175


5 Seiten

Das Geheimnis der Schildkröte

Fantastisches · Kurzgeschichten
Leise, fast lautlos kroch sie durch das hohe grüne Gras. Die Sonne lachte ihr von einem klaren blauen Himmel entgegen und wärmte ihre alten Knochen.
Es war ihre letzte Reise. Eine sehr lange Reise war es gewesen. Und jetzt, am Abend ihres Lebens war sie froh endlich wieder zur Ruhe kommen zu dürfen. Sie hatte es fast geschafft auch wenn sie immer noch nicht wusste, wohin sie dieser Weg eigentlich führen würde.

Aber sie spürte es ganz genau mit jedem Faser ihres Körpers. Sie war fast angekommen und ihr Herz war beschwingt und der sonst so schwere Panzer auf einmal federleicht. Eine unsichtbare Last war von ihr abgefallen und sie genoss einfach den wunderschönen Tag ohne sich viel Gedanken über das Warum und Wieso zu machen.

So setzte sie ihren Weg fort und als es fast Abend wurde, die goldene Sonne stand schon tief am Himmel, hörte sie die Geräusche. Die Erde bebte leicht und sie vernahm das Trommeln von Füssen auf dem Wiesenboden. Sie blieb stehen, verharrte dort wo sie war und wartete ab. Zuerst entfernten sich die Geräusche wieder. Aber dann wurden sie wieder lauter und sie konnte auf einmal auch die Stimmen hören. Menschen. Dem Lachen und Toben nach zu urteilen waren es Kinder die hier spielten. Gut oder schlecht für sie? Das wusste man nie. Es gab solche und solche. Sie war bei Menschen groß geworden und kannte diese in- und auswendig. Sie hatte schon viele Kinder gesehen und einige ihr Leben lang begleitet.
Die trommelnden Füße kamen näher und näher. Also rein in den Panzer. Schotten zu und tot stellen.

Dann wurde es auf einmal wieder leise. Er war nur noch das Zirpen der Grashüpfer zu hören und das leichte Rascheln des Grases im Wind. Dann spürte sie die Hände. „Oh nein, bitte nicht“, dachte sie und die Angst kehrte in ihr altes Herz zurück. Sie spürte die Hände des Kindes und sah das Bild genau vor sich: Es war ein Junge, der sie hielt. Sie wusste es einfach. Er hatte sie vom Boden aufgehoben, hielt sie in beiden Händen und betrachtete sie staunend. Und sie wusste auch, was als nächstes kommen würde. Das Schütteln. Sie wartete.
Auf und ab wurde sie gehoben und von dem Buben betrachtet. In seinen Händen gedreht und dann ging es los. Zuerst ein langsames drehen. Noch zum aushalten und dann ging es hin- und her. Hin und her. Schwindel und Übelkeit stiegen in ihr auf. Sie wurde auf den Kopf gestellt. Kopf nach unten, Kopf nach oben und wieder geschüttelt. Als sie schon dachte, sie könne es nicht mehr länger aushalten und müsste ihr Versteck im Panzer doch aufgeben, erklang eine Stimme und alle Bewegungen hörten auf. „Junge, was hast du da gefunden?“ kam die Frage des Vaters.
„Eine tote, riesige Schildkröte, Papa.“, gab der Junge Antwort und gleich darauf: „Darf ich sie mit nach Hause holen?“

Und wieder sah sie das Bild vor ihren Augen: Der Vater, wie er seinen Sohn anschaute und wissend lächelte. „Zeig mal her deine Riesenschildkröte“, hörte sie ihn wieder und spürte wie die kleinen Finger gegen große raue Hände getauscht wurden. Wieder Bewegungen. Aber dieses mal langsam, fast zärtlich und dann ein Innehalten. Ein Geräusch, wie zischende Luft, als der Vater verblüfft sagte: „Aber das gibt es doch gar nicht. Das kann ich nicht glauben.“, und dann verwunderte Ruhe.
„Was gibt es nicht Papa. Was hast du denn?“
„Nein das kann nicht sein“, stammelte der Papa nur.
„Nun sag schon, was kann nicht sein“, drängelt der Junge.
„Ich wollte es dir schon immer mal erzählen, aber irgendwie bin ich nie dazu gekommen."
„Was, Papa was?“ fragte der Jung ihn nun immer ungeduldiger werdend.
„Okay, setzen wir uns hinten auf den Felsen und ich erzähl dir die Geschichte.“ Wieder langsame, vorsichtige Bewegungen und dann wieder Stille. „Ja, ja ist ja gut.“ Der Sohn hatte seinem Vater wohl ein wenig in die Seite gestoßen, damit dieser endlich mit seiner Geschichte rausrückte. Geschichten sind einfach toll, das Beste überhaupt.

„Also in unserer Familie gibt es so etwas, wie ein alte Sage oder Legende. Und diese Geschichte ist schon uralt. So alt, wie unser Grundstück hier, auf dem unsere Familie schon seit Generationen lebt. Dein Ur- Ur-Großvater hat sie einmal aufgeschrieben, aber sein Tagebuch ist im Krieg verloren gegangen. Und so hat mein Vater sie mir nur noch aus dem Gedächtnis erzählen können. Aber er hat mir geschworen, dass es die Wahrheit ist. Du kannst dich nicht mehr an deinen Opa erinnern. Du warst erst drei, als er gestorben ist. Er konnte die Geschichte seinem Enkel wohl nicht mehr erzählen. Vielleicht hat er es aber auch getan. Er hat oft abends an deinem Bett gesessen und Märchen erzählt. Aber ich glaube nicht, dass du dich daran noch erinnerst. Oder?“
„Nur an sein Gesicht, den grauen Bart und an diesen Geruch. Nach Tabak. Ich hab ja immer noch seine Pfeife in meinem Geheimversteck.“
„So du hast sie also.“
„Ja ich hab sie unten im Keller gefunden in seiner alten Werkstatt und hab sie mir geschnappt. Ist das schlimm?“
„Nein, ich hab sie nur auch schon gesucht. Manchmal vergisst man Sachen oder auch Gesichter und man sucht etwas, um seinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge zu helfen.“
„Vermisst du ihn?“ kommt die leise, einfühlsame Frage des Sohnes.
„Ja klar, jeden Tag. Es ist nicht leicht für uns, jemanden los zu lassen. Wir glauben immer, dass alles so bleibt wie es ist und dazu gehören auch die Menschen, die bei uns sind. Aber der Tod gehört halt zum Leben dazu und lässt keinen von uns aus. Aber ich glaube dafür bist du noch etwas zu jung. Du sollst noch deinen Spaß haben und ein Kind sein. Erwachsen wirst du viel zu schnell und von ganz alleine.

Also erzähle ich dir nun endlich diese Geschichte. Niemand weiß, wie alt sie ist und keiner kann sagen, wer sie als erstes erzählt hat, aber in unserer Familiengeschichte gibt eis ein kleines Geheimnis, das schon über Generationen hinweg weiter erzählt wird.
Vor über 200 Jahren, gab es einen Vorfahren von uns der Seemann war. Er kam in der ganzen Welt herum und das Meer war sein Leben. Sein ein und alles. Er hatte auch eine Frau und einen Sohn, der wohl in deinem Alter gewesen sein muss. Der Vater war halt selten zu Hause, immer auf See und weit weg von der Heimat. Sein Junge wurde krank. Sehr krank. Damals war die Medizin noch nicht so weit wie heute und Ärzte nicht an jeder Ecke zu finden. Und natürlich musste man einen Arzt auch bezahlen können. Tja, so reich war diese Familie aber nicht und dem Jungen konnte nicht geholfen werden. Eines Tages, als der Vater einen seiner wenigen Urlaube hatte und nach Hause kam, brachte er dem Jungen eine Schildkröte mit. Keine Ahnung woher. Von einer seiner langen Reisen, aus einer fernen Welt weit hinter dem Horizont. Der Junge, der fast nur noch in seinem Bett lag und kaum noch was essen oder trinken konnte, freute sich riesig über das Geschenk. Sein Vater baute ihm aus einer alten Holzkiste ein kleines Zuhause für die Schildkröte und der Junge hatte sie Tag ein Tag aus bei sich. Er erholte sich sogar von seiner Krankheit und mühte sich aus seinem Bett, um sich um das Tier zu kümmern, es zu füttern und zu beobachten. Aber bald darauf musste der Vater wieder auf Reisen. Das Meer rief ihn. Und der Junge konnte nicht von seinem Vater loslassen und vergaß sogar für ein paar Tage ihr neues Familienmitglied. Sie verbrachten die letzten Tage jede Minute lang zusammen. Vater und Sohn. Und doch kam unweigerlich der Zeitpunkt des Abschiedes. Der Sohn bettelte und weinte damit sein Vater bleiben möge. Aber es ging leider nicht. Doch der Vater versprach ihm, dass es seine letzte Reise sein solle. Die Bedingung dafür sei aber, dass sein Sohn ihm ein Versprechen geben müsse. Und der Legende nach, musste er seinem Vater versprechen sich um die Schildkröte zu kümmern und einfach am Leben zu bleiben, gegen die Krankheit anzukämpfen, bis er wieder zu Hause war. Denn er wollte seinen Sohn nicht verlieren und wollte, dass er noch lange, lange leben mochte. Er sollte zum Mann heranwachsen und das Leben genießen.
So fuhr der Vater wieder auf See und der Junge verkroch sich wieder in seinem Bett. Es vergingen ein paar Tage und als die Mutter schon dachte, er würde nicht mehr lange leben, fand sie ihn eines Morgens draußen im Garten auf der alten Steinbank. Dort saß er, in eine Decke eingehüllt und die Schildkröte auf seinem Schoß. Und als die Mutter ihn fragte, was er denn da tue, sagte er ihr nur, die Schildkröte wolle nicht länger in diesem schrecklichen Zimmer eingesperrt sein. Dort würde es nach Krankheit und Tod riechen. Also hätte er sie nach draußen gebracht und sich dazu entschlossen auf sie aufzupassen, wie er es Vater versprochen hatte. Zuerst wollte die Mutter ihn wieder in sein Zimmer bringen, aber sie brachte es nicht übers Herz. Die Tränen rannen ihr über die Wangen als zu ihrem Sohn sagte, dass sei eine kluge und richtige Entscheidung. So gingen die Tage und Wochen ins Land. Der Sohn erholte sich immer weiter und war den ganzen Tag draußen mit seiner Schildkröte. Seine Mutter hatte ihn doch dazu bewegen können, wenigstens nachts drinnen auf der Couch zu schlafen. In das alte Zimmer wollte er nicht mehr und ehrlich gesagt, sie auch nicht.
So vergingen die Monate und der Junge blühte auf und auf, wurde stärker und größer, fand wieder Freude am Leben und half seiner Mutter so gut es ging. Jeden Abend saßen die beiden zusammen auf der Couch und warteten auf die Rückkehr des Vaters.

Doch er kam nicht mehr. Er sah seinen Sohn nie wieder, sah nicht, wie er erwachsen wurde, Vater und Großvater wurde. Er wurde über achtzig Jahre alt, hatte acht Kinder und über zwanzig Enkel. Die Schildkröte blieb das ganze Leben bei ihm.“

„Wow, und das war ein Ur- Ur-Großvater von mir?“
„Ja der Legende nach ist das so.“
„Mm…, ist es auch die Wahrheit?“
„Ja die ist es.“
„Aber woher willst du das wissen Papa?“
„Nun der Legende nach, verschwand die Schildkröte am Tag des Todes dieses Jungen. Und der Legende nach heißt es, sie hätte magische Kräfte und dass sie irgendwann wieder nach Hause kommt diese Schildkröte, um hier ihre letzten Tage zu verbringen und zu sterben.“
„Und du glaubst, dass es diese Schildkröte ist?“
„Nun Schildkröten können mehrere hundert Jahre alt werden und ich weiß ganz sicher, dass sie es ist, wenn ich es auch nicht wirklich glauben kann.“

„Papa, ich bin schon fast zehn Jahre alt und glaube nicht mehr an den Weihnachtsmann.“
„So, du glaubst also nicht mehr an den Weihnachtsmann. Dann will ich das letzte Geheimnis dieser Legende lüften. Sie hatte zwei unverkennbare Merkmale diese Schildkröte. Als erstes hatte sie auf der Unterseite ihres Panzers zwei Einkerbungen, die aussahen wie ein Kreuz. Die habe ich schon gesehen und es könnte vielleicht auch noch ein Zufall sein. Und zweitens haben Schildkröten normalerweise Augen, wie Reptilien, etwa wie ein Krokodil. Diese aber hatte Augen, wie ein Mensch.“

Sie hatte sich während des Gespräches von Vater und Sohn wieder langsam aus ihrem Panzer gewagt und sah nun in zwei verdutzte und ungläubige Gesichter. Die Augen des Kindes strahlten sie an und die Augen des Vater waren so weit aufgerissen, dass man denken könnte, sie würden gleich herausfallen und nach einer Weile sagte der Vater nur: „Lasst uns alle nach Hause gehen.“
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Und noch mal danke an Marco für deinen Kommentar. Eine meiner ersten Geschichten hier und sie wurde immer länger und länger und ich hatte viel Arbeit damit sie zu kürzen und trotzdem nicht zu zerstückeln...

Daniel Freedom (21.01.2019)

Eine schöne fantastische Geschichte. Einfach gelungen.

Marco Polo (20.01.2019)

Klar will ich eure Meinungen wissen und bin auch mit jedem Kommentar froh.

Daniel Freedom (17.08.2011)

Wenn du meine Meinung wissen willst, so ist dieses Schütteln nicht das Wesentliche deiner Geschichte. Schöner romantischer Text, gefällt mir in seiner Eigenartigkeit.

Gerald W. (16.08.2011)

Hallo Dieter,

danke für den Kommentar und das Lob. Manchmal steht man ja ein wenig auf dem Schlauch so wie ich jetzt. Also meine Frage: Passt dieses "Schütteln! nicht zur Geschichte oder bleibt mein beim Lesen daran "Hängen"? Mir kam es eigentlich nicht so vor aber schreiben und lesen sind ja zwei paar Schuhe.


Daniel Freedom (15.08.2011)

Ich finde die Idee mit der Schildkröte sehr gut. Mal was ganz anderes. Und die Sache mit dem Schütteln ist nicht so entscheidend, nur eine Nebensächlichkeit. Außerdem erwähnst du ja, dass es gute und böse Menschen im Leben der alten Schildkröte gegegeben hatte. Schön geschrieben, also weiter so.

Dieter Halle (15.08.2011)

Hallo und danke für den Kommentar. Ja beim Schreiben kommen einem manchmal verrückte Einfälle aber du hast mich gerade auf ein paar Fehler aufmerksam gemacht, die ich noch schnell korrigieren werde!

Daniel Freedom (15.08.2011)

Eine schöne kleine Geschichte nicht nur für Kinder. Schade nur, dass die Schildkröte so leiden musste und niemand dem Jungen gesagt hatte, sie nicht zu schütteln.

Else08 (15.08.2011)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Findet mich!  
Desaster  
Träume  
Lea 5 - Abschied (2)  
Lea 5 - Abschied (1)  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
Andacht - Gott hat´s ihnen ins Herz gegeben ....  
Lea (4) Höllenhund  
Lea 5 - Abschied (2)  
Desaster  
Schatten (1 - 3)  
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De