352


9 Seiten

Ahrok - 52. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Zweiundfünfzigstes Kapitel: Geheimnisse

Vom Fenster seines Wachquartiers aus beobachtete Bernhard Schreiber die Straßen seiner Stadt. Er hatte seit Tagen nichts mehr von dem Attentäter gehört und auch sein heute erwarteter Besuch hatte sich mittlerweile um mehr als eine Stunde verspätet.
Selbst ein so großer Mann wie er konnte unmöglich unter solchen Umständen gute Arbeit leisten. Und all das geschah, während ihm die königliche Kommission im Nacken saß. Er wusste schon gar nicht mehr, wie es sich anfühlte nicht ständig beobachtet zu werden.
Erst hatten es die Hexenjäger auf ihn abgesehen und nun diese zwergischen Papierschubser.
Wann würde sein Leben nur endlich wieder normal verlaufen?
Er nippte an dem billigen Rotwein, auf welchen er nach der Streichung einiger Mittel umgestiegen war. Welch abartiger Witz war das nur? Man verdächtigte die Stadtwache, nicht gut genug zu arbeiten und im gleichen Atemzug kürzte man ihnen die Gelder. Verdammtes Bürokratenpack.
Es klopfte an der Tür und der unsympathische Sergeant Wagner steckte seinen roten Schopf durch den Türspalt.
„Was ist?“, Bernhards Stimme konnte selbst nach den vielen Wochen der Zusammenarbeit seine Abneigung nicht verbergen.
„Doktor Kruger ist wie angefordert hier, Herr Hauptmann.“
„Worauf warten Sie noch? Schicken Sie den Mann rein.“
Schon wieder ertappte sich Bernhard, wie er phantasierte, diesen Wagner auf dem Nachhauseweg aufzulauern und ihm die Dienstwaffe zwischen die Rippen zu stoßen.
Es klopfte erneut zögerlich, kurz bevor der stadtbekannte Medicus eintrat.
„Doktor Kruger. Kommen Sie doch bitte herein.“
Der alte Mann legte seinen Mantel ab und nickte ihm zu.
„Vielen Dank, Herr Hauptmann.“
„Ich habe Sie zu unserem letzten Termin am Midwoch vermisst, Doktor. Ich war hier, meine Probleme waren hier, nur Sie haben sich einfach nicht bequemt zu erscheinen.“
„Ich weiß und ich bitte Sie vielmals um Vergebung deswegen, werter Herr Hauptmann. Ein dringender Notfall hat mich in Anspruch genommen.“
„Sie haben wirklich jemand anderes mir vorgezogen?“, Bernhard starrte den alten Mann perplex an.
„Ein dringender Notfall in einer adligen Familie. Es ging um Leben und Tod. Ich musste helfen.“
„Kruger, Sie vergessen wohl, wem Sie hier Loyalität schulden?“, in Bernhards Stimme schwang mittlerweile echter Zorn mit.
„Natürlich nicht, Herr Hauptmann. Aber ich habe einen Eid geleistet.“
„Oh, der Eid, natürlich. Was ist los mit Ihnen, Kruger? Soll ich mir vielleicht die Anzeigen wegen der vermissten Kinder in den letzten Jahren einmal etwas genauer ansehen?“
„Ich dachte, wir sind längst über diese Drohungen hinweg, Herr Hauptmann.“
Doktor Kruger bewahrte sich eine eiskalte Fasson.
„Und ich dachte, dass Sie sich verdammt nochmal darum kümmern, dass es mir wieder besser geht!“
Der alte Mann schwieg.
„Fünfzig verschwundene Kinder in den letzten Zehn Jahren, Kruger. Für wie viele sind Sie davon verantwortlich? Dreißig? Fünfunddreißig?“
„Sie überschätzen mich, Herr Hauptmann. Es waren höchstens siebzehn.“
„Verdammt, Kruger, Sie wagen es auch noch mir dies offen ins Gesicht zu sagen.“
„Ich habe mich an unsere Abmachung gehalten. Keine Menschen direkt aus der Stadt und ansonsten nur Zwerge oder Elfen.“
Bernhard massierte seinen schmerzenden Kopf. Der alte Kinderschänder brachte ihn noch zur Verzweiflung.
„Widerspricht das nicht irgendwie ihrem Eid, Herr Doktor?“
„In meinem Eid geht es um kranke Leute, Herr Hauptmann, und darum, dass ich ihnen niemals schaden würde.“
„Ich verstehe. Sie vergreifen sich also nicht an kranken Kindern.“
„Was beabsichtigen Sie mit Ihren Sticheleien? Wir beide haben unsere dunklen Seiten. Sehen Sie mich etwa andauernd auf ihrem Schädelparasiten herumreiten?“
Bernhard winkte beschwichtigend ab.
„Schon gut, schon gut. Nehmen Sie Platz. Ich bin heute nur etwas gereizt.“
Er wanderte wieder zum Fenster und griff sich den Weinkelch.
„Erzählen Sie, Kruger. Haben Sie etwas herausgefunden?“
„Ja und nein. Die Quellen sind recht vage, was diese Angelegenheiten betrifft. Schließlich handelt es sich hierbei um streng verbotenes Wissen.“
„Was soll das denn nun schon wieder bedeuten? Haben Sie etwas oder nicht?“
„Nun, einige Texte berichten tatsächlich von einer erfolgreichen Operation am offenen Schädel und dass es dadurch möglich sein könnte, den Parasiten zu entfernen. Aber wie gesagt, die Beschreibungen sind eher dürftig und ich halte es ehrlich gesagt für Selbstmord, ein solches Wagnis einzugehen.“
„Also ist es möglich diesen Wurm zu entfernen?“
„Möglich ist es schon. Ja.“
„Na also, warum nicht gleich so! Jetzt ist meine Laune doch gleich viel besser.“
„Aber…“
„Ah! Lassen wir das mit den schlechten Neuigkeiten für ein andermal. Trinken Sie etwas mit mir.“
Der Doktor lächelte diplomatisch.
„Ohne Sie beleidigen zu wollen, Herr Hauptmann, aber wenn es dasselbe Spülwasser ist, das sie mir schon das letzte Mal angeboten haben, dann lehne ich dankend ab.“
„Verständlich, Kruger. Durchaus verständlich. Tja, dann sind wir wohl für heute fertig.“
„Nun, das ist erfreulich, denn dann kann ich mich wieder um meine Patienten kümmern.“
„Das müssen ja ungeheuer wichtige Leute sein, wenn sie zu so später Stunde noch Hausbesuche machen.“
„Nun, die von Lichtensteins sind alte Freunde.“
Bernhard, der gerade den letzten Rest des Kelches geleert hatte, verschluckte sich, als er den Namen hörte. Sein keuchender Husten trieb sogleich leichte Sorgenfalten auf das Gesicht des Medicus.
„Ist alles in Ordnung, Herr Hauptmann?“
„Wie war nochmal der Name?“, brachte Bernhard mühsam hervor. Ihm steckte noch immer etwas in der falschen Kehle.
„Von Lichtenstein. Kennen Sie die etwa?“
Er hustete noch ein paar Mal und schenkte sich dann selber noch etwas Wein nach.
„Ja, zumindest flüchtig. Es ist in diesem Fall jedoch rein professionelle Neugier. Wer aus der Familie ist denn krank. Es handelt sich doch hoffentlich nicht um eine neue Epidemie?“
„Selbst wenn es so wäre, dürfte ich es Ihnen nicht verraten, Herr Hauptmann. Sie wissen doch. Der Eid.“
„Ja… natürlich. Der Eid“, Bernhard wanderte ungeduldig im Zimmer auf und ab. Was wenn der berüchtigte Attentäter bereits zugeschlagen hatte, was wenn der Doktor die ganze Arbeit zunichtemachte.
„Es ist nur so, Herr Doktor, dass mir da gerade etwas einfällt.“
Der alte Doktor nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.
„Herr Hauptmann, es war ein langer und anstrengender Tag. Wenn Sie noch etwas zu sagen haben, dann tun Sie es doch bitte einfach. Ich bin zu alt für solche Versteckspiele.“
„Wie Sie meinen, Doktor. Ich werde Ihnen eine kleine Geschichte erzählen und am Ende werden Sie dann ja sehen, ob sie vielleicht nützliche Informationen für Sie erhielt.“
Bernhard musste sich ein Grinsen verkneifen, stattdessen klopfte er sich in Gedanken selbst auf die Schulter. Der Plan, der ihm soeben in den Sinn gekommen war, war brillant. Sein Geist arbeitete auf einem Niveau, dass jedem anderen Stadtwächter um Längen voraus war. Deshalb war er auch völlig zu Recht der Hauptmann.
„Sehen Sie, Kruger… es gibt da diese Elfenfamilie im Westbezirk. Vor etwa drei Monaten ist deren kleiner Sohn spurlos verschwunden…“
„Hauptmann Schreiber, wenn das…“
„Lassen Sie mich einfach nur die Geschichte erzählen. Also, die besagte Familie hatte nach diesem schrecklichen Zwischenfall jedoch das unverschämte Glück, die Seuche in diesem Viertel zu überleben. Was nun für den Entführer des Kindes von Bedeutung sein sollte ist, dass diese Elfen während des Chaos zu Zeiten der Seuche zu einigem Reichtum gekommen sind. Sicherlich nicht auf legalem Wege, aber wer will das heute noch alles nachweisen. Wir sind schließlich froh, dass dieses Kapitel abgehakt ist.“
„Eine schöne Geschichte. Kann ich jetzt gehen?“
„Gleich, gleich, der wichtige Teil kommt doch erst noch. Also diese neureichen Elfen heuern mit dem ganzen ergaunerten Gold ein paar Kerle an, die ihren Sohn entweder finden oder aber blutig rächen sollen.“
Plötzlich lauschte der Doktor seiner Lügengeschichte viel aufmerksamer.
„Und diese Leute… ich sag Ihnen, Kruger, das sind keine Gelegenheitsschläger aus der Gosse. Oh nein. Der Statthalter persönlich hält seine Hand über die beiden. Selbst wenn ich den widerlichen, alten Bastard, der sich an dem Jungen vergriffen hat, vor den Kerlen schützen wollte, so kann ich das nicht. Mir sind in dem Fall die Hände gebunden.“
„Und wo bleibt jetzt das ´aber´?“
„Aber! Ich habe eine Beschreibung der Kopfgeldjäger und ich weiß, dass sie von Zeit zu Zeit Geschäfte mit den von Lichtensteins nachgehen.“
„Wie sehen sie aus?“
„Es handelt sich hierbei um einen kräftigen, blonden Jungen und einen rothaarigen Zwerg mit ungewohnt kurzem Bart…“
„… der ein Mitglied eines Todeskultes ist“, setzte der Doktor den Satz nahezu apathisch fort.
Von dem Moment an wusste Bernhard, dass er richtig vermutet hatte. Der Attentäter war gescheitert und seine beiden Störenfriede befanden sich also derzeit in der Obhut des guten Doktors. Er war nicht einmal wütend über das erneute Scheitern seiner Pläne. Über dieses Stadium war er längst hinweg.
Pragmatisch betrachtet gab es dadurch in der Stadt einen Meuchelmörder weniger, was auch seine Vorteile hatte.
„Sie kennen sie also. Nun, dann ist Ihnen sicher auch der andere Name des Jungen bekannt. Man nennt ihn auch den ´Schlächter von Märkteburg´.“
„Das ist der…?“
„Oh ja. Ich hab ein paar seiner Opfer gesehen. Kein schöner Anblick, das kann ich Ihnen sagen. Aber nun erkennen Sie vielleicht den Wert der Geschichte, Doktor Kruger.“
„Aber… es sind meine Patienten… ich habe einen Eid geleistet.“
„Ich verstehe Sie gut. Sie müssen Ihr eigenes Leben gegen das Ihrer Patienten aufwiegen. Das kann keine leichte Entscheidung sein… Wie dem auch sei, meine Geschichte ist zu Ende. Das wär dann wohl Alles für heute.“
Der alte Mann saß wie versteinert auf seinem Stuhl und reagierte gar nicht.
„Doktor Kruger? Doktor Kruger!“
„Ja?“, es war als hätte Bernhard ihn soeben erst aus einem Traum geweckt.
„Unser Termin ist vorüber. Ich möchte Sie bitten, nun zu gehen.“
„Jawohl, ich gehe… ich gehe…“
Wie von einer schweren Last gebeugt schlurfte der gute Doktor aus seinem Wachquartier hinaus. Er würde schon das Richtige tun. Da war sich Bernhard ziemlich sicher.

Während der gesamten Fahrt zum Anwesen der von Lichtensteins hatte er über das Gespräch mit dem Hauptmann nachgedacht und was es für ihn bedeutete.
Dieser Schreiber war seinen unschönen Neigungen vor ein paar Monaten auf die Spur gekommen. Ein Armutszeugnis für die Stadtwache, wenn man in Betracht zog, wie lange er dieses Spiel bereits trieb. Noch erbärmlicher war, dass dieser Mann einen Handel mit ihm eingegangen war. Ein Mann ohne Prinzipien war es nicht Wert überhaupt „Mann“ genannt zu werden. Der Handel beinhaltete, dass der unwürdige Hauptmann ihn und seine Gelüste vor Nachforschungen beschützte, solange er sich um den dämonischen Parasiten in dessen Kopf kümmerte.
Für Vincent Kruger stellte diese Abmachung kein ethisches Problem dar. Es war ein Krankheitsfall wie jeder andere. Verderbtheit hin oder her. Er war schließlich kein Inquisitor.
Den Kranken zu helfen, das war seine Bestimmung und bis zu diesem Tag hatte das auch alles wunderbar funktioniert.
Doch jetzt stand er vor einem gewaltig großen Dilemma. Sein Eid kollidierte auf so grandiose Weise mit seinem eigenen Wohlbefinden, wie es sich nur eine launische Gottheit erdacht haben konnte. Wenn er die beiden rettete und es wirklich so herausragende Ermittler waren, wie der Hauptmann es angedeutet hatte, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihm auf die Schliche kamen.
Er war zu alt, um erneut deswegen umziehen zu müssen.
In den letzten zehn Jahren hatte er sich hier ein Leben und einen guten Ruf aufgebaut. Menschen jeder sozialen Schicht kannten ihn und vertrauten darauf, dass er im Notfall an ihrer Seite stand. Das alles ohne Widerstand hinter sich zu lassen, schien sehr unvernünftig.
Nur diese beiden waren ihm im Weg… nur zwei schwerstverletzte Männer, deren Leben ohnehin nur am seidenen Faden hing.
„Wir sind am Ziel“, meldete sich der Kutscher.
„Fahren Sie auf das Grundstück. Man erwartet mich bereits.“
Er hatte wirklich keine Lust bei diesem Wetter die ganzen achtzig Schritte von der Straße bis hin zum Haus zu laufen. Das war etwas für Pferde und junge Leute.
Ein kurzer Blick aus dem Seitenfenster verriet ihm, dass der Graf bereits auf seine Ankunft wartete. Was sollte er nur tun?
Die Kutsche beschrieb einen kleinen Bogen und die Pferde wurden langsamer. Jetzt kam der Moment der Wahrheit. Er griff nach seiner Tasche und öffnete die Tür.
„Willkommen, Doktor Kruger.“
Noch bevor er gänzlich aus dem Wagen geklettert war, hatte der Graf bereits den Fahrer bezahlt und streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen.
„Guten Abend, Herr Graf“, murmelte er noch immer nicht ganz bei der Sache.
„Wollen Sie gleich nach den beiden sehen oder erst mit uns zu Abend essen?“
Er antwortete nicht, sondern folgte nur stumm dem Grafen in das Anwesen.
„Ist etwas mit Ihnen, Doktor Kruger? Fühlen Sie sich nicht wohl?“
„Nein, das ist nichts. Hören Sie, Herr Graf, es gibt da etwas, dass ich mit Ihnen besprechen muss.“
Herbert von Lichtenstein hielt inne und drehte sich ihm zu.
„Ja?“
„Es ist so, in Tagen wie diesen quillt mein Terminplan förmlich über und ich hab mehr Arbeit vor der Tür, als ich bewältigen kann. Außerdem gibt es ein halbes Dutzend Männer und Frauen, die ihre beiden Schützlinge ebenso gut, wenn nicht sogar noch besser versorgen können als ich. Im Tempel des…“
„Unsinn, Vincent. Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Acht Jahre? Ich will dir sagen, dass es keinen Besseren gibt als dich und ich will den Besten, damit er sich um die zwei Helden dort drin kümmert, denn ich schulde es ihnen. Ich zahle dir das Doppelte, wenn es das ist, was du möchtest.“
„Nein, darum ging es mir nicht, es… ach, nicht so wichtig. Es war nur so ein Gedanke.“
„Geht es dir auch wirklich gut, Vincent?“
„Nein, nicht wirklich. Bring mich doch bitte zuerst zu meinen Patienten, damit ich mir ein Bild von ihrer Lage machen kann.“
Völlig in sich gekehrt begleitete er den Grafen durch das große Haus. In weit entfernten Zimmern sprachen Leute miteinander, aber er fühlte sich so von aller Welt verlassen und verloren, wie ein Gespenst, das durch leere Gänge wandelt.
Seine Augen wanderten über die von ihm so oft bewunderten, wunderhübsch gemaserten Paneele, ohne sie auch nur zu sehen. All die kostspielige Verzierung, all die Schönheit um ihn herum war ohne Belang für ihn. Der Weg bis hin zu dem Krankenzimmer schien immer enger zu werden, so als ob die Wände ihn Schritt für Schritt etwas mehr erdrücken wollten.
Kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus, als der Graf die Tür zum Quartier der Patienten öffnete.
Sein Atem beruhigte sich wieder etwas, als er die beiden in ihren Betten schlafend vorfand.
Die Nichte des Grafen saß am Bett des Jungen und seine hier postierte Assistentin schnellte sofort schuldbewusst von seinem Stuhl in die Höhe, als er das Zimmer betrat.
„Bericht?“
Die junge Frau räusperte sich kurz: „Keine Veränderungen seit gestern, Herr Doktor. Sie sind jedoch stabil und zeigen keine Zeichen eines Wundbrandes.“
Er näherte sich dem Bett des Jungen und schob dessen Augenlid nach oben. Die Pupille zeigte eine Reaktion auf das einfallende Licht der Öllampe. Er hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Diese beiden von der Schwelle des Todes zurück ins Leben zu reißen, war ein Meisterstück gewesen, wie es in seinem Beruf nur selten vorkam.
„Ich wusste doch, dass die Tränke meines Bruders helfen würden“, meldete sich der Graf selbstgefällig.
Er schenkte dem Mann einen flüchtigen, aber dafür umso geringschätzenderen Blick. Die Diskussion würde er nicht noch einmal führen. Nur weil der Junge auf die Behandlung angesprungen war, kurz nachdem diese Zaubertropfen seine schon nicht mehr funktionsfähige Kehle passiert hatten, hielt ihm der Graf jetzt beinahe täglich die Predigt von der Allmacht der Kräuterelixiere.
So etwas schmälerte seine Arbeit, es schmälerte die aufopfernden Stunden der sorgsamen Behandlung und es schmälerte die Tage der Pflege durch seine Helfer.
Drei Tage lang hatten sie mit Gevatter Tod getanzt und um das Leben der beiden gerungen. Es lag ganz sicher nicht an einer vergorenen Kräuterlösung, dass die beiden jetzt noch atmeten.
„Ja, wie auch immer“, dann wandte er sich an seine Assistentin, „Ich brauche dich hier nicht mehr, Franceska. Geh nach Hause und ruh dich aus. Wir haben morgen einige schwierige Amputationen vor uns.“
„Jawohl, Doktor Kruger. Herr Graf. Komtess“, sie verbeugte sich und verließ dann das Krankenzimmer.
Er musste eine Entscheidung treffen und dies war der Moment. Wenn die beiden erwachten, dann war es vielleicht schon zu spät.
„Wir befinden uns an einem weiteren, kritischen Punkt der Genesung. Die Möglichkeit einer Sepsis ist immer noch nicht auszuschließen und wenn sie nicht bald erwachen, dann sterben sie dennoch an Dehydration. Der schwere Blutverlust konnte bislang nicht ausgeglichen werden und solange sie im Koma liegen, fehlt ihnen der Schluckreflex. Daher gibt es keine Möglichkeit sie zu ernähren.“
„Also was können wir tun, Doktor?“
„Zuallererst müssen diese ständigen Besuche unterbleiben. Nur noch einer Person wird ab sofort Zugang zu diesen Gemächern gewährt. Machen Sie das unter sich aus, wen Sie dafür am geeignetsten halten. Diese hat dann dafür zu sorgen, dass Wasser oder kalter Tee jederzeit bereit stehen, sollten die Patienten erwachen. Sie wird die Patienten sowie die Wunden täglich mit frischem Wasser reinigen, wobei jeglicher Kontakt zu den beiden nur erlaubt ist, nachdem man die Hände in Chlorwasser gewaschen hat. Das sind alles keine schwierigen Aufgaben, aber sie müssen erledigt werden. Haben wir uns soweit verstanden?“, sein Blick hatte sich bei den letzten Worten auf die Nichte des Grafen gelegt.
„Aber…“
„Kein Aber, junges Fräulein. Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, doch wenn Ihnen das Wohl der Männer am Herzen liegt, dann sollten Sie auf mich hören und ihnen diese Ruhe gönnen.“
„Du hast den Doktor gehört, Ariane. Lass ihn sich ausruhen.“
Die Komtess beugte sich noch einmal über den Jungen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann stürmte sie besonders theatralisch an ihnen vorbei hinaus aus dem Zimmer, um darauf hinzuweisen, wie sehr ihr das alles missfiel. Er blickte ihr nach und musste schmunzeln. Das Mädel hatte wirklich Feuer. Wenn sie nur nicht schon so alt wäre...
Da war es schon wieder! Nicht einmal in seiner jetzigen Situation konnte er aufhören daran zu denken. Was tat er hier nur, was tat er hier nur?
„Danke für Ihre Hilfe, Doktor. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel es uns bedeutet, dass Sie hier sind. Würden Sie sich nun zu uns gesellen? Das Essen wird sicher gleich aufgetischt.“
„Ich muss leider ablehnen. Ich hab noch viel zu tun und mir geht es nicht so gut und… noch so einiges. Ich werde übermorgen wieder nach den Patienten sehen.“
Er ließ den verdutzten Grafen mitten im Raum stehen und machte sich auf den Heimweg. Er konnte nicht bleiben, er konnte nichts essen und er wollte mit niemandem reden. Diese zwei Männer bedeuteten noch sein Ende. So oder so.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Petra das ist ein gar wunderbares Kompliment, denn genau das ist es was jeden meiner Charaktere ausmachen soll.

Jingizu (13.03.2012)

Gefällt auch mir sehr, sehr gut, weil die persönlichen Gedankengänge, die man während der Unterredung zwischen Hauptmann Bernhard und Doktor Kruger verfolgen kann, den Leser schmunzeln lassen. Mag auch das Thema ein entsetzliches sein, was die beiden durchdiskutieren, man hat hier Menschen vor sich, keine Superverbrecher, die durch und durch böse sind. Genauso ist es ja auch bei deinen Helden, die zwar Superkräfte besitzen (woher werden wir ja vielleicht noch bei Ahrok erfahren) aber ansonsten total unperfekt sind. Dennoch verlieren deine Bösewichte nichts von ihrer Bedrohlichkeit. Hat mir sehr viel Spaß gemacht, dieses Kapitel.

Petra (12.03.2012)

Schön, dass euch die neue Version der Geschichte gefällt, auch wenn sie im moment sprachlich noch nicht so ganz ausgereift ist - mir gefällt sie nämlich auch besser als die alte.

Jingizu (12.03.2012)

sehr interessantes kapitel, tja, da kommen wirklich schreckliche geheimnisse an tageslicht. der arzt gefangen zwischen seinem trieb und seinem kodex, und der hauptmann weiß davon...
bin gespannt, ob ahrok und ragnar davonkommen. ;-)


Ingrid Alias I (11.03.2012)

Wieder ganz hervorragend geschrieben. Wir haben alle unsere Macken und die haben deine Fieslinge natürlich auch. Amüsant, obwohl es eigentlich um schreckliche Dinge geht. Und natürlich auch sehr spannend - wie immer!

Jochen (10.03.2012)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Ahrok 2. Band - 41. Kapitel  
Berserkor der übelst Schreckliche - 1. Kapitel  
Nikolas - Inhaltsangabe  
Chris - Inhaltsangabe  
Berserkor der übelst Schreckliche - Inhaltsangabe  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De