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Die Belfast Mission - Kapitel 32

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 32 – Das Kreuzverhör

An diesen späten Nachmittag herrschte eine bedrückte Stille am Küchentisch. Niemand sagte ein Wort oder lachte. Nur das Ticken der Standuhr aus der Wohnstube war zu hören.
Anne stand hinter ihrem Sohn, der als einziges Familienmitglied seelenruhig seine Kartoffelsuppe mit Brot zu sich nahm, und hielt an seinen Schultern fest. Für sie war Justin ein wahrer Held. Immerhin hatte er zur rechten Zeit Laika befreit, als er den Schäferhund auf dem Nachhauseweg von der Schule an einem Baum angekettet vorfand. Ohne Laikas bissige Courage wäre die Angelegenheit bestimmt nicht so glimpflich ausgegangen; zudem war der Bauer McEnrey erschienen und hatte die Gallagher-Bande mit einer Mistgabel letztendlich verjagt.
Charles hatte sich den ganzen Tag nicht mehr blicken lassen und die Familie rechnete jetzt auch nicht mehr mit ihm, dass er noch vor dem Abendessen erscheinen würde.
Eloise saß kerzengerade am Tisch und sagte kein Wort. Sie verspürte zwar eine trockene Kehle und schluckte stetig, trotzdem wagte sie nicht aufzustehen, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Bloß nicht auffallen, bloß keine Aufmerksamkeit erwecken. Am liebsten wäre sie im Boden versunken und sie wünschte sich sehnlichst ein grollendes Unwetter herbei, damit Ike wieder stundenlang am Fenster verweilen und besorgt nach Tornados ausschauen würde. Somit wäre er beschäftigt und würde sie vorerst nicht mit der unangenehmen Frage konfrontieren, die ihr noch bevorstand: Sag mal Liebes, wie war es möglich, dass du so schnell meine Schusswaffe gefunden hast?

Ihre Notlage hatte sie nun verraten und Ike war es nun klar geworden, dass sie offensichtlich schon länger über diese Geheimfächer im Badezimmer Bescheid wusste, sie es ihm aber die ganze Zeit verschwiegen hatte. Wie sonst hätte sie im entscheidenden Moment so schnell an die EM23 zugreifen können? Zugleich stimmte sie es aber auch traurig, weil er ihr anscheinend wenig Vertrauen schenkte. Manchmal war er verschwiegen und wirkte bedrückt und wenn sie ihn darauf ansprach, vertuschte Ike seinen Kummer, indem er rasch das Thema wechselte oder zu spaßen begann. Aber sobald sie hartnäckig blieb und ihn weiterhin vorwarf, dass er ihr etwas verheimlicht, dann endete es im Streit.
Eloise dagegen hatte ihm bisher immer alles anvertraut, vor allem wenn ihr das Heimweh nach ihrer Familie plagte. Aber sie versuchte seine Geheimniskrämerei zu verstehen und schwieg über ihre Entdeckung. Ike musste seinen Grund haben, diese merkwürdigen Gegenstände vor ihr zu verbergen, deshalb wagte sie es nicht, ihn mit neugierigen Fragen zu belästigen. Manchmal ist er eben nun mal so komisch, verteidigte sie ihn gedanklich, wenn es innerlich wieder in ihr rumorte und sie zweifelte, ob er sie überhaupt lieben würde.
Nachdem Eloise eines Tages diesmal sogar die obersten Fliesen des Badezimmers poliert und somit das erste Geheimfach entdeckt hatte, tastete sie schließlich alle Kacheln ab. Die Medikamente, Konstruktionspläne, Auftragsberichte in der europäischen Schrift verfasst, die EM23 Schnellfeuerwaffe, ausgestattet mit einem Schalldämpfer, und unzählige private Fotos lagen darin verborgen. Besonders hatten sie die farbigen Computerbilder der fertigen Titanic fasziniert.
Selbstverständlich hatte sie noch nie zuvor farbige Fotografien gesehen. Sie hatte alle Bilder auf dem Boden ausgebreitet, darunter waren sogar originale Satellitenfotos, welche Europa im 25. Jahrhundert zeigten – scharf geschossene Fotos, fotografiert aus der Umlaufbahn der Erde. Deutlich waren über Europa verstreut die gigantischen Kuppelstädte darauf zu erkennen, insbesondere stach die silbern schimmernde City Centrum in der Niederlande hervor.

Nach der Karte zu urteilen, lag der gesamte europäische Kontinent brach und erinnerte an eine steinige Wüstenprärie, wo niemals zuvor je eine Lebensform existiert hatte. Weder konnte sie sich erklären, wie solche Bilder entstanden sind, noch was dies zu bedeuten hatte. Aber ihr hauptsächliches Interesse widmete sie den Fotografien, worauf Ike bekleidet mit einem Muskelshirt und kurzer Sporthose zusammen mit einer wunderschönen Frau abgebildet war. Im Hintergrund waren die künstlich erschaffenen Dünen und etwas vom Meer zu sehen, wobei aber zwischen dem originalen Sandstrand von Sylt und dem Panorama dieser Fotografien kaum einen Unterschied festzustellen war.
Ike hielt diese Frau auf seinen Armen, beide lachten fröhlich in die Kamera und auf einem anderen Foto trug er sie sogar auf seinen Schultern. Diese Fotos entstanden während eines Urlaubes in Nieuw Bruxelles. In der 12. Etage war die Nordsee sowie der Dünenstrand künstlich und naturgetreu erschaffen worden.
Als Eloise diese Fotografien in ihren Händen hielt, quälte sie augenblicklich die Eifersucht. Wer mochte diese Frau mit den wundervollen, dunklen langen Haaren sein, fragte sie sich. Vielleicht seine ältere Schwester, denn ihre Ähnlichkeiten waren einfach nicht zu übersehen. Diese Erkenntnis beruhigte sie wieder etwas, obwohl von der geheimnisvollen Frau verschiedene Porträts vorhanden waren, worauf sie überall fröhlich gestimmt zu sehen war. Nur auf einem einzigen Foto, dieses er scheinbar heimlich fotografiert hatte, blickte sie nachdenklich auf das offene Meer hinaus, als würden sie irgendwelche Sorgen bedrücken.
Trotzdem, Ike vergnügte sich auf diesen Fotografien mit einer wunderschönen Frau, und sogleich stichelte wieder die Eifersucht, denn diese Ähnlichkeit konnte ja auch nur ein Zufall sein oder vielleicht würde sie es sich nur einbilden, dachte Eloise sogleich verärgert.
Nie zuvor hatte Eloise Bilder in solch einer makellosen Qualität gesehen, obendrein waren sie farbig, die allesamt auf sie wirkten, als wären sie wie aus der Realität entsprungen. Ihr lagen tausend Fragen auf der Zunge, aber nur eine davon lag ihr zutiefst am Herzen. Wer ist diese Frau und falls sie tatsächlich seine Schwester ist, weshalb hatte er sie noch nie erwähnt? Nun war Ike gezwungen, ihr diese Geheimnisse zu erklären, was sicherlich niemals seine Absicht war. Aber aufgrund, weil sie sich mit seiner versteckten Pistole verteidigt hatte, mussten nun einige Karten auf den Tisch gelegt werden. So oder so. Eloise genauso wie Ike, und dafür fühlte sie sich nun schuldig, weil Ike dies offensichtlich niemals beabsichtigt hatte.

Ike saß am Tisch und rieb sich nachdenklich die Stirn. Einerseits wollte er den Überfall nicht ignorieren, immerhin wären Eloise und Paddy beinahe getötet worden, aber sobald er eine Strafanzeige erstatten würde, müsste er der hiesigen Polizei zwangsläufig die EM23 präsentieren. Das durfte keinesfalls geschehen. Paddy und Eloise erklärte er sachlich, dass diese Pistole ein Prototyp sei – produziert von Harland & Wolff – und unbedingt vor allen Leuten geheim gehalten werden müsste, damit die Waffenindustrie davon nichts erfährt. Selbst die Polizei dürfte diese Schusswaffe keinesfalls zu Gesicht bekommen, erklärte er ihnen ausdrücklich.
Nachdem Eloise mit seelischer Unterstützung von Anne und Mr. McEnrey ihm die überschlagenden Ereignisse gebeichtet hatte – die hartnäckigen Blutspuren hatten die Frauen in Windeseile wieder beseitigt –, blieb Ike gegen ihre Erwartung äußerst besonnen, kümmerte sich fürsorglich um Eloise und überlegte krampfhaft, wie er diese Situation vor der Polizei erklären sollte. Peter Gallagher wurde von einer Schusswaffe angeschossen, die eigentlich noch gar nicht existierte. Die Projektile waren aus einem Material gefertigt, die nach dem Einschuss auf jede Materie chemisch reagierten und sich sofort auflösten, damit die Akteure niemals erfahren würden, welche Waffe benutzt wurde, dass es keine Schusswaffe gewesen war. Peter Gallaghers behandelnder Doktor wird demnach vor einem Rätsel stehen und wohlmöglich die Polizei darüber informieren, weil der Doc keine Kugel finden wird. Ike rechnete also mit unangenehmen Besuch.

„Es-es tut mir leid … Ehrlich“, stammelte Paddy, der etwas Abseits stand und sein geschwollenes Auge mit einem kalten Lappen kühlte. Ike nickte. Er zweifelte zwar nicht an seinem aufrichtigen Bedauern, aber eine Zurechtweisung würde sicherlich nicht schaden, dachte er. Aber auch er hatte die EM23 in Aktion gesehen und Jugendliche prahlen gerne mit außergewöhnlichen Ereignissen. Wie könnte er ihn wohl zum Schweigen bringen? Wie brachte man einen gottesfürchtenden katholischen Bengel dazu, dass er ein Versprechen sein Lebelang hält? Ihn einen Schwur auf die Bibel abhalten zu lassen, empfand er etwas zu überzogen und grenzte seiner Meinung nach an Erpressung. Eine Erleuchtung hingegen könnte ein kleines Wunder bewirken.
„Dich trifft nur eine bedingte Schuld, Paddy. Du bist noch sehr jung und beeinflussbar. Peter hatte dich für seine Zwecke benutzt. Die ganze Zeit über. Er hatte dich gegen deine Schwester und vor allem gegen mich aufgehetzt, dir und sogar deinen Eltern eine Freundschaft nur vorgeheuchelt. Im Grunde bist du ihm völlig egal. Dir fehlt eben noch die nötige Lebenserfahrung, um solche Schweinehunde zu durchschauen.“
Paddy kniff die Lippen und nickte, senkte reumütig seinen Kopf und knetete nervös seine Schirmmütze.
„Ja, Sir. So war es. Das sehe ich jetzt auch so, Ike“, gab er kleinlaut zu.
„Trotzdem werfe ich dir Verrat vor. Verrat an deiner eigenen Schwester! Beinahe wäre sie sogar getötet worden und du, du ebenfalls. Du hast dich genauso wie Judas Ischariot blenden lassen, der Christus verraten hatte, weil er nicht wirklich an ihn geglaubt hatte. Schäm dich also!“
Paddy legte den Lappen beiseite und blickte ihn entsetzt an.
„Das-das habe ich nicht gewollt! Ich bin nicht wie Judas! Ganz bestimmt nicht! Ike, ich schwöre bei der Heiligen Jungfrau Maria, dass ich …“
„Judas hatte es bestimmt auch nicht gewollt, Christus zu verraten, aber seine Erkenntnis kam für ihn damals leider zu spät.“ Ike atmete einmal seufzend auf, bevor er fortfuhr. „Aber du hast im letzten Augenblick die Wahrheit erkannt und vorbildlich gehandelt. Das rechne ich dir hoch an.“
Paddy starrte zu Boden. Dass er ihn mit Judas Ischkariot verglichen hatte, nahm sich der Bursche sehr zu Herzen und hatte ihn letztendlich wachgerüttelt.
„Füge also deiner eigenen Familie nie wieder Leid zu! Wir müssen doch zusammenhalten, egal was passiert, insbesondere jetzt. Und wenn es sein muss“, sprach Ike behutsam auf ihn ein und schaute ihn dabei ernst an, „dann musst du sogar lügen, um deine Familie zu schützen!“

Ike schmunzelte, als er Paddys Auge genauer betrachtete, das bereits bläulich angeschwollen war.
„Noch vor wenigen Wochen sah ich genauso aus wie du. Wie ein einäugiger Waschbär.“
Paddy richtete seine Schirmmütze und blickte ihn mit einem offenen Auge stolz an.
„Ike, ich habe drei Schmeißfliegen gleichzeitig mit der Bratpfanne erledigt, das hättest du sehen sollen! Und dieser Mistkerl, den ich richtig fertig gemacht habe, ist sogar schon 21 Jahre alt. Und der sieht jetzt nicht nur wie ein Waschbär aus, sondern liegt jetzt zudem wie ein gerissenes Schaf im Bett und kann sich kaum bewegen“, kicherte er.
Ike schmunzelte und streckte ihm anerkennend seinen Daumen entgegen.
„Gut gemacht, Paddy! Langsam wirst du ein Mann, denn du hast Mut bewiesen und dich mit einem Älteren angelegt, der dir sogar körperlich überlegen war. Du hattest deine Angst bezwungen, weil du deine Schwester beschützen wolltest und bist somit über dich hinaus gewachsen.“

Plötzlich entdeckte Anne, als sie zwischen die Gardinen hinaus auf den Hof schaute, dass vier uniformierte Reiter mit ihren Rössern herbeigetrabt kamen.
„Ich glaube, da kommen Polizisten!“, sagte sie entsetzt.
Ike hatte Paddy verziehen und ihn einen Mann genannt, das machte ihn zwar sehr stolz aber noch lange nicht wirklich mutig. Paddy geriet sofort in Panik und war geradewegs dabei, in das Badezimmer zu türmen. Das kleine Fenster wäre der einzige Fluchtweg, der ihm jetzt noch blieb. Ike reagierte blitzschnell, sprang sofort auf und hielt Paddy zurück. Er packte ihn an der Schulter und rüttelte ihn.
„Bleib ruhig, mein Junge! Du hast nichts zu befürchten! Es war zu erwarten, dass die Sheriffs hier auftauchen. Das hatte ich doch prophezeit.“
„Ike, ich will nicht ins Gefängnis!“, flehte er.
„Hör zu, was habe ich eben gesagt? Wir sind eine Familie und wir halten immer zusammen. Immer! Wir verraten uns nicht gegenseitig. Niemals! Eher lügen wir!“, betonte er. „Und wir müssen jetzt lügen! Die Waffe, mit der Eloise geschossen hat, darf keinesfalls in ihren Besitz geraten, ansonsten wird man mir meinen Posten bei Harland & Wolff auf der Stelle kündigen. Sorgt euch nicht, überlasst das Reden nur mir. Ich regle das schon. Hast du mich verstanden?“, fragte er behutsam.
Paddy gab daraufhin sein Ehrenwort und schwor sogar bei Gott, dass er niemals diese futuristische Schusswaffe erwähnen würde.
Ike atmete erleichtert auf. Auf diesen Eid, gesprochen von einem gottesfürchtigen Jungen, konnte er sich verlassen. Soweit hatte er seine Mitmenschen in diesem Jahrhundert kennen gelernt. Ike blickte ernst über den Küchentisch. Der Einzige, der gelassen wirkte, war Justin. Er schaufelte unbekümmert seine Kartoffelsuppe in sich hinein, als ginge ihn das alles gar nichts an, während alle anderen vor Angst schlotterten.
„Also, jetzt kommt es darauf an. Wir gehen vor, wie besprochen. Ich übernehme das Reden, dann sind wir die lästigen Sheriffs auch ganz schnell wieder los!“
Ike schaute leicht besorgt auf Eloise. Obwohl sie ebenfalls beteuerte, dass sie den Polizisten nichts über diese Wunderwaffe berichten würde, war er etwas skeptisch. Sie war zwar sehr talentiert, hatte ein gewisses schauspielerisches Potenzial und konnte Dinge rasch erlernen, und an ihrer Auffassungsgabe zweifelte er ebenfalls nicht. In nur wenigen Wochen beherrschte sie die Schreibmaschine perfekt und versendete daraufhin massenweise Briefe zu ihrer Brieffreundin nach Dublin. Sie sprach sogar mittlerweile etwas holländisch, weil sie Ike darum gebeten hatte ihr es beizubringen, und redegewandt war sie allemal. Aber eines konnte sie nicht: Lügen.
Schließlich lautet das achte Gebot Gottes: Du sollst kein falsches Zeugnis von dir geben wider deinen Nächsten!
„Liebes“, ermahnte Ike mit erhobenem Zeigefinger, „auch du erwähnst diese Pistole nicht. Wenn es sein muss, dann musst auch du lügen!“ Eloise nickte hektisch. Ike räusperte sich. „Du kannst ja am Sonntag nach der Kirchenmesse beim Pfarrer beichten, dann wird dir Gott diese Sünde vergeben. Du schaffst das schon“, redete Ike behutsam auf sie ein. „Hörst du? Du schaffst das!“
Wieder nickte Eloise hektisch.

Es klopfte kräftig an der Tür. Eloise zuckte sogleich zusammen, fasste nach Ikes Hand und blickte ihn hilflos an. Ihr Herz raste, nun war es soweit. Er erkannte, dass sie innerlich einen Konflikt führte. Sie hatte unglaubliche Angst davor, zu einer Lüge bedrängt zu werden, zugleich wollte sie aber Ike, den sie abgöttisch liebte, keinesfalls verraten. Im Stillen betete sie, dass man sie einfach nicht beachten und in Ruhe lassen sollte.
Wieder pochte es dreimal an der Tür. Ike öffnete. Vor ihm stand ein charismatischer Herr in dunkelblauer Uniform, darauf zahlreiche Orden angesteckt waren. Sein faltiges Gesicht und ergrauter buschiger Schnauzbart verriet ein Alter von mindestens fünfundsechzig Jahren. Der Polizist lächelte verschmitzt, wobei seine dunklen Augen ihn wachsam anblickten. Hinter ihm hockten seine wesentlich jüngeren Kameraden auf ihren Pferden, und blickten mit ernster Miene auf ihn herab.
Der Polizeibeamte griff zur Begrüßung an seinem Käppi und räusperte sich.
„Einen wunderschönen guten Abend, Sir. Ich bin Police Inspector Gardner aus Belfast. Ich würde gerne mit Mister van Broek sprechen.“
„Da haben Sie aber Glück, Police Inspector, denn der steht grade vor Ihnen. Ich habe Sie schon erwartet“, entgegnete Ike ihm freundlich.
Ike bat ihn hinein, wobei er die jungen Polizisten beäugelte, die ihn unermüdlich grimmig anschauten. Ike schloss die Haustüre sachte, um nicht den Anschein zu erwecken, ihr Chef hätte soeben die Höhle des Löwen betreten und sei nun so gut wie erledigt.

Langsam trat Inspector Gardner mit verschränkten Händen hinter seinem Rücken herein. An seinem Gürtel hafteten eine lederne Pistolentasche und eine Säbelscheide. Seine Stiefeln ließen den Dielenboden mit jedem Schritt leicht knarren. Von draußen drang gedämpftes Pferdewiehern herein.
Ike beabsichtigte sofort die offensive Diskussion zu eröffnen, um diesen unerwünschten Besuch schnellstmöglich wieder loszuwerden. Zwar wollte er, dass Peter Gallagher für seine Tat belangt wird, schließlich hatte er beabsichtigt Eloise zu entführen und wollte sie vielleicht sogar umbringen, aber der Herr Inspector machte einen äußerst scharfsinnigen Eindruck auf ihn. Also war es angebracht, den Aufgebrachten zu spielen und die Situation kurz gebunden wie möglich zu schildern. Dieser scharfsinnige Mann sollte besser wieder schleunigst verschwinden, dachte sich Ike.
Laut und bestimmend vorzugehen hatte schon so manchen überzeugt, mindestens auf der Schiffswerft. Da nun Ike mit einem möglichen Polizeibesuch gerechnet hatte, die vielleicht sogar das Haus durchsuchen würden, hatte er seine geheimnisvollen Utensilien bereits vorsichtshalber in der Pferdescheune versteckt.
„Kommen wir doch gleich zur Sache, Police Inspector Gardner. Sicherlich liegt eine Strafanzeige seitens Mister Gallagher vor, wegen Körperverletzung oder gar … Mordversuch. Ungeheuerlich! Miss O’Brian handelte in Notwehr! Gallagher betrat unerlaubt mein Grundstück und zudem drang er in unser Zuhause ein. Gallagher bedrohte Miss O’Brian obendrein mit einem Revolver und schoss sogar auf ihren sechzehnjährigen Bruder! Ich werde hiermit Gegenanzeige erstatten und …“
Der Inspector unterbrach seine Anschuldigung, indem er seine Hand hob und ihn anstarrte.
„Sachte, sachte, Mister van Broek … Ganz sachte. Niemand erstattete Strafanzeige und ich rate Ihnen, dies ebenfalls zu unterlassen!“, unterbrach er ihn gleichermaßen laut. „Nur der behandelte Dorfarzt von Gallagher hatte Meldung gemacht, weil dies seine Pflicht war.“
Mit einem gekniffenen Auge musterte er den kräftigen jungen Holländer. Mr. Gardner presste seine Lippen zusammen, sein buschiger Schnauzer bewegte sich in seinem faltigen Gesicht. Er lief langsam umher; seine Hände behielt er hinter dem Rücken verschränkt und nur wenn er redete, streckte er manchmal kurz seinen Zeigefinger wankend in die Höhe.
„Dies wäre töricht, dies wäre sogar ausgesprochen töricht! Sehen Sie, Mister van Broek, gewissermaßen bin ich gekommen, weil ich ihr Freund bin. Ich stehe kurz vor meiner Pensionierung und habe keine Lust die letzten Tage mit ansehen zu müssen, wie dieser Mistkerl Babyface sich abermals sein Recht ergaunert. Sie müssen verstehen, die bäuerliche Provinz untersteht meiner Obhut aber Belfast interessiert es nicht sonderlich, was auf dem Land geschieht. Jedenfalls so lange niemand abgemurkst wird. Lappalien wie diese, regelt man hier gewöhnlich unter sich“, erläuterte er.

Police Inspector Gardner sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und wartete regelrecht darauf, dass dieser Ausländer empört reagieren würde.
„Wie ist das zu verstehen, Sir? Wie wird diese Lappalie, wie Sie es nennen, unter sich geregelt?“, fragte Ike patzig. „Klären Sie mich bitte auf. Wie Sie bereits wissen, bin ich nicht von hier.“
„Nun, die Gallaghers sind ein wohlhabender und einflussreicher Familienclan in ganz Ulster. Ihre Steinmetzerei ist ein angesehenes Familienunternehmen, unter anderem bestehen vertragliche Geschäftsbeziehungen mit dem Vorstand des Milltown Friedhofes in Belfast, wenn Sie jetzt verstehen.“
Ike aber verstand nicht und schüttelte gelangweilt mit dem Kopf. Der Police Inspector kniff wieder seine Lippen und grummelte etwas ärgerlich vor sich hin, weil er einen Ausländer aufklären musste. Korruption ist schließlich ein Thema, welches diskret angegangen werden musste, insbesondere, wenn ein Gesetzeshüter dies anzudeuten wagte.
„Der Milltown Friedhof in Belfast wurde vor einundvierzig Jahren ausschließlich für angesehene Katholiken errichtet. Wer sich dort einmal für ewig niederlassen will, muss also sehr tief in die Hosentasche greifen können.“ Gardner schmunzelte. „Jeder Mensch ist nun mal bestrebt danach, Land zu erwerben.“
Bevor der Inspector fortfuhr, holte er ein Etui aus seiner Brusttasche heraus, streute braunes Pulver auf seine Handfläche und schniefte Schnupftabak ein. Mit glasigen Augen rieb er seine Knollennase und hüstelte.
„Der alte Gallagher mag seinen missratenen Sohn zwar auch nicht besonders, aber wenn es darauf ankommt, ist Blut immer noch dicker als Wasser. Joseph Gallagher ist äußerst einflussreich, sollten Sie wissen, Mister van Broek. Es gibt einfach zu viele Leute, die ihm einen Gefallen schuldig sind, auch bei den Bankangestellten, im Police Department und bei gewissen Staatsanwälten. Juristisch gesehen möge das Gesetz vielleicht auf Ihrer Seite stehen, Mister van Broek, gewiss sogar. Aber ein Ausländer hat hierzulande wenige Chancen auf sogenannter Gerechtigkeit, wenn Sie jetzt verstehen. Der alte Gallagher ist ohnehin ein sturer Bock und wer sich mit ihm anlegt oder seine benötigte Hilfe ablehnt, hat sein eigenes Grab geschaufelt. Jedoch nicht auf dem Milltown Friedhof! Habe ich mich nun deutlicher ausgedrückt, Mister van Broek? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber der gute alte Joseph Gallagher verfügt über eine gewisse Macht und könnte Sie aus dieser Gegend durchaus vertreiben, wenn Sie denen Schwierigkeiten bereiten“, erklärte der Inspector lächelnd.

Der Gallagher Clan schien sehr einflussreich zu sein und es würde mit einer Anklage, egal wer sie nun erhob, das öffentliche Interesse wecken. Aber es lag absolut nicht in Ikes Interesse mit einem Strafprozess Aufsehen zu erregen, worauf ihm wohlmöglich noch Zeitungsreporter bis auf Queens Island verfolgen würden, damit sie in der nächsten Tageszeitung eine Schlagzeile präsentieren könnten, die letztlich seine Mission hindern oder gar zum Scheitern bringen würde. Ike war schließlich ein Geheimagent aus der Zukunft, dessen Identität keinesfalls in einem Zeitungsartikel, unglücklicherweise sogar mit einem Foto oder gar auf einer Filmspule erscheinen durfte. Diese Angelegenheit sollte besser schnellstmöglich in Vergessenheit geraten, beziehungsweise unter sich geregelt werden, so wie es Inspector Gardner empfohlen hatte, bevor sich ungeahnte Schwierigkeiten anbahnten.
Trotzdem ging Peter Gallagher mit seinem Terror zu weit. Immerhin hatte er beabsichtigt, Eloise zu entführen und hatte schlussendlich nach ihrem Leben getrachtet, was er für absolut inakzeptabel empfand. Besonders wenn es um juristische Angelegenheiten ging, verhielt sich Ike ebenfalls bockig und pochte stets auf sein Recht. Man hatte seine große Liebe bedroht, sollte er das einfach so hinnehmen und vor dem Gallagher Clan kuschen? Kuschen zählte ganz und gar nicht zu seinen stärksten Tugenden aber Eloise hatte einmal zu ihm gesagt: Der Klügere gibt nach.
Ike sah sich also damit einverstanden, die Angelegenheit unter dem Teppich zu kehren. Peter Gallagher hatte sowieso seinen Denkzettel bekommen und würde es sicherlich nie wieder wagen, sein neu erworbenes Land zu betreten, geschweige denn, Ikes Grundstück. Ike versicherte dem Police Inspector, dass er von gerichtlichen Maßnahmen absehe und hoffte, dass er den gewissenhaften Gesetzeshüter nun losgeworden war, zumal der Police Inspector grade drauf und dran war, nach dem Türgriff zu greifen.
Eloise atmete erleichtert auf. Der Police Inspector nahm sie nicht, wie sie befürchtet hatte, ins Kreuzverhör und befragte sie auch nicht über diese geheimnisvolle Pistole. Sie meinte jedenfalls, die Unannehmlichkeiten seien nun überstanden und vergessen. Eloise war also wieder happy.

„Wie unhöflich von uns, Inspector Gardner. Hätten Sie denn nicht gerne eine heiße Tasse Tee? Und was ist mit Ihren netten Kollegen? Bestimmt würden auch sie sich über ein paar Kekse und Tee erfreuen. Sollen sie doch hereinkommen“, sagte sie fröhlich gestimmt, öffnete die Haustüre und bat die Polizisten lächelnd herein.
Ike verdrehte seine Augen und strich verzweifelt seine Hände über das Gesicht. Seine hartnäckigen Bemühungen, den ungebetenen Besuch schnellstmöglich wieder los zu werden, hatte sein Liebes mit ihrer zwanghaften Gastfreundlichkeit augenblicklich zunichte gemacht.
Mit starrer Miene traten die jungen Polizisten herein, nickten freundlich und griffen grüßend an ihren Käppis. Der Police Inspector kraulte nachdenklich seinen buschigen Schnauzbart und beobachtete Eloise dabei, wie sie elanvoll und fröhlich summend eine Teekanne zubereitete. Diese zarte Person soll also tatsächlich den Gallagher Schurken und einen skrupellosen Kerl im Alleingang niedergestreckt haben, fragte er sich insgeheim.
„Miss O’Brian …“, sprach er plötzlich mit kräftiger Stimme, woraufhin Eloise aufschreckte. „Sagen Sie mal, wo ist eigentlich die Waffe verblieben, womit Sie Gallagher außer Gefecht gesetzt hatten? Ich hätte sie gerne einmal gesehen.“
Eloise erstarrte und schüttete versehentlich das heiße Wasser neben die Porzellankanne aus, das augenblicklich in den Abfluss des Waschbeckens floss.
„Was?“, antwortete sie sichtlich erschrocken. Ihr Herz raste vor Aufregung.
Police Inspector Gardner räusperte sich.
„Ich fragte, wo die Schusswaffe geblieben ist, mit der Sie sich verteidigt hatten.“
„Wa-was?“, wiederholte sie mit weit geöffneten Augen und wagte nicht sich umzudrehen, um direkt in die Augen des Police Inspector zu schauen und zitterte nervös.
„Weshalb ist das von Wichtigkeit, Inspector, wenn ich zu fragen erlaube?“, mischte sich Ike rettend ein.
„Nun, Mister van Broek, deshalb bin ich eigentlich überhaupt hier. Sehen Sie, es gibt eine kleine Ungereimtheit bezüglich dieser Pistole, oder was auch immer das Übel ausgelöst hatte. Gallaghers Hausarzt bestätigte zwar eine Schusswunde, wahrscheinlich zugefügt von einem Neun-Millimeter-Kalibergeschoss, dennoch steckte keine Kugel in seinem Oberschenkel. Wie lässt sich das nur erklären?“ Gardner schloss seine Augen und schüttelte leicht mit dem Kopf. „Es war definitiv kein Durchschuss. Nach Gallaghers Aussage handelte es sich um eine silberne Pistole ohne Munitionstrommel.“
Mr. Gardner hielt sich die Faust auf seinen Mund, räusperte sich nochmals und schmunzelte.
„Dieser Trottel behauptete doch in der Tat, es war eine Weltraumpistole, die keinen Laut von sich tat.“
Daraufhin platzte aus Ike ein lautes Lachen heraus: „Eine Weltraumpistole … Wie köstlich.“
Aber als er feststellte, dass die Polizisten seine Belustigung nicht teilten und sie ihn stattdessen nur fragend anstarrten, verstummte sein Gelächter wieder sogleich.
„Peter Gallagher beteuerte, dass der Pistolenschuss nicht lauter als der eines Luftgewehres war. Aber ein Luftgewehr verursachte höchstens blaue Flecken aber ich bitte Sie … Ein Luftgewehr fügt niemanden eine zerfetzte Schlagader zu. Diese Hokuspokus-Pistole hätte ich also ganz gerne mal gesehen, Mister van Broek“, lächelte Mr. Gardner verschmitzt.

Ein kurzes Schweigen herrschte, dann atmete Ike schwermütig auf.
„Na schön, meinetwegen. Justin ..!“, forderte er energisch auf. „Abliefern! Und zwar sofort!“
„Och nö! Mensch menno! Ike, bitte nicht“, flehte Justin gekünstelt widerwillig. Ike blieb aber hartnäckig, forderte lockend mit dem Zeigefinger und Justin spielte seine Theaterrolle ebenso Oscar verdächtig, wie Ike selbst.
Die Familie hatte ihr Alibi in kürzester Zeit brillant einstudiert. Der Junge zog einen Schmollmund, ließ seinen Löffel im Suppenteller fallen und ging sichtlich zerknirscht in sein Zimmer. Mr. Gardner blickte äußerst verdutzt in die Runde, als Justin ihm eine silberne Schusswaffe in die Hand drückte, die einer Pistole ähnelte.
Es war eine kleine handliche Armbrust in Form einer Pistole, die Matthew Kelly in seiner Werkstatt aus Eisenschrott eigenständig konstruiert und Justin zu seinem 13. Geburtstag geschenkt hatte. „Damit kannst du jetzt die Spatzen vom Dach abschießen, du kleiner Lausebengel“, hatte Matthew gesagt und ihm dabei durchs Haar gewuschelt.
Diese handliche Armbrust funktionierte tatsächlich einwandfrei. Selbst die Stahlpfeile, dessen kegelförmige Spitzen er auf einen Durchmesser von exakt neun Millimetern gehobelt hatte – Matthew Kelly bewies mit diesem Geburtstagsgeschenk wieder einmal, welch Perfektionist in ihm steckte – waren handgemacht. Der Police Inspector hielt diese selbstgemachte Armbrustpistole in seiner Hand und begutachtete sie misstrauisch.
„Pah!“, platzte es sogleich aus ihm heraus, „Wollen Sie mich etwa auf den Arm nehmen, Mister van Broek? Mit diesem Spielzeug schießt man ja nicht einmal einen Spatz vom Dach, geschweige denn, trifft man haarscharf eine Blutarterie im Oberschenkel!“
Justin nahm dem Inspector wortlos die Miniarmbrust aus der Hand, die nicht viel größer als ein Revolver war, spannte den Abzug, der mit einem elastischen Drahtseil verbunden war, lud einen Stahlpfeil und ging damit hinaus auf den Hof.
Am Scheunentor hatte er eine selbstgebastelte Dartscheibe angenagelt. Er trat 20 Fuß weit davor, zielte und betätigte den Abzug. Ein beinahe geräuschloses Klicken erklang, leiser als bei einem abgefeuerten Schuss eines Luftgewehrs, und sogleich traf der Pfeil auf die Dartscheibe ein. Justin hielt seine Hand über die Stirn und lugte. Von dieser Entfernung glich die Scheibe klein wie ein Tassenuntersatz. Er ballte seine Faust und schlug sie freudig in die Luft.
„Yeah! Habt ihr das gesehen? Voll mega … Ähm, ich meine … Voll super! Ich hab die dreifach Zwanzig getroffen!“, rief er freudig heraus.

Mr. Police Inspector Gardner runzelte die Stirn und sein buschiger Schnauzbart verzog sich. Er war trotz alledem nicht überzeugt. Insgeheim hatte er nämlich erhofft, eine wirkliche Schusswaffe präsentiert zu bekommen, einen Selbstlader. Außerdem hatte Peter Gallagher keine Silbe davon erwähnt, dass er sich einen Armbrustpfeil aus seinem Bein gezogen hatte. Die Geschichte stinkt gewaltig bis zum Himmel, fuhr es durch Gardners Gedanken.
Police Inspektor Gardner hielt Paddy die Waffe genau vor seine Nase und fragte mit strenger Stimme, wobei er ihn durchdringlich anblickte, ob es tatsächlich diese Waffe war, mit der seine Schwester geschossen hatte.
„J-ja, Sir. Gewiss, Sir“, antwortete Paddy sogleich aufgeregt.
„Junge …“, sprach der Inspektor wie ein strenger Lehrer auf ihn ein. „Ich bin seit fast 50 Jahren bei der Polizei und habe noch jeden durchschaut. Also, halte mich nicht zum Narren und sag mir die Wahrheit!“
Wieder zuckte Paddy mit seinen Schultern und beteuerte dann, eigentlich überhaupt gar keine Waffe gesehen zu haben.
„Mmm …“, brummelte Gardner unzufrieden. „Miss O’Brian, war das etwa die Waffe, mit der Sie sich verteidigt hatten?“, fragte er dann Eloise, worauf erneut ihr Herz wild pochte und ihr sonst blasses Gesicht errötete. Sie antwortete nicht sondern schaute nur stumm auf den Boden. Sie wusste genau, dies war nicht die Schusswaffe, die sie abgefeuert hatte. Diese Miniarmbrust hatte Matthew Kelly dem Jungen zum 13. Geburtstag geschenkt.
Gardner blickte sie missmutig an.
„Miss O’Brian, ich rede mit Ihnen! Sie haben mir gefälligst zu antworten!“, bedrängte der Inspector sie. „Bestätigen Sie, dass dies die Schusswaffe war, die Mister Gallagher verletzt hatte? Haben Sie damit auf Peter Gallagher geschossen? Sie müssen mir jetzt die Wahrheit sagen, Miss O’Brian! Andernfalls bin ich gezwungen, Sie mit auf das Polizeirevier zu nehmen!“, sagte er nachdrücklich.
Ike schluckte während er Eloise beobachtete. Wie ein Häufchen Elend stand sie da, den Tränen nahe. Ihr Kopf sank immer weiter runter.
Plötzlich nickte sie, zuerst nur zaghaft, dann immer deutlicher – eigentlich aufgrund ihres Schluchzens, aber der Inspector deutete dies für ein Ja –, bis sie ihre Hand vor ihr Gesicht hielt und bitterlich weinte.

Ike nahm sie behutsam in seine Arme und tröstete sie, worauf sie sich sofort an ihn festkrallte und ihr hemmungsloses Weinen an seinen starken Schultern ausließ. „Gut gemacht, Liebes“, flüsterte er in ihr Ohr. „Du bist sehr tapfer. Du hast mich nicht verraten.“ Dann küsste er auf ihre Stirn.
„Sie haben es gehört, Inspector. Meine Verlobte hat sich tatsächlich mit dieser kleinen Armbrust verteidig. Das ist ja wohl kein Verbrechen, sondern eher Selbstverteidigung! Entschuldigen Sie, aber meine Verlobte ist nach diesen Ereignissen verständlicherweise sehr durcheinander. Ich bitte Sie jetzt höflichst, zu gehen. Guten Abend, Sir.“
Inspector Gardner griff in seine Brusttasche, holte wieder das Etui heraus, streute eine Prise Schnupftabak auf seine Handfläche und sog es in seine Knollennase ein. Er schniefte und rieb mit glasigen Augen seine Nase. Dann futterte er einen Keks.
„Ich habe keine weiteren Fragen. Entschuldigen Sie bitte meine zudringliche Vorgehensweise, Miss O’Brian, aber ich bin nun mal ein Gesetzeshüter und erfülle nur meine Pflicht“, lächelte er gezwungen.
„Kein Problem. Wenn Sie uns jetzt entschuldigen würden …“, fügte Ike hinzu und deutete mit dem Kopf auf die Ausgangstür, während Eloise in seinen Armen bitterlich weinte.

Das Kreuzverhör schien endlich beendet zu sein. Der Police Inspector lief gemächlich in der Küchenstube herum, begutachtete die Einschusslöcher in den Wandschränken und wunderte sich über diese komische Konstruktion. Diese Küchenzeile, die an einer 1970er Küchenzeile erinnerte, sah für ihn sehr eigen aus, gewöhnungsbedürftig, wie er feststellte. Er musterte aber vor allem die selbst konstruierte Armbrustpistole, die er in seiner Hand hielt. Er zeigte es nicht, aber innerlich verspürte er Unzufriedenheit und wollte es nicht wahrhaben, dass Peter Gallagher von einem simplen Pfeil angeschossen wurde, zumal er davon nichts erwähnt und felsenfest behauptet hatte, es sei eine Schusswaffe gewesen. Eine sogenannte Weltraumpistole.
Seine fünfzigjährige Berufserfahrung im Polizeidienst ließ ihm instinktiv ins Gedächtnis rufen, dass an dieser fragwürdigen Geschichte etwas nicht stimmte. Aber zugleich wollte er diese unangenehme Angelegenheit ebenfalls, ohne eine Strafanzeige zu erstellen, abschließen. Die Gallagher Familie einer versuchten Entführung oder gar Mordes anzuklagen, könnte letztendlich auch für Police Inspector Gardner einige Schwierigkeiten bedeuten, selbst in seinem wohlverdienten Ruhestand. Ike deutete auf den Küchenschrank, dort lag ein blutverkrusteter Metallpfeil. Das Beweisstück, wie er behauptete.
„Bedienen Sie sich ruhig, nehmen Sie das Pfeilgeschoss meinetwegen mit. Ist mir sogar recht. Die DNA-Analyse wird es schließlich beweisen, dass dieses Geschoss in Gallaghers Oberschenkel eingedrungen ist. Daran haftet eindeutig sein Blut“, behauptete Ike siegesbewusst, weil er diesen kleinen Armbrustpfeil zuvor im blutgetränkten Handtuch getunkt hatte.
Inspector Gardner betrachtete den kleinen Stahlpfeil mit gekniffenen Augen: „Mmm …“
Anne weitete aufgebracht die Augen, presste ihren Finger auf ihren Mund und winkte energisch ab, als er sie kurz anblickte. Aber zu spät. Ike hatte sich verhaspelt. Der Police Inspector runzelte die Stirn und beäugte diesen Metallpfeil.
„DN … Bitte was?“
Ike stockte einen Moment, bevor er verlegen lächelte und dabei hüstelte.
„Aber geehrter Police Inspector, wie wollen Sie denn sonst beweisen, dass Gallagher von diesem Geschoss verletzt wurde?“, fragte er ihn gespielt vorwurfsvoll. „Nur die DNA-Analyse wird endgültige Klarheit verschaffen. Richtig?“
Mr. Gardner blickte ihn mit offenem Mund verdutzt an.
„Wollen Sie mir jetzt etwa weismachen, dass die irische Polizeibehörde diese Methode zur Aufklärung von Verbrechen immer noch nicht anwendet? In der Niederlande jedenfalls werden bereits seit etlichen Jahren DNA-Proben entnommen und somit ungeklärte Mordfälle problemlos aufgeklärt“, bekundete Ike.
Immer noch blickte Mr. Gardner ihn mit offenem Mund entgeistert an, bevor er gefasst antwortete.
„Doch, doch, doch, doch … Geschwind her mit diesem Ding“, lockte er mit seinem Finger. „Selbstverständlich analysiert die irische Polizei längst mit dem DNA-Verfahren und das erfolgreich, schon seit Sage und Schreibe zwanzig Jahren!“, flunkerte Inspector Gardner überzeugend.
Als der Police Inspector grade nach dem blutverkrusteten Pfeil griff, hielt ihn Ike aufgebracht davon ab.
„Nicht doch! Sie werden das Beweisstück doch wohl nicht einfach so anfassen wollen!“, belehrte er ihn. Ike wickelte den Metallpfeil in ein Taschentuch ein, übergab es dem Inspector vorsichtig und klopfte ihm grinsend auf die Schulter.
„Gallaghers Fingerabdrücke haften darauf und diese wollen wir doch nicht verwischen. Wie wollen Sie denn ansonsten beweisen, dass er genau diesen Pfeil aus seinem Bein selbst gezogen hatte?“
Erneut blickte Mr. Gardner ihn verblüfft an. Die niederländische Polizei soll der Irländischen etwa technisch voraus sein? Niemals!
„Fingerabdrücke … Selbstverständlich, wie konnte ich das nur vergessen?“, entgegnete ihm Gardner grinsend.

Als Police Inspector Gardner das Kreuzverhör nun endgültig abgeschlossen hatte und die Familie die Polizisten zum Hof begleiteten, verwandelte sich Mr. Gardner scheinbar in einen Kumpel von nebenan. Er lobte die Keksgebäcke, bedankte sich bei Eloise mit einem Handkuss für die Gastfreundschaft und versuchte Ike ein letztes Mal listig aus der Reserve zu locken.
„Ich hoffte zugegeben endlich einmal einen Selbstlader in meinen Händen zu halten, als mir Babyface von einer Waffe ohne Munitionstrommel berichtet hatte. Ich hätte sogar ein Auge zugedrückt und Sie dafür nicht belangt, falls sie solch eine Pistole tatsächlich besäßen. Wäre unter uns geblieben“, zwinkerte ihm Gardner zu. „Ich dachte, Sie würden eine Mauser C96 von den Krautfressern besitzen. Ein Prachtexemplar von einer Pistole. Ich hätte gerne mal damit geschossen. Schade, das dem nicht so ist.“
Ike zuckte mit seinen Mundwinkeln. „Die Mauser ist meines Erachtens eine verbotene Kriegswaffe. So etwas besitzen wir nicht. Wir sind gläubige Christen die bemüht sind, stets nach Gottes Willen zu leben. Ich könnte Ihnen allerhöchstens meine 1894er Winchester zeigen, falls Sie daran interessiert wären.“
Der Police Inspector aber winkte nur verachtend ab, stieg auf sein Pferd und gab den Befehl zum Abmarsch, woraufhin die Reiter ihre Pferde langsam vorantrieben.

Die Dämmerung hatte den Himmel bereits violett getunkt. Die Polizeipatrouille führte ihre Pferde im Galopp davon. Die Familie stand mitten auf dem Hof und winkte der reitenden Polizeitruppe hinterher. Der Police Inspector schaute hinter seiner Schulter und hohnlächelte.
„Was für ein eigenartiges Völkchen doch in dieser ländlichen Gegend wohnt. Nur Rindviecher und Hornochsen. Und die Hühnerkacke von denen müssen wir, die Polizisten aus Belfast, irgendwie wieder richten.“
Aus den Mündern seiner Rekruten drang lautes Gelächter heraus. Inspector Gardner griff in seine Jackentasche und warf den eingewickelten Armbrustpfeil achtlos hinter seine Schulter.
„DNA-Analyse … Fingerabdrücke … Was für ein bescheuerter Quatsch. Und ich dachte immer, so etwas dämlich Präzises würde nur den verfluchten Krauts einfallen. Aber die Käsefresser scheinen noch beknackter zu sein.“
Dann streute er Schnupftabak auf seine Handfläche und schniefte es in seine Knollennase ein. Kriminalfall Gallagher vs. van Broek erfolgreich abgeschlossen.

Als der unerwünschte Besuch aus ihrer Sichtweite endgültig verschwunden war, führte Anne die zwei Jungs wieder in das Haus hinein und versprach ihnen, eine Gebrüder Grimm Geschichte zu erzählen. Davon war selbst der geprügelte sechzehnjährige Paddy begeistert. Sie wuschelte beiden Jungs durchs Haar, hakte sich beidseitig in ihre Arme ein und begann zu erzählen: „Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter …
Ike und Eloise blieben noch eine Weile auf dem Hof stehen und blickten gemeinsam sehnsüchtig in den sternenklaren Abendhimmel. Die Halbmondsichel leuchtete strahlend hell, und wieder huschte eine Sternenschnuppe vorbei. Nur in der Ferne sahen sie dunkle Wolken. Mächtige Blitze zuckten auf. Es grollte in der Ferne, ein Gewitter schien sich anzubahnen.
„Den Inspector hast du jetzt aber verflixt gut angeschmiert“, schmunzelte Eloise.
„Wie meinst du das, Liebes?“, fragte Ike verwundert.
„Na, wie soll man denn nur anhand der Fingerabdrücke einen Verbrecher entlarven können?“
Eloise hielt ihm ihre gespreizten Finger entgegen und prustete. „Die Fingerabdrücke eines Menschen sehen doch alle gleich aus“, kicherte sie.
Ike lächelte, streichelte über ihren geflochtenen Zopf und küsste sie innig.
Plötzlich preschte eine Windböe herbei und ließ die Baumkrone der alten Eiche wild aufrauschen. Bunte Blätter fegten über den Hof. Fröstelnder Wind wehte. Eloise kuschelte sich in seine Umarmung. Ike schmatzte ihr auf die Stirn. Ein gewaltiger Sturm zog herbei. Noch diese Nacht.
 
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Kommentare  

Nichts verraten ist gut. Das 2. Band, Mission
Titanic, kann man ja lesen, habe ich nicht
gelöscht aber das wirkliche Ende dieser 2
Romane ist von mir noch gar nicht geschrieben
worden. Ich weiß im Moment selber noch gar
nicht, wie die Story enden soll. Da habe ich
verschiedene Abschlüsse im Kopf. Aber zuerst
will ich die Belfast Mission überarbeiten. Einige
Kapitel habe ich gekürzt und vor allem
verändert. Hatte ich mit Imhotep genauso
gemacht, bis ich mit dem Ergebnis selber
zufrieden war.

LGF


Francis Dille (09.01.2025)

Oh,oh, da ist ja Ike ... naja ich will nichts verraten .... Auch dieses Kapitel wie immer wahnsinnig spannend und die Romantik vergisst du dennoch nicht.

Marco Polo (06.01.2025)

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