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10 Seiten

Ahrok - 27. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die Brücke über die Ilv

Urguk kaute auf dem kleinen Stück gerösteter Leber herum. Es war das letzte Überbleibsel des selbsternannten Meisterattentäters Pythos, dessen kalten Leichnam gestern ein von ihm entsandter Suchtrupp in der Kanalisation unter dem Versteck der beiden Monster von der Oberfläche gefunden hatte.
Wertlos bis zum letzten Bissen.
Urguk schüttelte den Kopf. Nicht einmal die Leber des Spions schmeckte sonderlich gut. Hätte seine kleine Armee nicht solche Nachschubschwierigkeiten mit Versorgungsgütern, dann hätte er schon nach den wenig schmackhaften Nieren aufgehört diesen unfähigen Wurm zu verwerten.
So hatten sie Pythos letzten Endes also doch noch erwischt, bevor er irgendwelche nützliche Informationen liefern konnte.
Er spukte das zerkaute Stück aus und vergrub den Kopf in seinen Händen.
Die beiden Oberflächler, nahmen mittlerweile den Großteil von Urguks Grübeleien ein. Sie mischten sich zwar nicht in seine Pläne ein, aber sie waren der Schandfleck auf allem was er tat und selbst wenn sie die Stadt verließen, um niemals wieder seinen Weg zu kreuzen, so wäre er immer noch nicht zufrieden.
Er wollte sie tot sehen.
Es gab keinen bestimmten Grund, mit welchem er dies vor dem Konzil rechtfertigen konnte. Es war etwas Persönliches. Sie waren wie ein Jucken zwischen den Schulterblättern, welches man nicht erreichen konnte. Nicht schädlich, nicht schmerzhaft, aber dafür umso nervtötender. Jedes neue Gerücht über die beiden brachte ihn zur Weißglut.
Sie waren ein Nichts!
Nur ein paar lausige, vom Glück verfolgte Oberflächler und völlig überschätzt. Verglichen mit ihm waren sie nicht einmal Würmer, doch die Truppe fürchtete diese erlogenen und übertriebenen Geschichten mehr als seine wirklich greifbare, grenzenlose Macht. Er hatte sie erschaffen, hatte mit seiner Nachricht an sie erst dafür gesorgt, dass dieser Mythos gewachsen war. Deshalb fiel es auch ihm zu, sie zu vernichten.
Ihr Tod war notwendig, wenn er je wieder ruhig schlafen wollte.
Er würde sich in Bälde selbst darum kümmern. Wenn er dabei war, wie sie starben, dann könnte er auch endlich wieder etwas Ruhe für seine Eroberungspläne finden.
Apropos Eroberungspläne, er hatte schon eine Weile keine Nachricht mehr vom obersten Pestbringer erhalten, der Bote aus dem Labor des Krankheitenpantschers war schon einige Stunden überfällig.
Urguk griff nach einer neuen Flasche Plutonwasser.
Was für ein Scheißtag.

Ahrok duckte sich neben den Zwerg in den Schatten der Nacht. Ein Trupp nicht mehr ganz so eifriger Stadtwächter durchsuchte gerade die Straße, welche sie überqueren mussten. Die sechs Soldaten unterhielten sich laut und lachten über ihre eigenen Scherze, dabei widmeten sie ihrer Umgebung zum Glück nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Es war mittlerweile die dritte Patrouille, vor der sie sich versteckten.
Sie beide hatten es jedoch gleich geschafft, zumindest falls die hübsche Jenna sie nicht doch belogen hatte. Möglicherweise war sie immer noch etwas nachtragend gewesen, weil er ihr die Nase gebrochen hatte, aber bislang hatte sie ihre Wegbeschreibung aber zuverlässig über ein paar Hinterhöfe geführt und nun durch diese Seitenstraße, die den Anwohnern hier als Müllplatz diente. Jetzt blieben da nur noch diese Querstraße und die Ilv, die sie überwinden mussten, um den Westbezirk zu verlassen.
Vor ihnen lagen nur noch ein kurzer Lauf über die verschmutzten Pflastersteine und dann die achtzig Schritt eiskaltes Wasser mit einer leichten Strömung.
Ein anderer Ausweg aus dem Westbezirk blieb ihnen nicht.
Die Brücken über den Fluss hatten die Wächter als allererstes abgeriegelt. Kähne oder Flöße würden sie von ihren Wachposten sofort entdecken und ebenfalls kontrollieren. Trocken über die Ilv zu kommen war für sie nicht möglich.
Die Stimmen der Wächter wurden leise, als der kleine Trupp Uniformierter um die nächste Hausecke bog.
Ragnar neben ihm stieß sich von der Wand ab und huschte gebückt über die Straße bis zur Kaimauer. Ahrok holte ihn gleich darauf ein. Hektisch blickte er nach links und rechts, aber die Straßen waren frei von Soldaten.
Drei Schritt unter ihnen floss die Ilv.
Er konnte die Kälte, welche der Fluss verströmte, bis hier oben spüren.
Kleine Nebelschwaden schwammen bedächtig über das aufgewühlte Wasser. Diese würden ihre Köpfe gut genug verdecken, so dass niemand, der von einer Brücke auf das Wasser blickte, sie erkennen könnte.
Ahrok erschauderte. Das war verdammt hoch und dann gab es da unten so viel Wasser.
Es würde genau so sein wie das Plantschen im Waldsee im Sommer. Nichts anderes. Das hier war auch nur Wasser. Nur Wasser.
„Es ist nur Wasser… es ist nur Wasser…“, murmelte Ragnar neben ihm.
Sie standen nun schon einige lange Atemzüge an der Mauer und keiner von ihnen wagte den Sprung. Es blieb nicht mehr viel Zeit, bis eine weitere Streife hier entlang kommen würde. Wenn jemand sah, wie sie sprangen, dann wären sie leichte Beute.
Es musste jetzt schnell gehen.
Ahrok wagte den letzten Schritt auf die kleine Mauer hinauf und blickte ein letztes Mal nach unten.
Das Wasser konnte er nicht erkennen sondern nur die bleichen Nebelfetzen, welche das Mondlicht reflektierten. Es würde sicher halb so schlimm werden.

Sie schlich als jüngstes Mitglied des Spähtrupps den anderen hinterher. Das rhythmische Wackeln der Schwänze wirkte hier in diesen menschlichen Bauten beinahe hypnotisch. Sicher lag es nur an dem Gestank.
Obwohl sie sich nun schon seit Monaten hier aufhielt, hatte sich ihre Nase noch immer nicht an diesen Geruch hier gewöhnt. Ekelhafter Menschengestank.
Es war ganz anders, als die Propagandaoffiziere es beworben hatten.
Als Kreuzzug für die Gerechtigkeit hatte man es angepriesen, als lange überfälligen Ausgleich für ihnen angetanes Unrecht.
Drei Monate hatte allein der Marsch bis in die Stadt Märkteburg gedauert.
Monate… welch überholtes Zeitmaß. Seit vielen Jahrhunderten kannten die Nyoka´tuk nur noch die ewige Nacht unter der Erde. Keine Tage, keine Sonne, keine Monde. Es war nur der elenden Sturheit ihres Volkes zu verdanken, dass man dieses alte Zeitmaß immer noch verwendete. Als Erinnerung daran, wie es früher einmal gewesen war.
Die wenigsten Nyoka´tuk glaubten an das Gerede von Rache und Wiedergutmachung. Es war für die hier anwesenden Krieger nur ein weiterer Raubzug. Unglücklicherweise war es bisher ein Raubzug ohne jede Beute.
Der Klan des Kalten Blutes hatte vor einiger Zeit einmal auf eigene Faust versucht, Kriegsbeute zu machen und war auf ganzer Linie gescheitert. Die Geschichten, die man sich über ihren kleinen missglückten Überfall erzählte, waren furchterregend.
Zwei Städter hatten ein ganzes Nest getötet und waren danach noch mit dem Leben davon gekommen. Seither wagte niemand mehr Aktionen ohne den Segen des Erleuchteten und dieser Urguk war nach der Meinung vieler Krieger allzu vorsichtig.
Ohne Beute gab es keine Motivation, ohne einen Kampf richteten sich die angestauten Aggressionen der Krieger gegen die eigenen Leute. Blutige Schlägereien oder schneller Sex waren die einzige Ablenkung von dem tristen Alltag.
Der Mangel an Nachschub in den letzten Wochen tat dann sein übriges. Die Tagesrationen der Krieger waren brutal eingeschränkt worden und es war bislang auch keine Besserung in Aussicht. Die Moral in ihrer Truppe war nur noch zu einem winzigen Bruchteil vorhanden.
Gelangweilt stieß sie den lockeren Stein in die Suppe, welcher gerade vor ihrem Fuß lag.
Anstatt des erwarteten Platschens gab es jedoch nur ein leises, dumpfes Geräusch, welches sie veranlasste ihren Blick von den monoton schwingenden Schwänzen zu lösen.
Neben ihnen trieb der Körper eines Nyoka´tuk auf dem schmutzigen Wasser.
Diese Stadt war ein Albtraum. So viele Tote und es gab bislang nicht den geringsten Erfolg vorzuweisen.
Der Leichnam dort war nur ein weiterer Beweis ihres Scheiterns. Ihn zu ignorieren und hier treiben zu lassen schien die vernünftigste aller Alternativen.
„Ko“, sie sprang in das schmutzige Wasser und zog den steifen Körper durch die Kanalisation. Ihre Kameraden packten sofort mit an und hievten den Toten an Land.
Sie wusste selber nicht genau, warum sie das tat. Nun blieb die ganze Arbeit an ihnen hängen. Der Tote musste identifiziert werden, seine Todesursache ergründet und die Folgen für die ganze Armee abgeschätzt werden.
Vermutlich war es der Gedanke, dass ihr eigener Körper ebenfalls nicht im dreckigen Feindesland unbemerkt verrotten sollte, der sie dazu gebracht hatte.
„Vypos tes ka? Óhkun Vypos!“, rief einer der Soldaten.
Erschrocken blickten sie sich alle an. Wenn dies wirklich der oberste Pestbringer war, dann verhieß das nichts Gutes. Man hatte dem armen Gelehrten die Beine zertrümmert und etliche Knochen der Wirbelsäule gebrochen. Es musste ein schrecklicher Tod gewesen sein.
„Kirgut jo Urguk“, schlug sie letztendlich vor.
Als sie Vypos Leichnam vorsichtig ihrem Kameraden auf die Schulter lud, verfing sich die Kralle des Pestbringers in ihrem Unterarm und hinterließ einen kleinen, blutigen Kratzer.
Sie seufzte entnervt.
Um diesen Tag zu vergessen würde sie mehr brauchen als die starken Arme eines einzelnen Männchens. Heute Nacht würde sie zwei oder drei Soldaten glücklich machen.

Ahrok hatte erschrocken aufgeschrien, als er mit den Füßen voran in das eiskalte Wasser geplatscht war. Zum Glück hatte es niemand gehört, da er seinen Mund erst unter der Wasseroberfläche geöffnete hatte und so statt des spitzen Schreis nur eine Schar Luftblasen seine Lippen verlassen hatte.
Mit ein paar hektischen Schwimmzügen arbeitete er sich wieder nach oben und sog sofort gierig die nasskalte Luft in seine Lungen.
Die Strömung war an der Oberfläche alles andere als seicht und es hatte entgegen aller Hoffnungen nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem sommerlichen Bad im See. Er kühlte beinahe sofort aus. Seine Finger und Zehen waren bereits nach wenigen Augenblicken klamm und gehorchten kaum noch seinen Befehlen.
Das Schlimmste war jedoch, dass die Entfernung, welche vom Kai schon recht groß ausgesehen hatte, von hier unten nahezu unüberwindlich wirkte.
Seine ersten zehn ungeschickten Schwimmzüge hatten ihn kaum fünf Schritt weit gebracht, währenddessen hatte ihn die Strömung der Ilv jedoch schon ein ganz schönes Stück von der Position entfernt, auf der Ragnar noch immer unschlüssig stand.
Er drehte den Kopf wieder seinem Ziel zu. Der Zwerg würde schon noch springen.
Ein weiterer Schwimmzug und Ahrok schluckte kaltes Wasser. Hustend versuchte er sich über Wasser zu halte, als die nächsten Wellen ihm ins Gesicht schlugen.
Wasser. Überall war Wasser. Für einen kurzen Moment verlor er die Orientierung. Das frostige Nass brannte ihm in den Augen und Ohren.
Dann platschte es hinter ihm.
Wahrscheinlich war es der Valr, der endlich seinen Mut gefunden hatte.
Ahrok richtete den verschwommenen Blick wieder auf sein Ziel. Mit einem wütenden Gedanken an Sandra mobilisierte die erkaltete und verspannte Schultermuskulatur erneut und arbeitete sich Stück für Stück auf das andere Ufer zu.
Anfangs hatte er noch versucht, gegen die Strömung anzuschwimmen, aber das hatte er schnell aufgegeben. Er trieb immer weiter nach rechts ab, aber mittlerweile war ihm das egal. Hauptsache er kam auf der anderen Seite an.
Atmen, ein Schwimmzug, atmen, ein Schwimmzug und dabei die Augen fest auf sein Ziel gerichtet. Ahrok spürte nicht die Ermüdung und nicht die Kälte, sah nicht die Soldaten auf den Brücken oder Ragnar vor ihm. Das Einzige, was er sah, war das andere Ufer und auch wenn es nicht so schien, als ob ihn seine Schwimmzüge näher an das ersehnte Land brachten, so schwamm er ebenso stur wie ungeschickt weiter.
Dann kam der Punkt, an welchem der Rückweg plötzlich weiter war, als der Weg bis zum Ziel, dann die Dunkelheit, als ihn die Strömung unter einer Brücke hindurch trieb und dann wieder das fahle Mondlicht. Schon bald schien die Kaimauer in Griffweite.
Einige Minuten später krallten sich seine tauben Finger an rutschigen Stein. Die Strömung hier drohte ihn wieder mit sich zu reißen, aber sein Wille war stärker als das Wasser. Er würde nicht einen Moment länger von seinem ersehnten Ziel fernbleiben.
Langsam zog er sich an den Steinen hinauf.
Sämtliche Kraft hatte er in den letzten Minuten im Kampf gegen die schreckliche Ilv aufgewandt. Seine Muskeln schrien nach Aufmerksamkeit und Ruhe, aber er kletterte stur weiter. Die Welt um ihn herum nahm er gar nicht mehr war. Nur noch einen halben Schritt, dann war er oben.
Als er sein Ziel erreicht hatte und den Arm über die Mauerkrone legte, holten ihn seine eigene Erschöpfung und der Schmerz wieder ein. Es gelang ihm kaum noch, seinen Körper über die Mauer zu ziehen, so ermattet war er gerade.
Ihm war ja so unendlich kalt.
Der fiese Herbstwind bescherte ihm wahnsinnige Kopfschmerzen und jeder Atemzug war wie tausend Nadelstiche in seine Kehle. Zusammengekauert lag er in der Pfütze neben der Mauer und schlang die Arme um seinen Körper.
In dieser Dunkelheit lag er bibbernd und zitternd.
„Ragnar?“, seine Stimme war kaum mehr als ein leises Hauchen, gefolgt von einem Husten.
Doch der Zwerg war nirgends zu sehen. Die Straße war menschenleer, die Häuser hier am Fluss alle dunkel und vermutlich fest verschlossen.
Er musste sich aufraffen und weiter, einfach weiter.

Sergeant Hieronimus Schmidt kontrollierte als Letztes an diesem Abend den provisorisch errichteten Posten auf der Sternbrücke. Den ganzen Tag waren die Stadtwächter durch den verseuchten Bezirk marschiert, hatten Häuser durchsucht und Verdächtige befragt.
Der Westbezirk war dicht, abgeriegelt, eingesperrt. Heute hatten die Verdächtigen den Bezirk auf keinen Fall verlassen. Seine Leute hatten niemanden über die Brücken gelassen außer einer Schar gründlich durchsuchter Priester, die aus dem Bezirk geflohen war. Alle Boote, Fährschiffe und Flöße hatten sie bis auf die letzte Planke begutachtet, aber ihre Sorgfalt war den ganzen Tag lang nicht belohnt worden.
Der Posten auf der Sternbrücke lieferte ihm einen knappen Bericht über zwei unauffällige Handelsschiffe, welche die Ilv heute passiert hatten ohne am Westbezirk anzudocken.
Hieronimus lehnte sich an das Brückengeländer und setzte seinen mittlerweile viel zu schwer gewordenen Helm ab. Dieser lange Tag und die einsetzende Herbstkälte bescherten ihm eine grauenvoll vertraute Migräne.
Er setzte das schwere Eisenstück neben sich auf dem Geländer ab. Gedankenverloren fuhr er sich durch das fettige Haar und massierte den Nacken.
Diese dämliche Helmpflicht bei Sondereinsätzen!
Der Hauptmann hatte darauf bestanden, dass alle Männer dieses hässlichen Metallstück trugen. Das drei Pfund schwere Teil ruinierte einem die Frisur, drückte die ohnehin halb erfrorenen Ohren ab und bescherte einem jeden lang anhaltende Nackenschmerzen.
„Wie lange soll das hier noch dauern, Sergeant? Meine Frau ist auch schon ohne diese ganzen Sonderschichten gnatzig genug.“
„Das kommt davon, dass du deine Alte nicht richtig im Griff hast“, mischte sich sogleich einer der anderen Stadtwächter ein.
„Halt deine Schnauze, Micha.“
„Ich mein ja nur… ´n paar gut gemeinte Klapse mit der flachen Hand und selbst so eine Gewitterziege wie deine spurt wieder wie am ersten Tag.“
„Ich werde meine Frau nicht schlagen.“
„Wer redet denn hier von Schlägen? Du sollst ja nicht gleich die Fäuste sprechen lassen. Man muss mit Feingefühl einen guten Mittelweg finden. Sie braucht eben mal ´nen freundlichen Handschlag, damit sie wieder auf den rechten Weg kommt.“
„Sergeant?“
„Der Sergeant ist auf meiner Seite, der hat schließlich selber genug Erfahrungen in der Ehe. Entweder du hast einen dicken Prügel in der Hose oder im Wandschrank, mit einem von beidem wird die Frau gefügig.“
„Sergeant? Wie lange denn noch?“
Hieronimus hatte das kleine Gespräch ohne großes Interesse verfolgt. Er dachte an seine eigene Familie, die er nun schon seit zwei langen Arbeitstagen nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte.
„Wir wissen noch nicht, wie lange es dauert, Männer. Es dauert so lang, wie es eben dauert, die Flüchtigen zu finden.“
Er lockerte den Nacken und die steifen Schultern und stieß dabei ungeschickt mit dem Ellenbogen an seinen Helm. Das vermaledeite Ding wackelte auf dem Geländer und drohte in die Ilv zu stürzen. Sofort fasste er mit beiden Händen zu, um die Haube vor dem Absturz zu retten.
Das kalte Metall lag ihm plötzlich wie ein schwerer Stein in seinen Händen.
Es wäre so leicht diesen Helm jetzt hinab in den Fluss zu schicken und bei der Materialausgabe irgendwann einen Neuen zu beantragen. Dort unten hinter den Nebelschwaden im tiefen, unruhigen Wasser würde ihn dieses kopfschmerzenverursachende Ding endlich nicht mehr belästigen.
Während sein Blick auf der gespenstisch weißen Decke hing, welche über der Ilv lag, entdeckte der Sergeant, wie sich ein junger Mann die Kaimauer emporzog.
Egal ob nun Schmuggler, fliehender Dieb oder einer der Gesuchten - es gab für den Posten an der Sternbrücke nun endlich etwas zu tun.

Nicht weit von der Sternbrücke entfernt versammelten sich mittlerweile achtundfünfzig Leute in dem leeren Lagerhaus des unlängst von der Seuche hinweggerafften Metzgers Timo Ferber. Der Raum stank nach altem, gammeligen Fleisch und Blut und noch mehr als Menschen gab es hier Fliegen. Dicke Brummer, die, vom Geruch der Seuche angelockt, nahezu überall im Westbezirk zuhause waren.
Die meisten Versammelten in diesem Lagerhaus waren Überlebende des Schreckens auf dem Platz des vergessenen Friedens, andere hatten sich ihnen aus reiner Verzweiflung angesichts der sich ständig verschlimmernden Lage im Westbezirk angeschlossen, wieder andere aus jahrzehntelang schwelender Wut auf die Stadtobrigkeit.
Man hatte sie in ihrem Zuhause dem schrecklichen Tod durch diese Seuche überlassen und nicht einen Finger für ihre Rettung gekrümmt. Nun streiften vermummte Stadtwächter durch ihre Straßen. Sie stellten ihre Häuser auf den Kopf und verschreckten die Kinder und Alten auf der Suche nach ein paar einfachen Mördern, aber für die Kranken taten sie rein gar nichts.
Ein jeder hier hatte mindestens einen Angehörigen verloren oder war selber an dem schrecklichen Fieber erkrankt. In ein paar Tagen oder Wochen waren sie alle, wie sie hier versammelt waren, ohnehin tot. Gestorben an diesem grässlichen Fieber, während die gepanzerten Wächter sich nach dem Massaker vor dem Tempel des Namenlosen einfach wieder in ihre sicheren Häuser in anderen Stadtteilen zurückgezogen hatten.
Eisiges Schweigen lag über der Zusammenkunft und allein die Fliegen summten emsig umher, wie kleine Todesboten.
Den Meisten hatte es schon all ihren Mut abverlangt, ihr Haus zu verlassen und sich erneut, trotz der Anwesenheit der Stadtwache, im Westbezirk zu versammeln. Zu tief saß noch der Schock über den Einsatz der Grünen Schar am gestrigen Tag.
„Weswegen sind wir hier?“
Diese geflüsterte Frage huschte erst einmal unbeantwortet durch die Reihen, bis sie irgendwann laut ausgesprochen wurde.
Emil, der Sohn des Metzgers, löste sich aus der Menge und stellte sich auf eine Kiste.
Das Tuscheln und Murmeln stoppte abrupt und alle Augen richteten sich auf den jungen Mann.
„Meine Familie ist tot. Mein Vater und meine Geschwister starben an der Seuche, meine Mutter wurde auf dem Platz des vergessenen Friedens in Stücke gehackt und der Statthalter rührt keinen Finger! Wir verrecken hier inmitten von Märkteburg und es kümmert sie nicht im Geringsten. Sie schicken sogar die Grüne Schar, um uns klein zu halten, aber was haben wir schon noch zu verlieren? Was können sie uns noch nehmen, das wir nicht längst schon verloren haben?“
Die Menge schwieg betreten.
Sicher waren die meisten hier dem Tode geweiht, aber jeder Tag, den es zu leben galt, war ein Geschenk des Namenlosen und das warf man nicht einfach so davon.
„Vielleicht haben wir nichts mehr zu verlieren, Emil, aber es gibt hier auch nichts für uns zu gewinnen.“
Der Bettler sprach aus, was sie alle dachten und alle Anwesenden warteten gespannt auf Emils Reaktion, doch der Metzgerssohn schwieg erst einmal und blickte in die Runde.
„Nein, für uns selbst gibt es nichts mehr zu gewinnen, aber wir können für die, die wir lieben etwas erreichen. Für unsere Frauen unsere Brüder unsere Eltern und unsere Kinder müssen wir etwas tun.“
„Und was sollen wir denn schon tun, Bürschchen?“
„Wir setzen ein Zeichen. Wir zeigen Märkteburg, dass wir nicht leise sterben werden. Jemand wird unseren Hilferuf hören und dieses Viertel retten. Es muss einfach so sein.“
Einige nickten zögerlich, andere blickten ihn nur skeptisch an, doch als Emil von seinem Podest hinunter stieg und die Lagerhalle verließ, schlossen sich ihm alle anderen auf seinem Weg Richtung Sternbrücke an.


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Worterklärungen:

Ko. – „Helft mir.“
Vypos tes ka? Óhkun Vypos! – „Ist das nicht Vypos? Der Oberste Pestbringer Vypos!“
Kirgut jo Urguk. – „Bringen wir ihn zu Urguk.“
 
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Kommentare  

dieser fluss muss ja fürchterlich kalt und dunkel gewesen sein, ich habe richtig mitgebibbert. ;) und spannend ist es! bin nämlich gespannt, ob das aufgebrachte volk ahrok vielleicht helfen kann und wird.

Ingrid Alias I (07.11.2010)

Hallo ihr zwei.

Danke für die netten Kommentare.
Ja die Flucht vom Friedhof, die in der Urspungsfassung nur ein paar Zeilen ausgemacht hat, weitet sich nun auf mehrere Kapitel aus. Das gibt mir die Gelegenheit nicht nur Ahrok und Ragnar, sondern auch andere Charaktere etwas näher zu beleuchten, die sonst viel zu kurz kamen und deren Handlungen man deshalb vielleicht nicht nachvollziehen konnte.

Vielen Dank fürs Lesen


Jingizu (07.11.2010)

Oh, puh, diesem Urguk möchte ich nicht im Dunkeln begegnen. Aber auch die Stadtwache hat nur wenig Nettes an sich. Zum Glück gibt es ja noch die Rebellen. Das war wieder ein völlig neues Kapitel für mich, das du aber wieder super hingekriegt hast.

Petra (06.11.2010)

Nicht nur die Stadtwache befindet sich in der Nähe der Sternbrücke, auch die rebellischen Städter nähern sich ihr. Da kann man nur hoffen, dass es nicht allzu schwarz für Ahrok und Ragnar aussehen wird. Sehr schön authentisch und spannend geschrieben.

Jochen (05.11.2010)

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