob seinen Teller beiseite. Obwohl er gestern nichts außer einem Glas voll ekliger Flüssigkeit zu sich genommen hatte, verweigerte sein Magen jedwede Nahrungsaufnahme.
„Eure erste Schicht bricht an, Neulinge. Viel Glück! Haltet euch nur immer an den guten, alten Quod und es kann euch gar nichts passieren.“
Ahrok beugte sich zu Ragnar hinunter, der fleißig Brot und Butter hinter seinem Bart verschwinden ließ: „Was machen wir eigentlich in unserer Schicht?“
Dieser zuckte nur wie immer mit den Schultern, ergriff seinen Hammer sowie einen weiteren Kanten und folgte dem missgestalteten Troll.
„Keine Ahnung. Aber das werden wir wohl schon früh genug erfahren.“

Nahezu feierlich hatten sich die drei anderen Kanalwächter in der Mitte des Lagers versammelt. Ahrok hätte ihnen für das dämliche Grinsen in ihren Gesichtern nur zu gern die Visage umgegraben, aber er brachte es momentan gerade einmal fertig sich wacklig auf den Beinen zu halten.
Quod, dieser entstellte Riese, reichte ihnen beiden zwei kleine Lichtquarze und eine Karte, die so alt war, dass sie schon beim bloßen Hingucken unter ihren Fingern zerfiel.
„Haltet euch am besten immer in unserer Nähe auf. Dann verlauft ihr euch auch nicht. Falls ihr uns verliert - da habt ihr eine Karte. Benutzt sie. Und das wohl Wichtigste: Fallt um des Namenlosen Willen nicht in die Suppe, denn das brennt wie Sau in den Augen und sonst wo. Noch dazu kriegt ihr das nie wieder aus den Kleidern raus. Wenn ihr euch verletzt, sei es im Kampf oder durch eigene Dummheit, und ihr kommt mit der Scheiße da unten in Kontakt… Tja, ich will es mal so sagen: Ihr wärt nicht die ersten, denen hier ein Arm oder Bein abgesägt werden muss wegen eines kleinen Kratzers. Also passt auf, wo ihr hintretet. Ach ja, und haltet eure Waffen griffbereit. In letzter Zeit ist im Sektor B ganz schön was los, wie eigentlich immer, wenn der Sommer so lang und so trocken war. Ich wär nicht überrascht, wenn es heute zur Sache geht.“
Mit einem kräftigen Ruck öffnete Quod eine vergitterte Falltür und begann als Erster den Abstieg in die Kanalisation.
„Das macht also die Kanalwache“, sinnierte Ahrok kaum hörbar.
Der Gestank, der aus der Falltür strömte, war nicht im Mindesten dafür geeignet seinen armen Magen zu beruhigen. Die Übelkeit lauerte nur auf eine günstige Gelegenheit, ihn wieder zu überrumpeln und dies war genau so ein Moment.
Vorsichtig stieg er die Leiter hinab in die Finsternis. Es war Dunkel, es stank, die Sprossen waren glitschig und er musste die andere Hand auch noch dazu benutzen, sein Schwert festzuhalten. Er hatte jetzt schon die Nase voll von all dem hier.
Bedrohlich knirschte jede einzelne Sprosse der morschen Holzleiter unter ihm, als wollten sie ihn warnen, ja nicht weiter zu gehen.
Als er endlich auf festem Boden angekommen war, hatten die anderen Arbeiter schon ihre Lichtquarze zum Glühen gebracht und Ahrok konnte einen Blick auf die Kanalisation Märkteburgs werfen.
Besonders beeindruckt war er nicht. Hier standen sie nun auf einem kaum zwei Schritt breiten, steinernen Weg, welcher über und über mit Moosen und undefinierbaren, schleimigen Substanzen bedeckt war. Rechts von ihnen die verhalten bröckelnde Kanalwand, links von ihnen ein mindestens drei Schritt breiter Fluss mit widerlicher Färbung und noch widerlicherem Gestank. Ein Großteil war sicherlich nur Regenwasser, aber um den Rest machte sich Ahrok Gedanken – keine angenehmen Gedanken.
„So, Kinder, wir nehmen heute diesen Weg“, Quod zeigte auf seiner Karte ihre heutige Marschroute an. Ahrok sah gar nicht hin. Er betrachtete die Gesichter seiner Mitarbeiter, die sich hinter dunklen Mundschutzen verbargen und schwor sich, bis zu seinem nächsten Ausflug in die Gülletunnel für sich selber auch so ein Ding zu besorgen. Wenn er nur erst wieder nüchtern wurde, würde alles besser werden. Ganz bestimmt.
Schon nach den ersten Schritten begann Quod mit gedämpfter Stimme zu singen: „Wo gibt’s kein Aua, gibt’s kein Weh?“
„Wo gibt’s kein Aua, gibt’s kein Weh?“, echoten die Anderen.
„Bei den Jungs von der Kanalwaché!“
„Den Jungs von der Kanalwaché!“
„Kanahal…“
„Kanahal…“
„…wahacht!“
„…wahacht!“
Ahrok versuchte erst gar nicht, sich den Text der unzähligen Strophen zu merken. Die Worte marschierten durch seinen Schädel hindurch, trafen dabei auf keinerlei Widerstand. Er starrte nur stumm auf seine eigenen Füße und versuchte, den Anschluss an die Gruppe nicht zu verlieren.
Irgendwann kam dann der Hunger wieder, aber eine Mittagspause war wohl nicht eingeplant, also folgte er einfach nur immer weiter den schmutzigen Stiefeln seiner Kameraden.
Eine gefühlte Ewigkeit, die Quod offenbar völlig fälschlich als gerade einmal sechs Stunden bezeichnete, verbrachte er damit den drei Kanalwächtern stur hinterher zu laufen. Ahroks größte Errungenschaft in der Zeit war es, dass er es geschafft hatte seinen Brechreiz zu unterdrücken.
Das ganze Areal unter der Stadt war furchteinflößend dunkel und die winzigen Lichtquarze erhellten die Umgebung nur in einem Umkreis von höchstens sechs Schritt. Für ihn sah ein Fleck genauso aus wie der nächste. Es hätte Ahrok nicht im Geringsten überrascht, wenn man ihm offenbart hätte, dass sie die ganze Zeit nur im Kreis gelaufen waren. Ein fürchterlicher Gestank und das monotone Plätschern der Suppe waren allgegenwärtig. Ab und zu erklang ein Quieken und Quietschen von irgendwoher und etwas Haariges streifte von Zeit zu Zeit seine Beine.
Diese Arbeit war einfach nur Scheiße. Jetzt wusste er, dass es doch noch Tätigkeiten gab, die schlimmer waren als die Feldarbeit.
Er war überglücklich, als sie schließlich wieder die versiffte Leiter nach oben stiegen und die Kanalisation verließen.
Endlich an der Oberfläche angekommen, atmete er tief die frische Luft ein. Schlagartig ging es ihm besser. Das dumpfe Rumpeln in seinem Magen ebbte ab und er hatte wieder einen Mordshunger.
Doch die frisch aufgekeimte, gute Laune währte nur kurz. Der Kanal ließ ihn auch hier oben keine Ruhe finden. Missmutig begutachtete er seine durch die erste Schicht schon nun völlig ruinierte Kleidung. Den ekligen Gestank würde er wohl nie wieder herausbekommen. Silber für neue Wechselsachen besaß er auch nicht. Genauer betrachtet wurde der Tag von Minute zu Minute sogar immer schlechter.
„Wie ist es gelaufen?“, fragte Gunther die zurückkehrenden Wächter.
´Beschissen´, wollte Ahrok gerade einwerfen, als ihm jemand anderes zuvor kam.
„Alles ruhig heute. Nichts aber auch gar nichts ist uns über den Weg gelaufen. Jedoch ist der Kanal unter dem Richtplatz schon gewaltig hinüber. Dort sollten die Jungs von der Instandsetzung demnächst mal wieder die Wände und Decken ausbessern“, erwiderte Quod auf die Frage des Sergeanten.
„Gut“, nickte Gunther, „dann werdet ihr morgen mal in den F Sektor gehen und überprüfen, was sich da so die letzten Tage getan hat. Gute Arbeit, Jungs. Schluss für heute.“
„Ihr habt es gehört. Feierabend“, Quod winkte ihnen zu und alle Kanalwächter verstreuten sich in Windeseile auf dem Gelände.
Endlich war er da, der ersehnte Feierabend.
Unschlüssig standen sie beide allein auf dem Exerzierplatz.
Die Kanaltaufe gestern hatte ihm nun auch das letzte bisschen Lust geraubt, je wieder eine Taverne zu besuchen, abgesehen davon besaßen sie ohnehin kein einziges Silberstück, um sich in der Stadt zu amüsieren. Es war gerade einmal später Nachmittag und der Spätsommertag besaß noch viel zu viele Stunden, als dass es sich lohnen würde, jetzt schon in einem der wackligen Betten zu verschwinden. Da er auf die Gesellschaft der anderen Kanalwächter nach dem heutigen Tag auch sehr gut verzichten konnte, blieb ihm nur noch Eines. Er würde den Valr herausfordern und mit dem ein paar Duelle ausfechten.
Es schien ihm eine gute Idee, mit dem Zwerg zu trainieren, um nicht aus der Übung zukommen, denn vielleicht konnte der ihm ja sogar noch etwas beibringen.
Ahrok warf sein stinkendes Hemd beiseite und nickte Ragnar zu, welcher ebenfalls darüber sinnierte, wie er den restlichen Tag verbringen sollte. Der Innenhof hier war groß genug, um sich wieder ein paar blaue Flecke zu holen.
„Bereit für einen kleinen Übungskampf, Ragnar? Du wolltest mir doch noch in den Arsch treten“, Ahrok legte seine Waffe auf der Schulter ab.
Der Valr grunzte zufrieden, spuckte aus und wuchtete seinen Hammer nach oben.
„Na dann los“, kommandierte Ahrok.
„Hey, Neulinge!“, schallte es über den Hof. „Ihr seid dran, die Ausrüstung zu putzen!“
Während Ragnar keine Anstalten machte, auch nur im Geringsten auf diesen Ruf zu reagieren, drehte sich Ahrok in Richtung des Sprechers. Prompt kassierte er die Quittung dafür, denn Ragnars Schlag fegte ihn darauf schmerzhaft von den Beinen.
„Ragnar! Mensch, Scheiße!“, rief Ahrok vom Boden hoch und rieb sich das schmerzende Schienbein. „Was soll der Scheiß von wegen Ausrüstung putzen? Habt ihr sie noch alle?“
Der Ärger über den Treffer drohte schon in echte Wut überzugehen.
„Hey, das muss gemacht werden und die Regeln sagen, dass die Neuen sich ´ne Weile um die Ausrüstung kümmern müssen. Ist halt so. Ich hab die Regeln nicht gemacht. Du kannst ja nebenbei noch ´ne Kleinigkeit essen, denn hinten in der Kantine stehen noch Reste vom Frühstück wenn ihr wollt“, André wies mit dem Daumen auf das Gebäude hinter sich.
„Wird das mit uns beiden jetzt noch was, oder willst du lieber mit dem da tiefschürfende Gespräche führen?“, maulte ihn nun auch noch Ragnar an.
Urplötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, der seine Laune sofort wieder etwas anhob.
„Warte mal, André“, rief er dem Jungen zu. „Ich würde sagen, wir klären das wie echte Männer und regeln das mit dem Putzen über eine Partie Gimachti kruchon“, Ahrok stand auf und stellte sich herausfordernd hin.
„Hä?“
„Na, ganz einfach, das wird ausgekämpft und der Verlierer putzt die Ausrüstung. So machen das richtige Männer eben.“
„So spricht ein wahrer Krieger“, intonierte Ragnar festlich.
„Ich glaube nicht. Was gibt’s denn da für mich zu gewinnen?“
„Tja, äh… gar nichts. Es geht hier ums Prinzip, also hab dich nicht so.“
„Du darfst ihm ins Gekröse treten“, fügte Ragnar noch hinzu.
Unsicher kratzte sich der Junge am Kopf. „Also… ich weiß echt nicht, was ihr gerade von mir wollt.“
„Das ist ganz einfach. Hier, du darfst sogar anfangen“, Ahrok stellte sich breitbeinig hin. „Nu mach schon. Tritt zu.“
André blickte ihn fassungslos an. „Das meinst du doch nicht ernst, oder?“
Ragnar nickte sachlich. „Nu tritt ihm schon die Nüsse eckig. Wir haben hier nich den ganzen Tag Zeit.“
André begab sich eher zögerlich in Position. Der Junge überlegte kurz, aber dann gewann seine Neugier und er trat dann zu. Sein Tritt war eher verhalten und bei weitem nicht der Kräftigste. Ahrok rang sich ein überhebliches Grinsen ab.
„Wie´s aussieht, steh ich noch, das heißt dann, dass ich dran bin.“
André schluckte hörbar. „Ihr habt mir nicht erzählt, dass ich mich treten lassen muss.“
„Ja, was hast du denn erwartet? Das wir hier stricken, oder was? Beine breit und Mund zu“, kommandierte Ragnar.
Sichtlich verschüchtert fügte sich der Junge ohne weiteres Argumentieren.
Ahrok grinste.
„Uiiiiiiiiiiiiiiii...“, André ging in die Knie und Tränen schossen ihm in die Augen.
„Mach dir nichts draus. Beim ersten Mal verlieren sie immer“, wiederholte Ahrok den Satz, den er neulich von Ragnar gehört hatte. „Also bist du heute dran mit der Pflege der Ausrüstung und wir“, er nickte Ragnar zu, „machen da weiter, wo du uns unterbrochen hast.“
Ohne Andrés Antwort abzuwarten, schwangen die Krieger mit lauten Kampfschreien ihre Waffen gegeneinander, bis die Sonne gänzlich hinter den tristen Baracken verschwunden war.

„So, Jungs“, erhob Quod seine Stimme am nächsten Morgen, „heute gehen wir in den Sektor F. Für unsere Neuen, so nennen wir das Stück der Kanalisation unter dem Marktplatz und einem Teil des Händlerviertels. Seit man uns die Mittel gestrichen hat, ist da niemand mehr patrouilliert. Da werden also höchstwahrscheinlich eine Menge Biester herumlaufen also passt gut auf, vielleicht begegnen wir einigen Schattenspinnern oder...“
„Ähm, wem bitte?“, meldete sich Ahrok.
Dieses frühe Aufstehen nervte ihn gewaltig. Es war schon schwer genug, den Worten des Trolls zu folgen, ohne dass dieser Fremdwörter benutzte. Gähnend wischte er sich den Schlaf aus den Augen und stocherte lustlos zwischen den Resten seines Frühstücks. Wer konnte denn so früh schon etwas essen?
„Schattenspinner. Das ist so ein dämonisch angehauchtes Gesocks, Überbleibsel aus den Zeitaltern der Bestrafung. Du weißt schon, Spinnen von ungefähr dieser Größe“, er hielt die Hand in Hüfthöhe und wartete grinsend auf Ahroks Reaktion.
Dieser war sofort hellwach. Als ob es nur auf einen günstigen Moment wie diesen gewartet hatte, überkam ihn schon wieder das ungute Gefühl, diese Arbeit doch lieber nicht angenommen zu haben.
„Das ist jetzt aber ´ne Verarsche, oder?“
Die Kanalwächter am Tisch blickten missmutig auf ihre Teller. Keiner sagte ein Wort. Eine Schicht, in der von vorn herein mit schwerer Gegenwehr zu rechnen war, war für niemanden angenehm und bereitete schon im Vorfeld Unbehagen. Der Gedanke verwundet oder gar getötet zu werden, hing wie eine dunkle Wolke über den letzten Minuten der Mahlzeit.
„Wirklich? So groß werden die hier?“, der Valr grinste als Einziger breit über sein bärtiges Gesicht.
Ahrok runzelte die Stirn. Spinnen waren eklig und je größer desto ekliger. Er wusste von diesem Zeitpunkt an, das diesen Zwerg niemals ganz verstehen würde.
„He, Ahrok“, André winkte ihn zu sich heran. „Ich hab noch ´ne alte Ersatzfellrüstung liegen. Sie ist zwar nicht mehr so gut in Schuss, aber ich leih sie dir für die Schicht, wenn ich später mit euch trainieren darf.“
Ahrok nickte.
„Klar doch. Danke, so was kann man immer gebrauchen, wenn man auf Riesenspinnen trifft.“
Fellrüstung… was hatten die Typen immer nur mit ihren Fellrüstungen.

In der Kanalisation war es wieder so düster und die dünne Luft roch genauso ekelhaft wie auch schon gestern. Ahrok hatte ja noch einen Funken Hoffnung gehabt, dass nur der B Sektor so abscheulich stinken würde, aber auch diese Hoffnung hatte sich ganz schnell in Luft, oder vielmehr Gestank, aufgelöst.
In diesem Bereich waren die verwinkelten Wege der Kanalisation schon uralt und schienen noch aus Zeiten vor dem letzten Zeitalter der Bestrafung zu stammen. Alles war entweder kurz davor, in sich zusammenzufallen, glitschig und schleimig oder aber von allerlei Tier und Pflanzenviech bevölkert. Auf manche Stellen der Kanalisation traf gleich alles auf einmal zu.
Doch ab und zu, wenn man genau hinsah, konnte man hier und da unter all dem Unrat noch Reste meisterlicher Handwerkskunst an den Wänden erkennen. Die Erbauer der Kanalisation hatten sich damals mächtig Mühe gegeben.
Alte Statuen, die vielleicht einmal Drachen dargestellt hatten oder aber auch heroische Recken oder hübsche Damen, standen an vielen Ecken des Kanals und stützten die bröckelnde Decke. Der Zahn der Zeit hatte aber zusammen mit den fauligen Dämpfen hier unten ausgiebig an ihnen genagt.
Ein Großteil der Statuen war bereits zerfallen, von Pflanzen überwuchert oder mutwillig zerschlagen worden. Die Meisten bestanden nur noch aus riesigen Schutthaufen, die nun Heimat für vielerlei Getier waren, welches er lieber nicht zu Gesicht bekommen wollte.
Ahrok hatte an seinem zweiten Arbeitstag herausgefunden, dass die Kanalwache hauptsächlich Beschädigungen an der Struktur erfasste, um die seit Jahrzehnten überfälligen Reparaturen zu koordinieren. Sie hatten weiterhin die Aufgabe alles abzumurksen, was größer als eine Elle war und sich hier unten unerlaubt herumtrieb. Das sollte den Handwerkern von der Instandsetzung die Arbeit erleichtern, wie auch die Bürger der Stadt vor den teilweise wirklich grausigen Schrecken hier unten beschützen.
Sie kamen heute auch nicht schneller voran, als gestern.
Hier und da versperrten große Gittertore den Durchgang, welche nur mit speziellen Kanalwache-Schlüsseln geöffnet werden konnten. Dann verzögerte sich alles wieder um ein paar Minuten. Erst musste der richtige Schlüssel herausgesucht werden, dann zwängte sich der Troll als Erstes durch das für ihn viel zu kleine Tor, dann folgte der Rest und zum Schluss musste das Tor wieder geschlossen werden. Aber glücklicherweise war, wie bei allem hier unten, auch von den Toren schon eine Vielzahl nicht mehr so gut in Schuss. Manche waren gar nicht mehr vorhanden und nur noch ein paar rostige Halterungen zeugten davon, dass auch in Märkteburgs Kanalisation früher einmal alles besser gewesen war.
Ein unscheinbarer Schatten duckte sich in einiger Entfernung neben eine der zerbrochenen Statuen und huschte fort, als er Ahroks Blick gewahr wurde.
„Habt ihr das da gerade gesehen?“, fragte er in die Runde und zeigte in die Abzweigung hinein, in die der Schatten verschwunden war.
„Nein und die Gegend da liegt ohnehin nicht auf der heutigen Route“, erklang es von weiter vor.
Beruhigt senkte Ahrok den Kopf und trottete wieder den anderen Stiefeln hinterher.
Ragnar hinter ihm hatte jedoch angehalten und starrte in das Dunkel, wohin Ahrok gewiesen hatte.
„Halt“, kommandierte er schließlich und sog tief die stickige Luft ein. „Da vorne ist wirklich etwas. Das riecht wie... Dökksormr?!“ Ragnars ansonsten doch eher gelangweilt dreinblickendes Gesicht verzog sich zu einer Grimasse der Wut. „Weiße!“
Ahrok verwunderte es in diesem Moment am allermeisten, wie der Zwerg überhaupt etwas außer seinem eigenen Gestank wahrnehmen konnte. Noch dazu hier unten, wo sich jeder normale Mensch die Nase zuhielt und bemüht war, nicht allzu viel zu atmen.
Unschlüssig hielt der kleine Trupp inne und wartete auf die Reaktion ihres Anführers.
„Weiße? In Märkteburg?“, kommentierte der Troll letztendlich Ragnars Ausbruch mit einem gesunden Hauch Skepsis. „Irrst du dich auch nicht, Zwerg?“
Trotz der Dunkelheit sah man Ragnar an, dass er nur mühsam eine barsche Antwort unterdrückte und Quod stattdessen nur einen bösen Blick zuwarf.
„Natürlich irre ich mich nicht. Seid still und hört doch mal.“
Die gesamte Gruppe erstarrte in ihren Bewegungen, selbst die Atemgeräusche verstummten augenblicklich und ein jeder spitzte die Ohren. Nach einem kurzen Moment vollkommener Stille vernahm Ahrok tatsächlich etwas. Es klang wie ein leises Grollen oder Zischen, aber da war auch das Kreischen von Metall, das über Stein schleift war zu hören. Vielleicht war es aber auch nur ein besonders lautes Geräusch von der Straße über ihnen.
Mit einem erleichterten „Ich hör nichts“ unterbrach André das angestrengte Lauschen der Kanalwächter. „Du, Quod, was sind Weiße eigentlich?“
Der kratzte sich am Kopf.
„Puh, weißt du das ist schwer zu erklären...“
Ragnar schob sich zwischen die beiden.
„Du besitzt das Geschichtswissen eines gewöhnlichen Menschen, Bürschchen. Nämlich gar keins. Sie sind ungefähr so groß.“ Der Valr hob die Hand so hoch er konnte über seinen Kopf. „Es sind aggressive Biester, intelligent und immer in großer Zahl unterwegs. Damals vor zweitausend Jahren, nach der Zeit des Feuers, da lebten sie mit euch Menschen zusammen an der Oberfläche. Ihr nanntet sie in eurem Erfindungsreichtum liebevoll ´die Veränderten´. Es dauerte nicht lange bis es zwischen euch zum großen Krieg kam. Dem Ersten seit euer Gott die Welt mit ihrer Zerstörung gestraft hatte. Und Glückwunsch – ihr habt gewonnen. Habt sie beinahe ausgerottet und den Rest von ihnen von der Oberfläche verbannt. Scheiße, warum kommt ihr Menschen eigentlich immer darauf, alles, was ihr nicht leiden könnt, hinunter zu uns zu jagen?
Seither hausen sie unter der Erde, unter den Bergen und unter den Meeren und graben und bauen dort ihr Reich. Nach etwa eintausend Jahren kehrten sie zurück. Bleich wie der Mond und getrieben von Jahrtausende altem Hass der Verbannung und Verachtung. Sie sind wie eine Plage, die über unsere Städte kam. Zerrissen unsere Männer, fraßen die Frauen und Kinder und nun... nun sind sie wohl bis hier her in den Norden nach Märkteburg vorgedrungen.“
„Quod?“, wandte sich André an ihren Truppführer in der leisen Hoffnung, dass dieser die soeben erzählte Geschichte als Märchen entlarven würde. Dieser kratzte sich jedoch nur verunsichert zwischen seinen Hörnern. „Hört auf mit der Scheiße! Ihr macht mir hier Angst!“
Der Zwerg sah dem Jungen eindringlich in die Augen.
„Die solltest du auch haben, Kleiner. Du solltest dich wirklich fürchten, denn wenn ich Recht habe, dann sind wir jetzt offiziell am Arsch.“ Dann grinste er plötzlich. „Was für ein glorreicher Tod. Ragnar, Sohn des Rango, gefallen in einer gewaltigen Schlacht gegen die schuppigen Bestien der Dökksormr.“ Ragnars Blick schweifte in die Ferne. „Das wird echt heftig… Los! Die Richtung!“
„Halt warte, Ragnar. Hey, Soldat! Das liegt nicht auf unserem Weg! Ragnar!!!“, rief Quod ihm mit vor Aufregung quietschender Stimme nach. „Scheiße! Leute, lasst den bloß laufen und rennt dem ja nicht hinterher! Wir lassen uns von den Geschichten eines wahnsinnigen Zwerges nicht einschüchtern und halten uns an unsere Route, klar? Ich hab von Anfang an gewusst, dass der uns mal Ärger macht.“
Ahrok sah wie der Lichtquarz des Valrs da vorne in der Dunkelheit auf und ab hüpfte. Eine innere Stimme drängte Ahrok, dem Zwerg sofort nachzulaufen.
„Hey, Neuer, hör auf in der Gegend rumzulungern. Hier lang!“, befahl Quod.
Die Gruppe Kanalwächter marschierte bereits wieder in die vorgeschriebene Richtung davon.
Warten? Der Gruppe folgen? Ragnar nachlaufen?
Ohne weiter nachzudenken, ließ er die Männer stehen und folgte dem Zwerg in die Dunkelheit.
„Neuer! Ahrok! Hier entlang!“, verfolgte ihn Quods Stimme. „Ach, beim dreimal verfluchten Namenlosen, das kann doch jetzt nicht wahr sein…“
Die Rufe des Trolls waren für Ahrok kaum noch wahrnehmbar. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, weder der von allerlei Getier übersäten Wand, noch dem sich dahinschleimenden Exkrementfluss zu nahe zu kommen und zusätzlich noch den Zwerg nicht aus den Augen zu verlieren. Schließlich hatte der ihre Karte bei sich.
Zum Glück bot Ragnars wild hüpfender Lichtquarz eine gute Orientierungsmöglichkeit. Andernfalls hätte er sich wohl hoffnungslos hier unten verlaufen. Die beklemmende Stille, nur durchbrochen von einem leichten Plätschern, war mehr als er im Moment allein ertragen konnte.
Nach kurzer Zeit hatte Ahrok den Zwerg auch schon eingeholt.
„He, Ragnar, warte doch.“
Dieser schnellte wütend herum.
„Sei verdammt noch mal leise, Menschling.“
Dass sich dieser Zwerg immer gleich so aufregen musste. Ein ´Schön, dass du mir gefolgt bist, Ahrok. Ich kann dich auch gut leiden´ war doch wirklich nicht zu viel verlangt.
„Verdammt, sie haben dich gehört. Jetzt wissen sie, dass wir wissen, dass sie da sind.“
Ahrok musste erst einmal in Ruhe über diesen Satz nachdenken.
„Sie wissen, das wir wissen... ah ja, jetzt hab ich’s kapiert. Aber wer weiß das denn jetzt? Wo denn?“
Er konnte gar nichts erkennen. Zudem wusste er gar nicht, dass Zwerge im Dunkeln so gut sehen konnten.
Ragnar riss seinen Lichtquarz vom Revers und warf ihn ein paar Schritt nach vorn.
„Sieh hin.“
Der Valr umfasste seinen Hammer mit beiden Händen und Ahrok entschloss sich, nun auch lieber sein Schwert bereit zu halten.
Fröhlich klimpernd rollte der leuchtende Kristall noch ein paar Armlängen weiter und blieb dann friedlich in den schmutzigen Rillen liegen. Außer Ragnars pumpendem Atem war es hier unten wieder totenstill. Für einen winzigen Moment vermutete Ahrok, dass sich der Zwerg einfach geirrt hatte, doch dann spürte er sie, noch bevor seine Augen eine Bewegung wahrnahmen.
Vor ihnen befand sich ein verschlossenes Tor, doch in einer Nische kurz vor dem Gitter kauerte etwas. Der Zwerg hatte die Weißen in eine Sackgasse gejagt und kaum, dass das Licht in ihr kleines Versteck fiel, erhoben sie sich aus den Fetzen der Dunkelheit.
Ahrok hielt den Atem an und seine Muskeln verkrampften sich vor Anspannung. Gliedmaßen, Krallen, Schuppen,...
Dann traten sie ins Licht.
Bis ins Mark erschrocken wich er einen Schritt zurück. Ragnars kurze Beschreibung der Weißen hätte ihn auf das Schlimmste vorbereiten sollen, aber diese Wesen waren einfach nur grotesk.
Sein Herz raste im Galopp, während er sich langsam weiter nach hinten tastete. Die allumfassende Dunkelheit machte diese Wesen noch um Längen schrecklicher, als sie es bei Tageslicht gewesen wären.
Manngroße Kreaturen traten aus der Nische heraus in den Lichtkreis und stoppten dort vorsichtshalber. Sie hielten sich tief gebeugt und doch standen sie auf zwei Beinen, so als wollten sie die rechtmäßige Schöpfung der Götter verhöhnen. Aufrecht stehend waren diese Monster wohl so groß wie er selber und als er dann noch die schuppigen Schwänze erblickte, welche sich rastlos zwischen ihren Beinen hin und her wanden, war er nun völlig davon überzeugt, dass hier böse Geister am Werk waren.
Die glatten und ausdruckslosen Gesichter mit den sehr breiten Mündern erinnerten ihn mehr an Fische oder Eidechsen, denn an aufrechtgehende Lebewesen und auch die kleinen Schuppen, die sich über die bleiche Haut der Weißen zogen, ließen ihn sogleich vermuten, dass sich hier vielleicht vor langer Zeit einmal ein Mensch mit einem Drachen gepaart hatte. Seitdem er Quods Geschichte kannte, fand er diese Idee gar nicht so abwegig. Eine erkennbare Nase besaßen diese Wesen nicht, aber es waren ihre leuchtend gelben Augen die Ahrok in den Bann zogen.
Diese waren weder fischig noch waren es die Glupschaugen einer Echse.
Es waren tatsächlich die Augen eines Menschen, was Ahroks neueste These durchaus untermauerte.
Die Rüstungen der Weißen funkelten bläulich im Schein des Quarzes, doch der geschwärzte Stahl ihrer leise über den Boden scharrenden Waffen, blieb matt und beinahe unsichtbar in der Finsternis hier unten. Böse spiegelten sich ihre Augen im Lichtschein und scharfe Reißzähne blitzen hinter den wulstigen Lippen.
„Sei bloß vorsichtig, Menschling. Die verstehen keinen Spaß.“
Es war unnötig von Ragnar, das noch extra zu betonen, Ahrok schluckte auch so schon schwer.
Diese Biester konnten nicht von dieser Welt sein! Die Götter hatten sich einen schlechten Scherz erlaubt, als sie es zugelassen hatten, dass sich solche Monstrositäten in seiner Welt tummelten. Zum ersten Mal seit Langem überkam Ahrok wieder dieses ohnmächtige Gefühl, welches er immer in der Nähe seines Vaters verspürt hatte.
Sein Atem raste nur so dahin und seine Augen huschten von einem Monster zum nächsten. Er wollte sie zählen, sich einen Überblick über die Stärke des Gegners verschaffen, aber Dunkelheit und Furcht machten es ihm nicht leicht, ihre Zahl zu überschauen. Es waren auf jeden Fall mehr als sieben - vielleicht zehn.
Die Weißen begutachteten ihre Gegenüber sehr aufmerksam und verständigten sich nun untereinander mit grollenden und zischenden Stimmen. Es gab für die Schlangen nur einen Weg hier heraus und der führte direkt an ihnen vorbei.
Ragnar rechts von ihm beäugte die Biester ebenfalls mit ungewohnter Vorsicht und so wartete Ahrok auch lieber, bis sich einer bewegen würde. Er würde hier ganz sicher nicht den ersten Schritt machen.
Seine Hände wurden schweißnass, aber er wagte es jedoch nicht, sie an der Hose abzuwischen, aus Angst dass die monströsen Wesen genau diesen Zeitpunkt für ihre Attacke wählen würden.
„Bete, dass es nur ein verirrter Spähtrupp ist und lass keinen von ihnen entkommen“, flüsterte Ragnar, ohne den Blick von den Weißen zu wenden. „Sonst können wir uns bald von unserer schönen Stadt verabschieden.“
Ahrok nickte abgehackt, als er der Bedeutung dieser Worte gewahr wurde. Er kannte den Zwerg noch nicht sehr lange, aber er hörte am Klang der Stimme, dass der hier in diesem Moment keine Scherze machte. Die leisen aber doch so eindringlichen Worte des Valr drehten ihm den Magen um.
„Dökksormr Abschaum!“, brüllte Ragnar herausfordernd. „Wisse, dass es Ragnar Rangosson vom Klan des Fels´ ist, der dich zurück zur gefiederten Schlange sendet!“
Eine beklemmende Stille legte sich über die Kontrahenten, als diese Worte leise hallend weiter durch die Kanalisation geisterten. Nur wenige Herzschläge später begannen die Weißen urplötzlich ihren Angriff mit wildem Zischen.
Von dem Moment an, da der Kampf begonnen hatte, waren alle Furcht und Bedenken von Ahrok abgefallen und hatten einem immer scharfen Kampfsinn Platz gemacht, der von nun an seine Bewegungen koordinierte.
Ragnars erster Hieb beförderte die vorderste Schlange sogleich wieder aus dem Lichtschein hinaus und ein Plumpsen, welches von einem jämmerlich quietschende Zischen begleitet wurde, bewies Ahrok, dass ihm dieser Gegner nicht mehr gefährlich werden konnte.
Mit für einen Zwerg erstaunlicher Geschicklichkeit wich Ragnar dem Schwert eines Weißen aus, nur um in die wartende Klinge eines anderen zu laufen. Das Blatt der Waffe schnitt dem Valr über den Nacken und frisches Blut bespritze die Kanalwände.
Ein markerschütterndes Gebrüll bebte durch die Kanalisation und ihre Gegner wichen instinktiv zurück.
Ahroks wilde Hiebe hielten gleich drei der Bestien auf Abstand und er konnte kurzzeitig so etwas wie Verblüffung in den Augen der Weißen lesen, wenn diese Monster überhaupt zu derartigen Gefühlsregungen fähig waren. Aber dann stießen auch schon wieder andere ihrer Art vor. Sie umringten ihn, nahmen ihm den Platz, den er brauchte, um die lange Waffe zu schwingen. Ihre schiere Anzahl überwältigte ihn schließlich.
Ein Schlag traf seinen Rücken und zwei weitere die Brust. Zum Glück wurde die größte Wucht der Angriffe von Andrés Rüstung abgefangen, aber sie ließen ihn dennoch unkontrolliert über den glitschigen Weg taumeln.
Mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit wich Ahrok den nächsten Attacken aus und stieß dem einen sein Schwert durch die Kehle. Gurgelnd ging sein erstes Opfer zu Boden und verschaffte ihm für einen Augenblick etwas Luft. Dann bedrängten ihn jedoch drei weitere dieser schuppigen Biester.
Egal wie viele er zurückschlug, es waren sofort zwei, drei weitere zur Stelle, um mit der gleichen Wildheit den Platz der Erschlagenen einzunehmen. Ein Hieb mit dem Knauf ins Gesicht der vordersten Echse verschaffte ihm etwas Platz für einen Angriff. Sein Schwert glitt an der Deckung des zurücktaumelnden Weißen vorbei und riss eine spannenlange Furche zwischen Hals und Schulter.
Fürchterliches Schreien erklang links neben ihm und Ahrok erlaubte sich einen kurzen Blick. Ragnar stand mit einem Fuß auf dem Schwanz einer der Bestien und zertrümmerte der Kreatur Schlag für Schlag jeden Knochen im Leib.
Ahrok empfand in dem Moment weder Freude noch Mitleid. Es war wie ein Tanz, ein Spiel mit gefährlichen Regeln. Derjenige, der zuerst eine falsche Bewegung machte, der starb. Mit einem riskanten Vorstoß glitt er unter einem heransausenden Schwert hinweg und spießte einen der Weißen auf.
Sein Schwert steckte bis zum Heft in der Brust der Schlange, doch das zischende Ding am Ende seiner Klinge, wollte einfach nicht sterben. Es kratzte und biss um sich, bis Ahrok seine Waffe fahren ließ. Der schwer verwundete Weiße taumelte hinfort in die Dunkelheit, noch immer den schweren Zweihänder in der Brust.
„Komm zurück, du Arsch!“, fluchte er laut.
Doch ihm blieb keine Zeit, seiner Waffe hinterher zu trauern, denn der Ansturm der Weißen verlief ungebremst weiter. Er wich den nächsten Schnitten knapp aus und riss einem seiner Angreifer sein merkwürdig gefertigtes Schwert aus den Krallenhänden. Mit einem ungeschickten Angriff zog er es diesem auch gleich über das nasenlose Gesicht. Sofort ließ das Vieh von ihm ab und rannte hinfort.
Ohne das Ahrok nachvollziehen konnte, warum, wechselten die übrigen Weißen plötzlich ihre Taktik. Wie auf Kommando brachen sie ihre Angriffe ab und stürzten überhastet an ihnen beiden vorbei den Gang entlang in die Kanalisation. Sie schrien nicht, sie quiekten nicht und zischten nicht, sondern rannten einfach nur ruckartig davon in die Dunkelheit.
Nur Augenblicke später stand Ahrok mit dem wirklich beschissen ausbalancierten Schwert in der Hand allein im Lichtschein. An eine Verfolgung der Viecher war bei diesem schlechten Licht nicht zu denken. Ganz abgesehen davon, dass man sie mit diesem Rückzug womöglich ohnehin nur in eine Falle locken wollte. Vollkommen erleichtert hielt er also inne und schnappte erst einmal nach Luft, was bei dem Gestank hier unten nicht gerade einfach war.
Ihm wurde schwindlig und er ging in die Knie, um wieder zu Atem zu kommen.
Das war ja gerade noch einmal gut gegangen. Wo war er hier nur hineingeraten?
Sein rasender Herzschlag beruhigte sich langsam wieder und ein breites Grinsen legte sich auf seine Züge. Offensichtlich waren die Biester wirklich geflohen, denn er hörte keinen Mucks mehr von ihnen.
Triefend vor Schweiß und Blut warf Ahrok das unhandliche Schwert beiseite und machte sich auf die Suche nach seiner eigenen Waffe. Ragnar war weder zu sehen noch zu hören. Der Zwerg hatte wohl tatsächlich entgegen aller Vernunft die Verfolgung der Weißen in die Dunkelheit hinein aufgenommen, aber er würde dem Valr ganz sicher nicht folgen, sondern hier im Hellen warten, bis der Zwerg zurückkam.
Noch immer pochte Ahroks Herz wild vor Aufregung und Horror. Diese seltsamen Wesen waren zum Fürchten. Das war ohne Zweifel der Stoff, aus dem Albträume gemacht waren.
Mit sich selbst unzufrieden begutachtete er die vielen Kratzer und Bisswunden auf seinen Armen. Er hatte gar nicht gemerkt, wie oft ihn diese Kreaturen erwischt hatten. Das warf kein gutes Licht auf seine Fähigkeiten. Schlimmer war jedoch, dass wenn Quod sie nicht belogen hatte, selbst diese kleinen Wunden bedenklich waren. Es blieb zu befürchten, dass sich diese Kratzer jetzt entzünden würden, um ihn dann in der Blüte seiner Jugend dahinzuraffen.
Soweit würde es doch wohl aber hoffentlich nicht kommen.
Nur wenige Schritt außerhalb des Lichtkreises entdeckte Ahrok dann sein Schwert. Es steckte noch immer in dem stark blutenden Körper des Weißen, der es vorhin so frech aus dem Kampf entfernt hatte. Die Kreatur hatte sich zurück in die Nische gerettet, aus der sie kurz zuvor gekrochen war. Als Ahrok seine Waffe aus der wimmernden Schlange herausriss, stieß ein wahrer Schwall dunkelroten, zähflüssigen Blutes aus der Wunde hervor, so wie er es auch bei den Wachen des Kaufmanns beobachtet hatte. Selbst in seinen letzten Atemzügen biss und zischte das Monster noch nach ihm. Doch es war viel zu schwach, um Ahrok noch mit den Krallen zu erreichen. Mit tiefer innerer Zufriedenheit beobachtete Ahrok, wie das haarlose Biest seinen Atem aushauchte.
Schritte hinter ihm lenkten ihn von seinem Opfer ab. Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen drehte er sich der Dunkelheit zu.
„Ragnar? Ragnar bist du daahhhhhhh!!! Ahhh!!!“
Ein fürchterlicher Schmerz warf Ahrok auf die Knie. Sofort zuckten seine Hände hinunter zum Bein und umklammerten die verletzte Stelle.
Sein Schwert landete scheppernd neben dem Leichnam seines letzten Opfers.
Einer dieser Weißen stand direkt vor Ahrok. Dank der von seinen Schuppen tropfenden, stinkenden Flüssigkeit war er im Dunkel der Kanalisation fast nicht zu erkennen. Allein die Augen der Echse funkelten im Schein des glimmenden Lichtquarzes, wie Wolfsaugen in der Nacht.
Ahrok wagte nicht, den Blick zu senken, aber dem Schmerz nach zu urteilen, steckte ein hässlicher Dolch mehrere Zoll tief in seinem rechten Oberschenkel. Ein warmer Blutstrom rann ihm über das Bein hinunter in den Stiefel. Er war wie gelähmt von dem stechenden Schmerz. Interessiert betrachtete das Monster, wie Ahrok schrie und sich unter ihm wandt, wenn es die Klinge im fleisch drehte.
„Hragan nugg tarrrrg“, hauchte sein Gegenüber.
Der Atem seines Gegenübers streifte Ahroks Gesicht und es stank nach verrottetem Fleisch und Fäkalien. Frech grinste der Weiße, als er mit der Linken sein Schwert erhob, um den tödlichen Streich zu führen.
Dann knackte es leise und das Monster wurde vor ihm zu Boden gerissen. Hilflos zischend kroch der Weiße noch einige Zoll weit, bis der Kriegshammer mit lautem Knirschen sein grausiges Werk beendete.
Aus der Dunkelheit grinste ihn ein rundes Gesicht an.
„Dich kann man auch keinen Moment lang alleine lassen.“

Sichtlich besorgt musterte der Valr das gewundene Messer, welches eine gute Handbreit in Ahroks Bein steckte. Unter dem durchstochenen Leder war nicht viel von der Wunde zu erkennen, aber weder er noch Ragnar wollten mit ihren schmutzigen Fingern an dem ausgefransten Loch herumspielen.
„Die Waffen der Weißen sind oft vergiftet. Das muss raus“, hieß es dann plötzlich.
„Warte, warte du kannst doch nicht...“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, oder auch nur Ahroks Antwort abzuwarten, riss Ragnar die Waffe heraus. Erneut hallten schmerzerfüllte Schreie durch die Kanalisation. Ahrok blickte entgeistert mit tränennassen Augen auf das Blut, welches nun aus seiner Hose herauslief, wie Bier aus einem angestochenen Fass. Der Zwerg tat sein Möglichstes, um die Blutung zu stoppen, aber das sah Ahrok schon nicht mehr, denn der rasch einsetzende Schock erlöste ihn von seinen Schmerzen und er fiel in sich zusammen.
Kurz darauf wurde er jedoch von einigen schallenden Ohrfeigen wieder zurück ins Leben gerufen.
„Aufwachen, Menschling. Das ist ja kaum ein Kratzer. Wir müssen zurück und die Anderen warnen.“
Ahroks lang anhaltende Schmerzensschreie gellte durch die Tunnel und war bestimmt auch noch auf den Straßen über ihnen zu hören. Erst als seine Kehle heiser wurde, versiegten seine Rufe und gingen in ein leises Wimmern über.
Alles unterhalb seiner Hüfte tat so schrecklich weh! Dicke Schweißtropfen drangen ihm auf die Stirn und er stöhnte leise Flüche vor sich hin. Wie kam der völlig verblödete Valr auf die Idee, dass er die nächsten paar Stunden sich überhaupt erheben, geschweige denn einige Meilen durch die Finsternis zurück zur Kanalwacht laufen würden? Er war verletzt. Schwer verletzt, verdammt noch mal.
„Wir können hier nicht bleiben“, wiederholte Ragnar noch einmal.
Vielleicht hatte der Zwerg mit seinem Genörgel ja Recht, aber war es nicht vielleicht möglich, dass man einen kleinen Rettungstrupp hier hinunterschickte, welcher ihn dann auf eine Bahre hinaustrug? Ahrok fehlte jedoch die Kraft, um diesen durchaus berechtigten Vorschlag mit dem Zwerg zu diskutieren.
Wenn er es sich recht überlegte, dann machten sich die anderen bestimmt nicht sonderlich viele Sorgen um sie beide. Keiner von denen hatte auch nur einen Finger gerührt, um ihnen bei ihrer gerechten Sache zu helfen. Nein, sie waren einfach auf ihrem dämlichen Weg weitermarschiert, nachdem Ragnar und er der wirklichen Gefahr entgegengelaufen waren. Jetzt saßen sie hier fest und konnten jederzeit wieder von einem weiteren Trupp dieser Schuppenmonster überfallen werden. Rettung war also nicht in Sicht, solange Ragnar ihn nicht verließ, um Hilfe anzufordern.
Es nützte alles nichts.
Ahrok zog sich stöhnend am Valr in eine aufrechte Position. Es tat so weh. Es tat alles so verdammt weh!
Der Zwerg breitete die mitgeführte Karte an der Wand aus und beleuchtete diese mit seinem Lichtquarz. Sein zögerliches „Also... wo sind wir denn hier...?“ wirkte jedoch nicht sehr vertrauenerweckend.

„Wie bitte?! Ihr habt die beiden Neuen verloren? Wie um alles in der Welt ist das denn passiert?“, hörten sie eine Stimme von oben.
Sie hatten es also tatsächlich zurück geschafft. Das freudige Gefühl eines hart erarbeiteten Erfolges jagte ihm einen kleinen Schauer über den Rücken.
„Ja, Sarge. Tut mir leid, aber da konnte ich nichts für. Die beiden haben plötzlich einen auf ´Retter von Märkteburg´ gemacht und sind abgehauen. Wahrscheinlich ein Kanalkoller. Ich musste doch an den Rest der Truppe denken.“
Mit letzter Kraft zog sich Ahrok die Leiter nach oben den Stimmen entgegen. Er hatte heute so viel von sich da unten gelassen, doch nun war die Rettung nur noch eine Armlänge entfernt.
„Ja, natürlich, Quod. Die Truppe geht vor, aber... zwei Männer, die einzigen Freiwilligen... Was war da unten eigentlich los?“
„Nun ja, Sarge, das war so...“
„Weiße waren da unten los“, stöhnte Ahrok wütend, als er aus dem Loch herauskletterte.
Wenn ihre drei feigen Begleiter sie nicht einfach so im Stich gelassen hätten, dann würde sein armes Bein jetzt nicht so verdammt wehtun. Durch die anhaltende Belastung brannte es wie Feuer und er war so unendlich matt vom Blutverlust. Die Kälte, die zusammen mit der Müdigkeit nach ihm griff, wollte selbst im hellen Sonnenlicht nicht weichen.
Mehrere Augenpaare richteten sich sofort verblüfft auf die zwei Krieger, die sich nun auch wieder in der Kaserne eingefunden hatten.
„Ich denke, ihr habt die zwei verloren? Und was zum Teufel hör ich hier für Märchengeschichten von Weißen?“ Der Sergeant wechselte nun ebenfalls in einen wütenden Tonfall. „Würde mir nun endlich einer erklären, was da unten vor sich ging?“

Der Sergeant der Kanalwache schüttelte nur ungläubig den Kopf.
„Dämonische Schlangenmonster? Hier bei uns? Unmöglich!“
„Nennst du mich etwa einen Lügner, Menschling?“
In Ragnars Worten lauerte die schiere Wut über die anmaßenden Worte des Kanalwächters.
„Nein, natürlich nicht!“ Der Mann wischte sich einen frischen Schweißtropfen von der Stirn. In Gegenwart des aufgebrachten Valrs vergaß er glatt, dass er in der Befehlskette weit über dem Zwerg stand. „Es ist nur… Die Zeit des Feuers ist lang vorbei und die Existenz dieser Weißen ist seit Jahrtausenden... Ich werde es sofort dem Hauptmann melden. Ich kann in solchen Fällen keine Entscheidungen treffen. Er wird schon wissen, wie wir mit dieser Bedrohung umzugehen haben. So, und nun bringt den Jungen schnell auf die Krankenstation.“
Er winkte zwei Soldaten herbei die Ahrok behutsam zum Sanitätsbereich brachten.
„Also ihr macht Sachen.“ André schüttelte den Kopf und in seiner Stimme schwang ein Hauch von Ehrfurcht mit.„Wie waren die Viecher denn so? Muss ja richtig was los gewesen sein. Tut´s weh?“
Ahrok antwortete ihm nicht.
´Tut´s weh?´
Am liebsten hätte er André für diese Frage geohrfeigt. Natürlich tat es weh! Es tat sogar verdammt weh. Sein ganzes Bein brannte, stach und brachte ihn um den Verstand. Der Verband, welchen der Zwerg wieder einmal aus seinem verdreckten Hemd gefertigt hatte, troff vor Blut und er hätte er noch etwas Kraft in seiner rauen Kehle, so würde er immer noch laut und anhaltend schreien vor Schmerzen.
Aber er würde sich in diesem Moment keinesfalls eine Blöße vor diesem Jungen geben. Es reichte schon hin, dass dieser ihn vor zwei Tagen bei der Kanaltaufe so schändlich besiegt hatte. Also nickte Ahrok einfach nur wortlos.
Kaum hatten sie die Baracke erreicht, schlug eine neue, herbe Enttäuschung Ahrok mit voller Wucht ins Gesicht. Das war alles?
Die Krankenstation glich ihren Schlafquartieren wie ein Ei dem anderen.
„Tja, hier ist nicht mehr viel los. Seit der Kürzung mussten wir die Sanis auch alle entlassen“, erklärte André, dem Ahroks enttäuschter Blick nicht entgangen war. „Aber vielleicht ist noch etwas hier im Wandschrank.“
Der kleine, windschiefe Kasten an der Wand war nicht verschlossen. Seinem Aussehen nach und der Staubschicht darauf zu urteilen, hatte ihn schon seit Monaten niemand mehr geöffnet. Doch zu Ahroks Überraschung enthielt er tatsächlich noch allerlei verkorkte Fläschchen und verschraubte Becher mit wahrscheinlich längst überlagertem Inhalt.
Ahrok dachte an den leckeren Heiltrank aus dem Kerker. Eine winzige Hoffnung keimte auf, dass es hier vielleicht auch so etwas gab.
Nach einer kurzen Suche förderte André neben Nadel und Faden eine Salbe zutage.
„Ich glaube, die hier hat der Sani immer auf frische Wunden getan. Versuchs mal und ruh dich aus. Ich… na ja, ich hab es nicht so mit Blut und ähm... ich mach dann mal Meldung.“
Die Wächter legten Ahrok vorsichtig auf eines der freien Betten, drückten ihm Nadel und Salbe in die Hand und ließen ihn wieder allein.
Wo war er hier bloß hineingeraten? Er hatte ja schon beinahe befürchtet, dass eine junge, hübsche Heilerin in einem unanständig kurzen Kleid zu viel erhofft war, aber das es nicht einmal jemanden gab, der auch nur ansatzweise ein Heilkundiger war, stimmte Ahrok mehr als nur ein bisschen verärgert. Es gab nicht einmal jemanden, der die Wunde zunähen konnte.
Ahrok schrie heiser auf, um seinem Ärger Luft zu machen. Doch nicht einmal darauf reagierten die anderen Wächter. Ein Trost war, dass er nun endlich liegen konnte und sein armes, geschundenes Bein nicht noch weiter strapazieren musste.
Ragnar hatte vorhin erwähnt, dass der Dolch möglicherweise vergiftet gewesen sein könnte. Ganz nebenbei, so wie es seine Art war. Wenn der Zwerg eines konnte, dann eine ungemütliche Situation noch gleich viel schlechter reden.
Mit einem kräftigen Ruck öffnete Ahrok den Deckel und schnupperte an der Salbe. Ein beißender Geruch, der so gar nichts mit einem Heiltrank gemein hatte, stieg ihm in die Nase. Roch so vielleicht ein Gegengift?
So plötzlich, dass es den in seine Arbeit vertieften Ahrok erschreckte, wurden draußen Stimmen laut. Selbst durch die geschlossene Tür konnte er hören, wie Ragnar mit den anderen der Mannschaft stritt und sie wütend beschimpfte.
„Was soll der Scheiß? Nehmt ihr beschissenen Schwachköpfe mich etwa nicht ernst? Stellt euch den schrecklichsten Krieg, die schlimmste Plage vor, die ihr euch ausmalen könnt und jetzt verzehnfacht ihre Ausmaße. Dann habt ihr eine beschissene Vorstellung davon, was die Weißen hier bei uns anrichten werden. Wir müssen sofort eine Armee da runter schicken!“
Ahrok hörte nicht weiter hin. Jetzt hieß es, Zähne zusammenbeißen.
Behutsam öffnete Ahrok den Knoten des Verbandes und schob langsam die Hose hinunter, um die Wunde freizulegen. Das alte Leder klebte an seiner Haut und wollte seinen unruhig zitternden Fingern so gar nicht gehorchen. Jedes Mal, wenn es über sein Fleisch strich, zog sich ein ungemütlicher Schauer durch seinen ganzen Körper.
Nachdem er sich dann endlich von der Hose befreit hatte, widmete sich Ahrok der Stichwunde. Noch immer quoll frisches Blut aus seinem Fleisch heraus und nahm ihm dadurch die Sicht auf die Verletzung. Mit dem Wasser aus der Waschschüssel spülte er die Ränder der Wunde frei und krallte sich sofort mit aller Kraft an sein Bettgestell. Die Schmerzen wurden sofort wieder unerträglich. Er biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien und Tränen schossen ihm in die Augen.
Erst einige lange Atemzüge später ließ der stechende Schmerz nach und Ahrok entspannte sich wieder etwas. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und das Wasser aus den Augen.
Mit zittrigen Fingern führte er den Faden in das Nadelöhr.
Das was jetzt kam, würde hässlich werden.
Jetzt musste die Wunde genäht werden und wenn er bedachte, dass er sich schon beim Flicken seiner Socken nie sonderlich geschickt angestellt hatte, dann bekam er eine Ahnung davon, was nun gleich passieren würde.
„Alles halb so wild. Du schaffst das“, wiederholte er immer wieder, während er umständlich versuchte, einige Hautfetzen mit der Linken zu ergreifen und sie zusammenzudrücken. Immer wieder rutschte sein Griff auf dem frischen Blut ab und die Finger glitten in die Wunde. Immer wieder rasten diese Schmerzen durch Ahrok hindurch.
Nach dem dritten missglückten Versuch schleuderte er Nadel und Faden wütend von sich.
Nur Augenblicke später bereute er diese Tat.
Wie sollte er jetzt wieder an die Nadel herankommen? Das Biest lag mehrere Schritt weit weg auf dem schmutzigen Boden. Nein, Aufstehen war in seinem Zustand keine Alternative, also blieb nur noch die Salbe.
Ahrok schloss die Augen, das würde jetzt erneut wehtun. Erstaunlicherweise nahm ihm das Wissen über den kommenden Schmerz einen Teil der Angst. Er griff in den Topf und schmierte die Salbe großzügig auf und um seine blutende Wunde herum. Völlig entgegen seiner Erwartungen verspürte er sofort eine beruhigende Wirkung. Der beißende Schmerz wich langsam aber stetig einer leichten Taubheit und eine wohlige Wärme breitete sich von den Stellen aus, die die Salbe bedeckte. Offenbar war dieses Zeug wirklich zu etwas Nutze. Die Blutung wurde dadurch natürlich nicht gestoppt. Etwas unbeholfen zog er sein Bettlaken unter sich hervor, zerriss es in mehrere lange Streifen und wickelte es als behelfsmäßigen Verband um den mittlerweile völlig gefühllosen Teil des Oberschenkels herum.
Er zog den Knoten schön fest zu und legte sich zurück auf das Bett. Es war vollbracht. Er lächelte glücklich. Ihm war plötzlich so warm und alles um ihn herum leuchtete in schönen, wohligen Farben.
Die nächsten Stunden verbrachte Ahrok damit, die kahle Decke anzustarren, Farbmuster zu erhaschen und die vielen Risse und Bruchstellen zu zählen. Doch dann, als der Schmerz abgeklungen und die lustigen Muster verschwunden waren, kehrte eine trostlose Langeweile zu ihm zurück. Als sich danach auch noch die Farben auflösten und dem eintönigen Grau der Decke wichen, wich auch das ewige Grinsen aus seinem Gesicht. Er fühlte sich von einem Moment zum Nächsten ganz allein auf der Welt.
„Hey, Ahrok, wie geht´s dir?“, erklang es von der Tür.
Dort stand der Valr und mühte sich ein aufmunterndes Lächeln ab.
Ahrok nickte nur müde.
„Bestens. Es ging mir nie besser.“
„Wenn du es nicht eilig mit dem Sterben hast, dann hör lieber auf mir ständig und überall hinterherzulaufen.“
Ahrok schürzte die Lippen. Ohne weiter nachzudenken richtete er sich auf und setzte die Beine neben dem Bett ab.
„Du kannst mich ja wohl nicht davon abhalten, dir nachzulaufen, also hilfst du mir jetzt oder was? Ich will hier nicht alleine rumliegen.“
Kaum dass seine Füße den Boden berührten und er zu stehen versuchte, gaben die Muskeln nach und er brach zusammen. Das rechte Bein war zwar noch immer völlig taub, doch der Schmerz war gerade wieder zurückgekehrt.
Der Zwerg zu seiner Rechten reichte ihm schlicht die Hand.
Wortlos und mit tränennassen Augen zog sich Ahrok wieder an Ragnars Arm nach oben.
„Die Salbe. Gib mir die Salbe.“
„Was meinst du?“
„Die scheiß Salbe da auf dem Bett!!! Hörst du nicht?! Gib sie mir! Jetzt!“
Ragnar griff nach der Schale und reichte sie ihm, dann schob sich der Zwerg unter Ahroks Hüfte.
Ahrok stützte sich wieder auf Ragnars Schulter. Der Schmerz verschwand langsam wieder und er ließ den angespannt angehaltenen Atem frei.
Vorsichtig humpelte er auf den Zwerg gestützt zur Baracke herüber.
Die anderen Kanalwächter lagen schon im Halbschlaf. Einige betrachteten die zwei Krieger kurz desinteressiert und drehten sich dann wieder in ihren Betten um. Die Nacht war für die Meisten viel zu kurz, als dass sie jetzt noch Interesse an einem Verwundeten heucheln konnten. Ragnar legte Ahrok auf dessen Pritsche und begab sich dann zurück in seine eigene Lagerstatt.
Es war ruhig und dunkel und roch nach hart arbeitenden Männern, die ihre Tage in der Gülle anderer Menschen verbrachten, aber dennoch war dieser Raum allemal besser, als ein einsames Krankenbett. Ahrok löste die Knoten seines Verbandes und schmierte erneut etwas von der Salbe auf seine Haut.
Gleich darauf waren die hübschen Farben wieder da und das Schnarchen mehrerer Personen erfüllte den Raum und hielt ihn davon ab, seine eigene, verdiente Ruhe zu finden. Heute lernte er eine wichtige Regel im Zusammenleben mit anderen Männern - „Schlaf immer als Erster ein“
Während er über diese Regel nachdachte, lag er noch lange mit geöffneten Augen da. Selbst als er endlich eine Position gefunden hatte, in welcher er sein Bein schmerzfrei lagern konnte, ließen ihn die lauten Geräusche um ihn herum nicht einschlafen.
Seltsame Gedanken krochen aus allen Ecken und fielen über ihn her.
Noch vor ein paar Monaten hätte er es kaum gewagt, sich mit jemandem zu prügeln und nun schlug er sich mit Monstern herum, die er sich nicht einmal in seinen wildesten Tagträumen erdacht hätte.
Was wäre gewesen, wenn er Mia damals nicht getroffen hätte? Wäre er der ewige Zweitgeborene geblieben? Fernab von der großen Stadt mit ihren großen Problemen? Wie anders war doch die Welt gewesen, als er noch in der kleinen Hütte mitten im Nirgendwo gelebt hatte…
Zum ersten Mal quollen Erinnerungen an seinen Vater in ihm herauf. Er hatte seit Wochen keinen Gedanken an ihn verschwendet, nicht einmal als Sebastian ihm von dessen tödlicher Verwundung berichtet hatte. Der alte Photon, wie Mia ihn immer genannt hatte… Ahrok hatte ihn nie wirklich gekannt. Sie beide hatten nie ein gutes Verhältnis zu einander gehabt. Vielleicht hatte es ja auch daran gelegen, dass Ahroks Mutter ihn damals verlassen hatte. Ein von sich selbst so überzeugter Mann wie sein Vater konnte das sicherlich nur schwer verwinden, darum hatte er auch die Geschichte von ihrem Tod erfunden.
Seine Mutter… an sie konnte sich Ahrok auch nicht mehr erinnern. Er wusste nur das Bisschen, was ihm sein Vater und Mia erzählt hatten. Und nur Weniges widersprach sich nicht in den Ausführungen der Beiden.
Langes, blondes Haar hatte sie gehabt, darin waren sich beide einig. Jugendlich und wunderschön… er hätte sie gern einmal gesehen. Wo war sie nur? Warum hatte sie ihn im Stich gelassen? Alleine bei seinem Vater, der nur Sympathie für den Erstgeborenen gehabt hatte.
Nun war er ganz allein. Ganz allein in einer verrückten Welt voller seltsamer Leute und Monster. Während Ahrok seinen Gedanken nachhing schlich sich langsam der Schlaf hinein und überrumpelte ihn in aller Stille.
 
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Kommentare  

Toll, hat mir sehr gut gefallen.

Mal sehen wie es weitergeht...

Gruß


Alexander Bone1979 (24.09.2010)

was für ein gesöff! es bringt ahrok fast um und erinnert den zwerg an hammerfels.
kaputtgelacht hab' ich mich über den liedvers:
wo gibt’s kein aua, gibt’s kein weh?
bei den jungs von der kanalwaché...
die schlacht mit den weißen war furchtbar, und dass ahrok versuchte, seine wunde selber nähen...
ein toller teil!


Ingrid Alias I (23.08.2010)

Das ist ja ein deftiges Trünkchen, denn das halten ja noch nicht einmal gestandene Kanalwächter aus. Aber auch Ragnar weist diese Männer auf seine Weise in uralte zwergische Rituale ein. Gefällt mir, wie du am Ende Ahroks Gedanken an seine Familie bringst, denn so ohne Weitereres würde er seine Vergangenheit wohl nicht vergessen.

Jochen (23.08.2010)

Der arme Ahrok. Früh aufstehen liegt ihm doch gar nicht. Aber das ist nicht das Schlimmste. Unten in der Kanalisation lauern dämonische Wesen. Zwar hat ihn Mia gut vorbereitet, aber Quods Selbstgebrannter hat ihn geschwächt. Günstig für die grässlichen "Weißen“- Bäh! War wieder schön spannend.

Petra (22.08.2010)

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