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Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit (Teil5)

Romane/Serien · Aktuelles und Alltägliches
Schaurige Nebelschwaden wälzten sich unbarmherzig durch die unwirklichen Häuserschluchten dieser Stadt. Es herrschte eine gespenstische Stimmung wie in einem dieser gruseligen Edgar Wallace-Filme.

Marios Herz schlug bedrohlich hart gegen die Rippen, als sein suchender Blick sich im Treppenhaus dieses weit geschwungenen Gemäuers verirrte. Schon wieder dieses gewohnte trügerische Zeichen? Dabei hatte er sich fest in sein Stammbuch geschrieben, diese peinigenden Ängste wenigstens an diesem Abend über Bord zu werfen.
Plötzlich hörte Mario Schritte.
Verstört drehte er sich um, und erschrickt sofort, als Anika ins Sichtfeld seiner schattigen Augen rückte.
Krampfhaft drückte er Anikas Hand und quetschte ein schüchternes „Guten Abend!” mühsam aus seinem Mund.
„Guten Abend!”, antwortete Anika lächelnd und fuhr zackig fort:
„Pünktlich wie die Maurer!”
„Das bin ich immer.”
Mario setzte ein gequältes Lächeln auf, als sein hochrot gefärbter Kopf sich in unregelmäßigem Takt hob und sank. Unüberwindlich scheinende Schranken, die sich vor seinen geistigen Augen aufgebaut hatten, machten ein selbstsicheres Auftreten ihr gegenüber derzeit (noch?) nicht möglich.

„Bin ich meistens auch. Auf den letzten Drücker zu kommen, ist nicht meine Welt”, fuhr die Frau, die mit einem breiten Lächeln im Gesicht versuchte, ihm seine tiefsten Geheimnisse zu entlocken.
Anika musterte den jungen Mann gründlich. Aber ihr deutlich auszumachender Röntgenblick, der sich in erstaunlicher Weise in ihr Lächeln mischte, machte ihn leider noch einen Tick nervöser.
Frau Roßmann dürfte das nicht entgangen sein.
„ Sie gestatten, ich würde gern mal ihren Namen erfahren.
„ Ich bin der Mario”, outete er sich überraschend selbstbewusst. Seine Aufregung hatte sich merklich gelegt.
„Mario, was für ein schöner Name! Jedes mal wenn ich den Namen Mario höre, muss ich an einen meiner Lieblingsschauspieler – den großen, den unvergesslichen Mario Adorf – denken.
„Habe schon mal von ihm gehört, mehr aber auch nicht”, sagte Mario kurzentschlossen und fuhr entschlossen fort:
„Ich heiße leider nur Mario Großmann”, gab er ihr in einem Unterton zu verstehen, der erneut wehmütige Züge erkennen ließ.
„Großmann und Roßmann – das passt doch wie die Faust aufs Auge”, konterte Anika, die ein durchdringendes Lächeln aufgesetzt hatte. Der Junge erstarrte vor Ehrfurcht.
Die Haustür öffnete sich um einen breiten Spalt. Ein kaum zu verstehendes Stimmengewirr verfing sich in diesem, mit weiten Bögen geschwungenen, Gewölbe, welches mit zahlreichen, mit kunstvollen Gebilden kreierte Säulen, einen Augenschmaus bildete. Für Frau Roßmann waren es gewohnte, vertraute Stimmen, die sie zu Gehör bekam. Die Blicke der beiden trennten sich wie von selbst.
Anika läutete das längst zur Gewohnheit gewordene Begrüßungsritual ein. Sie umarmte die vier Frauen, deren Alter sich bereits jenseits der Sechzig bewegen könnte.
Dann sagte sie spontan zu den Frauen:
„Das ist Mario – unser neuer Gast.”
„Prima, dass sie den Weg zu uns gefunden haben. Schon seit 'ner Ewigkeit suchen wir neue Mitstreiter. Übrigens: Ich bin die Siglinde.”
„Ich die Karin”... „Und ich die Barbara”. „Angela. Sehr angenehm, Sie kennenzulernen”, grüßte die vierte im Bunde den unbekannten Gast außerordentlich herzlich, obwohl auch ihr nicht entgangen sein dürfte, dass Mario einen äußerst unsicheren Eindruck machte.
Schon bei der Begrüßung der Alteingesessenen mit den üblichen Händedrücken pumpte das Herz des jungen Gastes so viel Blut in dessen Adern, dass nicht nur seine Hände sich ermächtigt sahen, mit peinlichen Zittereinlagen die Aufmerksamkeit ahnungsloser Besucher auf sich zu lenken. Sein ganzer Leib glich nur noch einem einzigen Vibrator, der unbeirrt sein schändliches Werk fortsetzte.

Barbara führte den großen Schlüssel ins Schloss dieser strammen Eichenholztür, die sich unmittelbar nach einem lauten Knacken öffnete. Erwartungsfroh kippte ihr strammer Daumen den Schalter, der die Räumlichkeit mit angenehm-hellem Licht beflutete.
Der Lesesaal ließ hinsichtlich der Ausstattung keinerlei Wünsche offen.
Sämtliche Stühle und Tische waren so aneinandergereiht, dass sie ein geschmackvolles Oval bildeten. Die in warmem weiß getünchten Wände schmückten heimatliche Bildnisse - echte Kunstwerke in Gestalt von Zeichnungen, von Aquarellen, von Scherenschnitten, von Seidenmalereien, die allesamt dem schier unerschöpflichen Reservoir der Autoren dieses Vereins entsprungen waren.
Beide steuerten die schmucklosen Kleidungsständer an, die, am rechten Ende des Raumes, stumm auf dem mit hellblauem Marmor geflammten Fußboden harrten.
„Einen kleinen Moment bitte! Ich helfe Ihnen gleich aus dem Mantel!”, bat Mario ein wenig um Geduld.
Anika erschrak kurz. Sichtlich verkrampft und nur nach mehrmaligem Nachhelfen, gelingt es der hyperängstlichen Natur, den trendigen marineblauen Mantel aus deren dünnen Armen zu schälen.
„Sehr nett von ihnen. Sie sind ein echter Kavalier”, lobte die hübsch lächelnde Künstlerin den Jungen – obwohl er nicht gerade eine gute Figur gemacht hatte - in höchsten Tönen.
Mario fand schnell eine Antwort. Kurz, trocken und schmerzlos, gab er ihr freundlich zu verstehen.
„Ist doch keine Ursache.”
Instinktiv strebte er auf einen der Stühle zu, die nicht weit von den Garderobeständern entfernt standen. Doch plötzlich klopfte ihm Anika sanft auf sein rechtes Schulterblatt. Ein leichter Schreck durchzuckte Mario.
„Zuerst müssen Sie sich aber noch in die Gästeliste einschreiben und den Gästen mitteilen, was Sie vortragen möchten, stellte Anika unmissverständlich klar, und verwies mit ihren langen, aber äußerst akkurat geschnittenen, in grellem Rosa manikürten Fingernägeln, auf die unteren Spalten der Tabelle. Leicht zitternd kritzelte er den Titel „November” in die Spalte Gedichte, und im Anschluss daran seinen Namen, in die Spalte gleich nebenan.
Anika und Mario sanken in jene harten Stühle, die nur unweit von der Teilnehmerliste entfernt, noch auf Mitglieder und Gäste warteten..
„Gern würde ich Ihnen mal mein Gedicht zeigen”, wünschte sich Mario sehnlichst, worauf sie freundlich lächelte.
Die Frau schob behutsam ihre in raffiniertem Design gestylte trapezförmige Brille über ihre hauchzarten Ohrläppchen und legte ihre Stirn in leichte Denkfalten, die mit jeder Zeile, die sie aufschnappte, noch schärfere Konturen zeichnete. Ihrem „Zögling” war es nicht entgangen. Sein zartbesaitetes Herz lief Gefahr, in irgendeinem x-beliebigen Moment, wie weiches Porzellan zu zerspringen. Ergriffen von unsäglichem Lampenfieber, blitzte ein gefährliches Flackern auf, was auch darauf zurückzuführen sein könnte, dass sich Anika beim Lesen mächtig viel Zeit nahm.
Aber dann...?
„Ist doch ganz toll. Damit brauchst du dich nicht verstecken.”
„Ich hoffe, dass es auch wirklich so ist, wisperte Mario, der die Zweifel nicht aus seinem Kopf kriegen konnte.
Der liebliche Worte, die ihrem Herzen entsprangen, ließen die Frequenz seines Pulses ein wenig langsamer werden. Doch leider nur für ein paar mickrige Sekunden.
Dann stresste er wieder seinen Allerwertesten, indem er unruhig auf dem Stuhl sich bewegte

Endlich war es soweit. Herr Stegmann, ein älterer Herr mit rundlichem Gesicht, auf dessen Platte sich nur noch wenige grau melierte Haare verirrten, begrüßte alle Mitglieder des Autorenvereins, aber auch Mario, als einzig neuem Gast, der an diesem Abend den Weg, in den Kreis dieser arrivierten Damen und Herren, gefunden hatte.
Doch bereits die ersten Gedichte schienen, den von unbeschreiblichem Lampenfieber Gezeichneten, erst recht dazu bewogen zu haben, den Glauben an sich selbst erneut einzubüßen. Gedanken an seinen letzten Zirkusbesuch lebten erneut auf. Die Protagonisten erwiesen sich allesamt als Meister ihres Faches. Sie verstanden es mit Worten wie mit Bällen oder auch mit Tellern zu jonglieren. Auch die gestandenen Autoren dieses Vereines konnten sich glücklich schätzen, mit jenen Genen ausgestattet zu sein, die die Fähigkeit mit Worten wie mit Tellern zu jonglieren, erst möglich machte.
Leider bewahrte diese in die Wiege gelegten Gaben, die Autoren nicht vor dem kein Erbarmen kennenden Fehlerteufel. Die strengen Statements lieferten den eindeutigen Beweis. Der Leiter und andere Mitglieder des Vereins waren ständig mit Kugelschreiber bewaffnet, um von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, nahezu jedes Wort - selbst jede noch so scheinbare Kleinigkeit – auf die Goldwaage zu legen. Auch eine Frau im etwas reiferen Alter – eine Frau,die als gestandene Autorin bereits mehrere Bücher herausgebracht hatte - musste mit ihrem Gedicht „Nebulös” harsche Kritik über sich ergehen lassen.
Dennoch ertrug sie ihr Missgeschick mit Fassung. Selbst erfahrene Autoren müssen mitunter noch Lehrgeld zahlen. Ein Schriftsteller lernt faktisch nie aus.
Von nun an glaubte Mario, den falschen Ort für seine erste Lesung gewählt zu haben..
In diesem Augenblick ließ Anika ihre Hand auf seiner nieder . Mario zuckte kurz zusammen, spürte für einen blitzkleinen Moment die wohlige Wärme, die bis unter die Haut sickerte..
„Bleiben Sie ruhig. Sie schaffen das schon”, flüsterte sie ihm zärtlich ans Ohr. Sein Blick wandte sich rührend ihr zu. Passende Worte vermochte er nicht in den Mund zu nehmen. Dafür schlug sein Herz noch wilder gegen seine enge Brust.
Doch plötzlich rüttelte der Aufruf – „zum Ausklang unseres heutigen Abends bitte ich unseren neuen Gast, Herrn Großmann, sein Gedicht November vorzustellen”.

Ein kurzes tiefes Durchatmen, dann hieß es Augen auf und durch.
Fließend, ohne ins Stocken geraten zu müssen, brachte er seinen ersten Auftritt mit Bravour über die Bühne.
Endlich war es ihm nach endlos langer Zeit gelungen, über seinen eigenen Schatten zu springen.
Doch wie würde das Feedback ausfallen? Marios sorgenvoller Blick wanderte durch die Runde. Betretenes Schweigen herrschte. Dem vermeintlichen Autor übermannte das Gefühl, ein breites Missfallen hätte auf einen Schlag alle Zuhörer in kollektive Schockstarre versetzt. Mario suchte vergebens noch einem Lächeln, um wenigstens ein bisschen Gelassenheit vorzutäuschen. Vor lauter Aufregung hatte er nicht mal wahrgenommen, dass Anika ihm den ermutigenden Satz: „Hast dich prächtig geschlagen”, zugeflüstert, und ihm dabei sogar noch einen leichten aufmunternden Klaps auf seine linke Schulter gegeben hatte.
Marios Befürchtungen waren nicht ohne Grund. Auf eine Wortmeldung folgte die andere.
Aussagen wie „ zu abgedroschen, zu banal, brotlose Kunst, zu kraftlose Worte”, musste er über sich ergießen lassen – einen Erguss, den er, wie einen prasselnden Hagelschauer, empfunden hatte.
„An ihrem Ausdruck müssen Sie unbedingt noch feilen. Wir legen nämlich großen Wert auf Qualität”, machte ihm Gisela, eine erfahrene Autorin im mittleren Alter, die sich bereits aus ihrem Stuhl gehoben hatte, in aller Deutlichkeit klar.
Für Mario ein herber Schlag ins Gesicht, ein Schlag, dessen Härte ihn zum Schweigen gebracht hatte. Dabei hatte er sich doch vor kurzem erst eingeschworen, nie wieder mit aufgesetzten Scheuklappen durch die Gegend zu laufen.

Mit endlosen Schuldgefühlen im Gepäck, rückte plötzlich Anika, die sich bereits davongeschlichen hatte, die sogar schon in ihre Jacke geschlüpft war, in das Sichtfeld seiner dunkelbeschatteten Augen. In dieser Sekunde durchzuckte plötzlich ein greller Gedankenblitz seinen Kopf. Mario hatte beim Schmökern ihres Buches mitbekommen, dass sie, wegen ihrer angehäuften Schulden, ihr Auto verkaufen musste.
„Da könnte ich Anika doch mal fragen, ob ich sie nach Hause fahren könnte”, leuchtete es in ihm auf.
Mit dem Mute der Verzweiflung schritt Mario, der am liebsten Gott und die ganze Welt verfluchen könnte, zur Tat.!
„Wenn es ihnen angenehm wäre...”
Wieder ein Mal waren Mario die Worte ausgegangen. Anika spürte das sofort und sprang ihm helfend in die Presche.
„Was wäre ihnen sehr angenehm?”, fragte die sichtlich überraschte Frau mit einem angenehmen Lächeln.
„In welcher Straße wohnen Sie? Vielleicht ist es nicht weit von meinem Nachhauseweg entfernt. Da könnte ich Sie eventuell mitnehmen.”
„Meine Wohnung in der Melanchthonstraße ist nur einen Katzensprung entfernt, etwa zwei Kilometer. Vielen Dank für ihr nettes Angebot. Gern geschehen. Ihre Stimme klang hell und freundlich, was sich flugs auf Marios Augen übertrug, in die sich ungewöhnliche Lachpünktchen gesellten. Anikas Lachfältchen, umschmeichelt von teichtiefen Grübchen, die ihre Wangen merklich umschmeichelten, die ihr winziges Muttermahl in der unteren Gesichtshälfte verflüchtigten, schien Mario neuen Mut eingehaucht zu haben – und das nach dieser herben Enttäuschung!
War dieses peinliche Missgeschick jetzt schon aus seinem Gedächtnis getürmt?

Galant schob er ihr die schmucke lederne Handtasche von ihren Schultern und öffnete ihr die Beifahrertür, die beim Öffnen ein wenig störend knarrte und quietschte. Gut gelaunt schwang sie sich in den flauschigen Sitz.
Als er sich ans Steuer sank, begann sein Herz willkürlich den Takt ans obere Limit zu treiben.
„Was soll ich ihr nur sagen?”, fragte Mario sich mit sorgenvoller Miene.
„Wie muss ich denn fahren? ”, entschlüpfte es zitternd seinem völlig trockenen Mund.
„Sie biegen hier nach rechts ab, fahren dann die nächsten zwei Ampeln geradeaus, biegen die nächste Kreuzung nach links ab, und zum Abschluss machen Sie wieder einen Schwenk nach links”, erklärte sie ihm mit angehobener Stimme und warf ihm – zu seinem Staunen - ein aufrichtiges, ein anmutiges Lächeln, ein Lächeln, was man fast schon als durchdringend bezeichnen könnte, in sein sich merklich aufhellendes Gesicht.
Ängstlich fingerte er den Fahrzeugschlüssel aus seiner Hosentasche und schob diesen gefühlvoll in das leise knackende Schloss.

„Ich fand, Sie haben ihre Sache ganz gut gemacht. Die Kritik fand ich völlig überzogen”, tröstete sie ihn mit samtig warmer Stimme, als er den Schlüssel vorschriftsmäßig drehte, um den Motor in Gang zu bringen.
Als Mario die ersten Meter zurückgelegt hatte, fuhr Anika im Brustton der Überzeugung fort:
„Ich finde, diese Auswertungen fallen meistens viel zu streng aus. Jedes Wort drehen die einem im Mund um.”
Er blieb ihr einer Antwort schuldig, da er sich auf die Fahrstrecke, die er nicht kannte, konzentrieren musste.
Mario hielt an der ersten roten Ampel an.
„An der nächsten Ampel noch einmal geradeaus und dann nach rechts”, fragte der Junge, der wiedermal mit seinem Erinnerungsvermögen haderte.
„Irrtum, nicht rechts sondern links”, korrigierte Anika mit hauchzarter Stimme, die Marios Herz noch einen Tick höher schlagen ließ.
Der verlegene junge Herr hielt an besagter Kreuzung, um den Gegenverkehr an sich vorüberziehen zu lassen.
„Und an der nächsten Kreuzung biegen Sie erneut links ab.”
„Geht in Ordnung”, bestätigte Mario, dessen helle Aufregung in jenem Augenblick, in dem er in einem steilen Bogen nach links abbog, kaum noch zu toppen war.
Jetzt hieß es, in diesen entscheidenden Momenten ruhig Blut zu bewahren, was ihm leider nicht gelingen sollte. Aller Aufregung zum Trotze, allzu dumm stellte er sich wiederum auch nicht an.
Immerhin gelang es ihm in dieser für ihn chaotisch anmutenden Situation seine Gedanken und Gefühle in passende Worte zu fassen.
„Haben Sie vor, nächste Woche wieder in die Werkstatt zu gehen?” fragte Großmann – in dessen Stimme ein verwegenes Lächeln sich verbarg. Doch die Frau an seiner Seite antwortete nicht, zumindest nicht auf diese Frage. Stattdessen musste er sich mit anderen Worten zufriedengeben.
„Ich hatte ihnen doch gesagt, dass Sie zweimal hintereinander nach links abbiegen sollen!”
Anika war zwar ein wenig lauter geworden, aber keineswegs unfreundlich. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, ein Lächeln was Mario in der Dunkelheit nicht bemerkte, zumal er auch noch kurz erschrak. Natürlich konnte sich Anika - die natürlich nicht auf den Kopf gefallen war – denken, weshalb ihm die Aufmerksamkeit merklich abhanden gekommen war.
An den harschen Kritiken, die auf ihn niederprasselt waren, da er es nicht vermocht hatte, mit seiner Art der Interpretation, die Herzen der Zuhörer in seinen Bann zu ziehen, konnte es gewiss nicht gelegen haben..

„Entschulden Sie bitte! Ich habe es schlichtweg versäumt.”
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Das kann doch jedem mal passieren.”
Ein herzerfrischendes Lächeln lag in Frau Roßmanns zärtlicher Stimme.
Kein Wunder. Marios Gedanken lagen nicht bei dem Verkehr auf der Straße, der nun mal die volle Aufmerksamkeit abverlangte. Anika konnte es sich denken – verlor aber kein Wort. Ihr Lächeln war eine deutliche Sprache. Der prickelnde Charme dieser Frau hatte Marios Botenstoffe mächtig durcheinandergewirbelt.
Wurde auch allerhöchste Zeit!!!
An der nächsten Einmündung wendete er vorschriftsmäßig und bog anschließend rechts in die Melanchthonstraße ein.
„Hier ist mein Zuhause“, sagte Anika.
Mario hielt an einem heruntergewirtschafteten Mehrfamilienhaus, an dem schon mächtig der Zahn der Zeit genagt hatte, an.
„Ich komme nächste Woche”, signalisierte sie freudvoll lächelnd. Mario glaubte, er würde träumen. Anika hatte ihm ein Zeichen gesetzt, ein Zeichen, auf das Mario zwar sehnsüchtig gehofft, aber das er nicht unbedingt von ihr erwartet hatte.
„Das finde ich toll”, entschlüpfte es ihm trocken. Er war (noch?) nicht imstande, die in seinem Inneren schlummernde Euphorie ihr offen zu zeigen, was sein Herz nicht daran hinderte, derart geile Purzelbäume zu schlagen, die natürlich Appetit auf mehr machten.
Der habituelle Unglücksrabe konnte sein unvorhersehbares Glück kaum fassen, zumal sie ihm sogar noch zwei Abschiedsküsschen auf seine feuerrote Wange hauchte. Das Erste war nur hauchzart, das zweite schon eine kleine Nuance fester und prickelnder. Wie gern hätte auch Mario der selbstsicheren Frau wenigstens ein hauchzartes Küsschen geschenkt, doch dazu fehlte dem Schüchternen leider noch der Mut. Im Inneren dieses „Engelchens”schlummerte freilich nicht nur der Gedanke von diesem einen hauchzarten Küsschen. Vielmehr sehnte er sich, in heißesten Küssen ineinander zu verschmelzen, beseelt von der innigen Hoffnung, den lauten Schlag ihres Herzens zu hören, und die wohlige Wärme ihrer nackten Haut auf seinem Körper zu spüren.
Doch immer schön der Reihe nach...
So blieb es eben erst mal bei diesem einen warmen Händedruck, der aber auch schon genügte, um das Blut in seinen Adern noch stärker in Wallung zu bringen.

In den darauffolgenden Tagen drehte sich in seinem Kopf alles nur noch um seinen Sonnenschein, um diese geheimnisvolle Frau, in die sich Mario Hals über Kopf verliebt hatte, die nicht nur in jeder Stunde, sondern in jeder Minute, möglicherweise sogar in jeder Sekunde, die Drähte in seinem Kopf „verurteilte”, ständig glühen zu müssen.
So war es dem Mauerblümchen von einst wenigstens gelungen, diese grausige Finsternis, die ihm in der Vergangenheit so manche schlaflose Nacht bescherte, aus seinem Kopf zu jagen.
In Gedanken schwelgend, sah er schon Anika in seinen Armen. Da entsprang plötzlich eine Idee seinem Gedächtnis. Entschlossen sank er in den Stuhl, öffnete seinen Laptop, warf diesen an, um eine Mail zu schreiben. Ihre E-Mail-Adresse entnahm er von ihrer Visitenkarte, die sie ihm nach ihrer Lesung mitgegeben hatte.

„Liebe Anika,
Deine Wärme, deine Freundlichkeit, deine Herzlichkeit, aber auch deine Art mir Mut zu machen, hat mich unendlich fasziniert. Du kannst es dir bis Dienstag mal überlegen. Wie wär's, wenn wir mal gemeinsam zum Italiener gehen würden. Da könnten wir in aller Ruhe mal über alles Mögliche plaudern.
Also dann:
Tschüss, bis Dienstag
Liebe Grüße
Mario”

Am Vorabend der anstehenden Literaturwerkstatt nahm Großmann bitter zur Kenntnis, dass Anika auf seine Mail immer noch nicht geantwortet hatte.
Als Mario diese Mail geschrieben hatte, strotzte er nur so vor Optimismus.
Und nun?
Zwar war seine neu hinzugewonnene Zuversicht noch nicht völlig auf Grundeis geraten, jedoch gewannen seine habituellen Zweifel leider neue Nahrung.
Mit sichtlichem Unbehagen sah Großmann diesem Treff in der Werkstatt entgegen.

Eine Hand voll Autoren hatten sich viertel nach sechs bereits im großen Lesesaal eingefunden. Mario begrüßte sie alle mit einem flauen Gefühl in der Magengegend und diesem schüchternen Händedruck, der nicht viel Gutes erahnen ließ. Die Schreiberlinge zeigten sich aber - Großmanns Missgeschick und des trüben Novemberwetters zum Trotze - von ihrer freundlichsten Seite.
Nachdem er sich in die Anwesenheitsliste eingeschrieben hatte, rutschte er in fataler Unruhe auf seinem Stuhl, der an der Breitseite des Saales wartete.
Dabei war seinen ängstlich flackernden Augen entgangen, dass Anika sich nahezu unbemerkt in die Werkstatt geschlichen hatte.
Zuerst begrüßte sie die anderen fünf Autoren. Einen Tick später bewegte sich federnden Schrittes Marios Auserwählte auf Mario zu.
Als sie verdächtig kurz nur einen Handschlag zur Begrüßung andeutete, und gleichzeitig sagte:
„Sie brauchen mich heute nicht nach Hause fahren, da ich heute zu Fuß nach Hause gehen möchte.
Und außerdem komme ich von nächstem Dienstag an nicht mehr in die Werkstatt, da ich an diesem Tag meinen neuen Job beginne”, entschlüpfte es ihr mit eisiger Stimme.
Gnadenlose Härte sprühte in ihren Augen, die nicht nur schön, sondern auch immens schaurig aufblitzen konnten, wie es Mario in diesem Moment. hautnah zu spüren bekam. Tiefe Falten, die über ihren tollen, exzellent geschwungenen Bögen ihrer Augenbrauen sich positioniert hatten, entstellten ihr Gesicht. Ein Gesicht, was so plötzlich – wenn nicht gar von heute auf morgen - so kalte, so fremde, Züge angenommen hatte. Eine Woche zuvor glaubte er noch an ein kleines Wunder. Da hatte Mario nicht im Geringsten daran gedacht, dass ihr hübsches freundliches Lächeln womöglich nur gespielt sein könnte.
War das wirklich alles nur gespielt, oder steckte vielleicht gar noch viel mehr dahinter?
Was für eine Gratwanderung, auf der Mario wandelte, und das in dieser denkbar kurzen Zeit!

„Ich verstehe Sie voll und ganz”, druckste das weidliche Wesen wehleidig.
Zu weiteren Worten war er nicht mehr in der Lage. Wie so oft, haderte der ewige Pechvogel – wieder einmal - mit sich selbst und seinem Schicksal. Er hatte sich in dem makaberen Irrglauben förmlich verschanzt, dass die Schuld ausschließlich nur bei ihm selbst zu suchen sei. So wie er, denken leider nicht wenige – von heikler Angst gepeinigte Menschen, die sich mit der ihm auferlegten Rolle eines Prügelknaben, notgedrungen abgefunden haben.

Anika entschied sich, an der gegenüberliegenden Breitseite des Raumes sich niederzulassen.
Mario besaß nicht mal mehr den Mut, ihr in die Augen zu schauen. Und als seine Augen doch mal ihr Gesicht trafen, konterte sie mit einem finsteren Blick. Da wandte sich sein Gesicht ruckartig von dem ihren ab.

Von den spannenden Geschichten und den darauffolgenden Einschätzungen, bekam Mario fast gar nichts mit. Stattdessen war er leider – wie so oft – in seinen ewigen Grübeleien versunken.

Zum Ausklang dieses Abends besaß der von grenzenloser Demut Befallene, nicht mal mehr den Mut, sich von ihr zu verabschieden. Ein Faktum, das wohl jeder Mensch, der schon mal in so eine abstruse Situation geraten ist, nachvollziehen könnte.
Nur für einen winzigen Moment hatten sich seine Augen zu ihren verirrt. Dann sah er nur noch wie Anika im Schleier des tristen Novembernebels in die Unkenntlichkeit versank.



(Fortsetzung Teil 6 folgt)
 
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Kommentare  

Hallo Gerald, Doska, Ingrid und Petra,
vielen Dank für die netten Kommis.
Der Teil dieser Geschichte war natürlich besonders dramatisch.
Allerdings muss ich konstatieren, dass mir diese strengen Auswertungen, die mir selbst widerfahren waren, sehr viel gegeben haben. Nur durch Strenge ist man imstande sehr viel dazu zu lernen, weil man da befähigt wird, sehr selbstkritisch an sich selbst zu arbeiten.
LG. Michael


Michael Brushwood (23.07.2011)

Mario ist sehr zu verstehen. Erst macht ihm Anika Hoffnungen und dann plötzlich wirkt sie kühl und abweisend. Aber vielleicht hatte er sich ja auch von Anfang an in ihr geirrt und sie war nur freundlich zu ihm gewesen. Jedenfalls bin ich, genau wie alle anderen, gespannt, was nun wirklich mit ihr gewesen ist.

Gerald W. (22.07.2011)

Dieser Lesekreis hat ja einen sehr schönen Saal gemietet. Die Leute dort erscheinen mir ein wenig streng in ihrem Urteil. Da hat es Mario als Anfänger nicht gerade leicht. Anikas Verhalten verstehe ich nicht ganz. Aber weshalb sie sich plötzlich so ganz anders gibt, wird vielleicht seine Gründe haben - oder auch nicht. Man mag gespannt sein, auf das was noch als nächstes kommt.

doska (22.07.2011)

sehr einfühlsam geschrieben, man kann seine gefühle total nachvollziehen.
aber was anika nun tut, das bleibt vorerst wohl im unklaren...


Ingrid Alias I (21.07.2011)

Oh, Gott, damit hatte ich nun nicht gerechnet. Was ist mit dieser Anika los? Schade, ich hätte es ihm von Herzen gegönnt. Wie immer, konnte ich mich sehr in Marios Seele hinein versetzen.

Petra (21.07.2011)

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