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9 Seiten

Ahrok - 54. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Vierundfünfzigstes Kapitel: Kein Ausweg

Als Ahrok am Abend desselben Tages aus seinem tiefen Schlaf erwachte, fühlte er sich so desorientiert, als hätte man ihn urplötzlich aus einer Welt herausgerissen und in eine andere geschleudert.
„Er hat die Augen geöffnet“, hörte er eine Stimme, die ihm bekannt vorkam.
Sein Blick suchte den Sprecher, aber außer der mit hellem Holz getäfelten Decke und der eigenen Nasenspitze konnte er nichts erkennen. Es fiel ihm so schwer, den Kopf auch nur zu drehen.
„Das hat er schon des Öfteren gemacht, ohne dabei aufzuwachen“, antwortete eine zweite Stimme. „Er ist wie ein Karnickel, das mit offenen Augen schlafen kann.“
Ein rundes, bärtiges Gesicht erschien plötzlich über ihm.
„Er kann mich sehen“, sagte wieder die erste Stimme, die zu dem Gesicht über ihm gehörte. Er kannte dieses Gesicht von irgendwo her, konnte es aber gerade nirgends zuordnen. Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit waren noch zu verschwommen in diesem Moment.
„Sollte er wirklich wach sein?“
Jetzt konnte er die zweite Stimme einordnen. Sie gehörte Ragnar.
„Was…?“, mehr brachten seine geschwächten Lippen nicht hervor, außerdem waren seine Gedanken gerade so langsam, dass er überhaupt nicht wusste, was er fragen wollte.
„Du hörst doch er will Wasser, Rosi. Gib ihm welches!“
Das behaarte Gesicht der Zwergin verschwand wieder und kurz darauf benetzte handwarmes Wasser seine Lippen. Vieles davon lief ihm seine Wangen hinab, doch ein paar Tropfen umspülten seine Zunge und wuschen diesen fauligen, abgestandenen Geschmack fort.
Er nickte der Zwergin dankbar zu.
Dann hörte er ein Ächzen und Stöhnen, Holz knirschte und dann plumpsten kurze Beine auf den Boden. Gleich darauf humpelte jemand ein paar Schritte und es entstand eine tiefe Kuhle auf Ahroks linker Bettseite, als sich jemand zu ihm setzte.
Der Anblick, der sich ihm bot war ungewöhnlich. Ein zur Hälfte abgeschnittener Bart prangte in einem Gesicht, das er gewaschen beinahe nicht wiedererkannt hatte. Selbst der dem Zwerg sonst so eigene, markante Geruch, von dem Ahrok immer angenommen hatte, das er typisch für Zwerge war, fehlte.
„Bist du also doch noch aufgewacht“, stellte Ragnar fest. „War mir nich mehr so sicher nach all der Zeit.“
Ahrok versuchte durch das Bewegen seiner Augenbrauen die Frage zu formulieren, die ihm auf den noch ungehorsamen Lippen brannte.
„´Ne gute Woche liegst du schon hier.“
Ahroks Augen wanderten wieder umher.
„Du wirst die kleine Gräfin hier nicht finden. Sie war schon seit Tagen nicht mehr hier.“
Die vor Erwartung fröhlichen Gesichtszüge fielen in sich zusammen.
„Ah, mach dir nichts draus. Sie hat eben Wichtigeres zu tun, als sich um zwei Gossenschläger zu kümmern, die ihr das Leben gerettet haben.“
„Ragnar, was erzählst…“
„Sch! Sei ruhig, Rosi. Du regst ihn nur noch weiter auf“, unterbrach der Valr die Magd.
Ariane scherte sich also nicht um ihn. Es hätte kaum eine schlimmere Nachricht für ihn geben können. Der kurze, innige Moment in ihrem Zimmer war also nichts weiter als eine diplomatische Lüge gewesen, damit er auch wirklich alles für sie tat. Sie hatte ihn dazu gebracht, sogar seinen eigenen Bruder zu bekämpfen. Hatten die von Lichtensteins etwa gewusst, dass Sebastian es auf sie abgesehen hatte? Diese verdammten Schweine.
Sein Herzschlag wurde so schnell, dass ihm das Blut in den Ohren dröhnte und ihm übel wurde.
„Sebastian…?“, brachte er heraus.
„Was?“, war die verdutzte Antwort.
„Sebastian…“, wiederholte er.
„Also ich kenn keinen Sebastian? Du?“ Die Magd schüttelte nur den Kopf. „Es ist kein Sebastian hier, Ahrok. Du phantasierst nur. Ruh dich aus.“
Ahrok fiel in sich zusammen, als die angespannten Muskeln wieder erschlafften. Was war nur passiert? Wozu hatten ihn diese Leute nur gebracht? War Sebastian wirklich tot? Hatte er das letzte Mitglied seiner Familie eigenhändig getötet? Die Erinnerungen an den Kampf lagen unter dichtem Nebel verborgen, der sich nur hier und da etwas lichtete. Er erinnerte sich daran, wie das Messer sich in seinen Bauch gebohrt hatte. Alles davor oder danach lag in beklemmender Dunkelheit verborgen.
Es war alles so viel besser gewesen, als er noch geschlafen hatte. In seinen Träumen hatte es keine bohrenden Fragen oder quälenden Erkenntnisse gegeben.
Die Tür öffnete sich und jemand trat ein. Wieder konnte Ahrok den Kopf nicht genug drehen, um zu erkennen, um wen es sich hierbei handelte.
„Oh. Wie ich sehe, sind meine beiden Patienten bereits erwacht. Das… kommt unerwartet. Erfreulich unerwartet.“
„Doktor.“
Ragnar nickte dem Mann zu.
„Und sie laufen schon wieder umher und reden miteinander. Wie herrlich…“
Endlich trat die ominöse Person vor ihn.
Es handelte sich hierbei um einen vom Alter gezeichneten Mann mit spärlichem Haar. Seinen Körper bedeckte ein ehemals weißer Kittel, der nahezu an jeder erdenklichen Stelle ausgebleichte Reste von Blutflecken aufwies. Im Kontrast zu diesem wenig vertrauenerweckendem Gewandt trug er eine kleine, unschuldige Brille auf der Nase und hatte ein sympathisches Lächeln auf den Lippen.
Es war beruhigend, ihn anzusehen und man wusste sofort, dass es sich hierbei um einen Menschen handelte, dem man bedingungslos vertrauen konnte.
Sogleich fühlte sich Ahrok viel sicherer in seiner ramponierten Haut.
„Lassen Sie mich doch bitte kurz mit meinen Patienten allein“, befahl der Doktor freundlich.
Der Mann wartete, bis die Zwergin den Raum verlassen hatte und nahm dann ihm gegenüber Platz, so dass Ragnar und er ihn gut sehen konnten.
„Also? Wie fühlen Sie sich?“
„Gut“, antwortete Ragnar.
Der Mann schmunzelte: „Sie müssen hier nicht den harten Zwerg spielen, mein Lieber. Wir sind hier unter uns. Ich kann doch sehen, dass die ursprüngliche Behandlung mit Mehl und Honig Ihrem Bein schwer zugesetzt hat. Der Namenlose möge dafür sorgen, dass solcherlei Dummheit bald der Vergangenheit angehören, denn das Bein wird nie wieder so funktionieren wie früher. Zumindest hat sich der Heilungsprozess derart gut entwickelt, dass sich bereits neues Bindegewebe gebildet hat. Mit etwas Glück können Sie bald wieder normal Laufen, aber große Sprünge werden Sie damit nicht mehr vollbringen können. Bewahren Sie jedoch von nun an die Bettruhe, um sich nicht noch weiter zu schädigen.“
Der Zwerg nickte.
„Und wie steht es um Sie, junger Freund?“ Der Alte schob die Bettdecke beiseite und fuhr mit seinen Fingern über Ahroks Körper. „Die Wunden sind gut verheilt… keine Anzeichen einer Entzündung… wunderbar. Was haben Sie heute gegessen?“
Ahrok schüttelte nur leicht den Kopf.
„Das ist schlecht. Sie müssen essen und trinken, um wieder zu Kräften zu kommen. Ich werde bei der Magd ein paar Speisen in Auftrag geben, die Sie bitte bis zu unserem nächsten Treffen auch wirklich zu sich nehmen.“
Der Mann griff nach seiner Tasche und war bereits auf halbem Weg nach draußen, als er sich noch einmal umdrehte.
„Ich hätte es beinahe vergessen. Als ich heute von einem Krankenbesuch in der Holzmarktstraße kam, traf ich einen Elfen, der mir auftrug Sie zu grüßen.“
„Ein Elf? In der Holz…?“, Ragnar ließ den Rest des Satzes unvollendet.
„Holzmarktstraße. Eine eher kurze Gasse im Westbezirk.“
Doktor Kruger entging nicht der kurze Blickaustausch der beiden.
„Tut mir leid, da muss eine Verwechslung vorliegen. Wir kennen keinen Elfen und waren auch noch nie im Westbezirk.“
„Oh“, es war ihm, als zerquetschte ihm just in diesem Moment das Herz in der Brust. „Dann muss es sich wohl wirklich um eine Verwechslung handeln. Nichts für ungut. Bis morgen, liebe Patienten.“

Doktor Kruger stürzte aus der Tür hinaus und sank auf dem Flur in die Knie. Er fühlte diese gewaltige Beklemmung in der Brust und es schnürte ihm den Atem ab, zu wissen, dass diese beiden also tatsächlich die Kopfgeldjäger waren, von denen der Hauptmann gesprochen hatte.
Sie hatten ihn belogen. Es war klar und deutlich zu erkennen gewesen, dass sie ihn belogen hatten, als der Zwerg behauptet hatte, nie im Westbezirk gewesen zu sein. Warum sollten sie so etwas tun, wenn sie ihm nicht bereits auf die Schliche gekommen waren? Warum sollten sie sonst die Beziehung zu dem Elfen leugnen?
Er kam nur schwerlich wieder zu Atem. Das Gefühl, als ob seine Brust in einem Schraubstock eingeklemmt war, jagte ihm zusätzliche Angst ein.
„Doktor Kruger!“, kleine, schnelle Schritte näherten sich ihm.
Ohne Vorwarnung schoben sich zwergische Wurstfinger zwischen seine Achseln und richteten ihn wieder auf. Er hätte am liebsten laut geschrien.
„Doktor Kruger, was ist passiert? Sie sind ja käsebleich.“
Sein hechelnder Atem beruhigte sich wieder.
Mit der Linken wischte er sich frische Schweißtropfen von der eiskalten Stirn.
„Nur ein Schwächeanfall“, stammelte er hilflos. Seine eigenen Beine hatten noch immer nicht die Kraft, ihn zu tragen. Er musste hier raus, fort von hier, weit weg. „Bringen Sie mich bitte zur Tür. Ich bin noch etwas schwach in den Knien.“
Wenn er jetzt gleich zu sich nach Hause fuhr und seine Sachen packte, dann konnte er vielleicht noch vor dem nächtlichen Schließen der Stadttore Märkteburg verlassen.
Wohin, das war in diesem Moment egal. Er musste einfach nur verschwinden.
Die Kutsche des Grafen wartete bereits vor der Tür.
„Bevor ich es vergessen. Binden Sie die beiden Männer für die nächsten paar Tage an ihren Betten fest, damit dieses ständige Herumlaufen aufhört. Es ist zu ihrem eigenen Besten.“
„Ich kümmere mich darum, Doktor.“
„Vielen Dank. Richten Sie dem Graf meine Grüße aus, aber ich konnte heute nicht verweilen. Dringende Termine. Sie kennen mich ja und nicht vergessen. Anbinden.“

Noch bevor die Kutsche gänzlich zum Halten gekommen war, hatte er die Tür bereits aufgerissen und war hinausgesprungen. Siebzehn Schritte bis zur Haustür, die Treppe hinauf und dann… Er stand inmitten seines ganzen Lebens und blickte sich um. So viel Geld hatte er in das Haus investiert, in neue Gerätschaften oder kostspielige Reisen in ferne Länder, um andere Heilmethoden zu studieren.
Dort drüben stand ein großes Bücherregal mit Abschriften von Texten in über dreizehn Sprachen. Hunderte Goldstücke war allein dieser Schatz wert. Gleich daneben befand sich sein Lesesessel, der einst Königin Melissa der Zweiten zeitweise als Thron gedient haben sollte. Weitere fünfzig Goldmünzen. Teppiche, Spiegel, Kronleuchter, Bilder, Statuen, Talismane, Artefakte... Ein gewaltiges Sammelsurium, das ihn so viele Tausend Goldthaler gekostet hatte, war nun praktisch wertlos geworden. Er konnte auf die Schnelle nichts verkaufen und kaum etwas davon auf die Reise mitnehmen. Hier standen haufenweise Schätze herum und trotzdem hatte er kaum genug Silber in der Tasche, um es bis in die nächstgrößere Stadt zu schaffen. Selbst seine letzte Möglichkeit, die Pfand- oder Geldverleiher, hatten um diese Zeit bereits ihre Geschäfte geschlossen.
So viele Erinnerungen, so viele geschätzte Kleinode... alles hatte von einem Augenblick zum nächsten sämtlichen Wert verloren. Er schüttete das Operationsbesteck sowie die restlichen Arbeitswerkzeuge aus seiner Tasche auf den Boden und verstaute goldene Kerzenhalter, rubinbesetzte Buchstützen und was er sonst noch auf die Schnelle greifen konnte darin.
Zu wenig Platz. Er hatte viel zu wenig Platz.
Im Schubfach seines Arbeitstisches befand sich noch der Beutel mit den vierzig Goldmünzen, die er für eventuelle Notfälle immer parat hielt. Das Bisschen dürfte zumindest reichen, um aus der Stadt zu kommen.
Er streifte seinen Kittel ab und ließ ihn, dort wo er stand, zu Boden fallen. Zum Umziehen blieb keine Zeit. Wenn er es erst einmal in Sicherheit geschafft hatte, würde sich ein guter Schneider um eine neue Garderobe kümmern. Er lief mit seinem kleinen Koffer in den Händen die Treppe so schnell herunter, dass er beinahe die letzten drei Stufen hinuntergestürzt wäre.
Die Haustür stand immer noch offen.
Drei weitere Schritte hinaus in die kalte Dunkelheit, der Schlüssel drehte sich im Schloss und das war es dann.
Er warf noch einen letzten Blick auf sein altes Leben. Es war eine gottverdammte Verschwendung, dass es so enden musste. Mit Tränen in den Augen lief er die Straße entlang, auf der Suche nach einem Kutscher, der um die Zeit noch seine Runden fuhr.
Nahezu eine Meile war er im Zickzack durch die Gassen gewandert, ehe er vor einem Gasthaus die Silhouette eines Wagens entdeckte. Sein keuchender Atem blies dünne Wölkchen in die kalte Nachtluft und seine Kleidung war bereits durchnässt vom Schweiß.
„Hallo?“
Der Mann auf dem Kutschbock reagierte nicht.
„Hallo? Sind Sie frei für eine Fahrt?“
Als er den Kutscher berührte schreckte der Mann aus seinem Dösen hoch: „N´ahmnd!“
„Fahren Sie noch?“
„Orbor sischor, hibbens nei. Wo soll´sn hinjehn?“
„Raus aus Märkteburg.“
„Se sinn mir doch woll geen Briedsl? Dad würd dann woll nüschd mei Gudsder. De Wäschder gondrollieren seid Wochn jede Gudsche, wegge de Stadtgränse bassiord.“
„Ich habe nichts ausgefressen. Weder sind Stadtwächter hinter mir her noch Beutelschneider. Ich will einfach nur Märkteburg verlassen. Heute noch.“
„Isch fohr abbor nur in Märschdebursch. De zordepperden Schdrosn da nauswärds sinn nich jut firr mei Woochn.“
„Ich zahl Ihnen das Dreifache ihres üblichen Preises.“
„Isch lass misch nisch beladschorn mid Ihr´n baar Binnuns´n. ´S iss späd.“
„Und ich sag Ihnen. Fahren Sie! Ich zahle Ihnen jeden Preis.“
„Biddescheen, wies der Herr winschd. Orber mägeln Se denn nisch rum, wenn´s so gimmt, wie isch´s ihn´n forgliggerd hab. Deior wird dad drodsdäm firr se wern.“
Doktor Kruger hatte mittlerweile im Gefährt Platz genommen.
„Berechnen Sie, was Sie wollen, aber fahren Sie endlich!“
Sie kamen tatsächlich nicht weit.
Sein Herzschlag hatte sich kaum beruhigt, als der Wagen auch schon stoppte.
„Die Tore sind bereits geschlossen“, hörte er jemanden sagen.
Vorsichtig lugte er aus dem Fenster.
Da waren weder ein Zwerg noch ein Jüngling, sondern nur ein paar Stadtwachen, die ihm den Weg versperrten.
„Ich bin ein Medicus und habe einen Patienten im Umland. Ich muss dringend dorthin.“
„Die Tore sind bereits geschlossen“, wiederholte der Mann.
„Hören Sie, ich hab keine Zeit für so etwas. Ich gebe Ihnen ein Goldstück, wenn Sie auf der Stelle das Tor öffnen.“
„Die Tore sind bereits…“
„Geschlossen! Ja, ich hab´s kapiert!“
„Oh, wir haben hier einen Klugscheißer. In diesem Fall ist es mir eine umso größere Freude, dir zu sagen, dass die Tore geschlossen sind und für dich auch geschlossen bleiben.“
„Ich muss! Hier heute noch durch!“
„Ohne schriftliche Genehmigung vom Hauptmann kommt hier um die Zeit nicht einmal der König durch. Hast du das jetzt auch kapiert?“
„Vom Hauptmann? Sie meinen Hauptmann Bernhard Schreiber?“
„Genau der.“
Vincent Kruger wandte sich dem Fahrer zu: „Wenden Sie und bringen Sie mich schnellstmöglich zur Stadtwache.“
„Dad wird imma deioror.“
„Was ist eigentlich los mir Ihnen? Fahren Sie! Himmel, Arsch und Zwirn fahren Sie!“

Vincent Kruger sprang aus der Kutsche.
„Sie warten hier! Ich bin gleich wieder hier.“
„Dad kosd Se orbor exdra.“
„Halten Sie die Klappe! Halten Sie die Klappe und warten Sie einfach!“
Die zwei Trolle vor dem Tor machten keine Anstalten ihn aufzuhalten.
„Ist der Hauptmann noch da?“
„Er ist oben in seinem Quartier und schreibt die Dienstpläne, Doktor Kruger.“
„Darf ich zu ihm?“
„Natürlich, Herr Doktor.“
Einer der Riesen stieß die Tür auf und er betrat die ihm wohlbekannte Halle. Er ließ ein letztes Mal die Eindrücke auf sich wirken. Die Fackeln entlang des geschmückten Ganges versprühten einen typischen Duft. Darunter mischte sich der Geruch von Petroliumdestilat. Dies konnte in einem Haus wie diesem nur bedeuten, dass hier jemand vor Kurzem erst Rüstungen und Waffen gegen Rost eingeölt hatte.
So viele Eindrücke, so viele schöne Erinnerungen…
Er schüttelte den Gedanken ab, schritt den leeren Gang entlang und dann die Treppe hinauf zum Zimmer des Hauptmanns. Alles was er brauchte war nur ein Passierschein und dann war er für immer weg.
Als er die Tür zur Wachstube aufstieß, blickte ihm ein verwunderter Hauptmann entgegen.
„Kruger? Was wollen Sie zu so später Stunde von mir? Sie haben doch um des Namenlosen Willen keinen Blödsinn angestellt?“
„Nein, nichts in der Art, Herr Hauptmann.“
„Es geht um diese beiden. Richtig? Haben Sie sich die vom Hals geschafft? Keine Sorge ich werde mich darum kümmern.“
„Nein. Nein. Sie leben noch. Ich will heute noch aus der Stadt verschwinden und brauche Ihre Erlaubnis dafür, sonst wollen mich die Wachen am Tor nicht passieren lassen.“
„Sie wollen Märkteburg verlassen?“
„Ja.“
„Einfach so?“
„Ja.“
„Ohne mir etwas davon zu sagen?“
„Nun…“
„Kruger… wir haben eine Abmachung. Einen Handel. Sie können sich nicht so mir nichts, dir nichts daraus zurückziehen.“
„Aber diese beiden…“
„Kruger.“
„… sie wissen wer ich bin und…“
„Kruger!“
„… wenn sie erst einmal gesund sind dann…“
„Kruger, reißen Sie sich zusammen!“
Bernhard Schreiber war von seinem Schreibtisch aufgestanden und rüttelte den alten Doktor an den Schultern.
„Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?“
„Verdammt, Kruger, Sie sind doch hier der Arzt. Schneiden sie ihnen im Schlaf die Kehle durch, vergiften Sie sie oder ersticken oder ersäufen Sie die beiden. Von mir aus zünden Sie das Krankenzimmer an, aber hören Sie endlich auf sich wie ein kleines Mädchen aufzuführen!“
„Herr Hauptmann, ich kann nicht…“
„Kruger! Langsam gehen Sie mir gehörig auf den Geist mit Ihrem Geflenne. Ich wette Sie sind keine solche Heulsuse, wenn Sie ihre kleinen Jungs in den Arsch ficken, also reißen Sie sich jetzt mal am Riemen. Sie lassen mich hier nicht im Stich!“
Der Hauptmann wanderte auf und ab.
„Wie haben Sie sich das vorgestellt? Das Sie Märkteburg den Rücken kehren und dann ist alles wieder gut? So läuft das nicht, Kruger. Sie und ich, wir beide haben unsere Dämonen und wir müssen zusammenarbeiten, wenn wir sie wieder loswerden wollen.“
„Geben Sie mir doch bitte den Passierschein und ich mach Ihnen keinen Ärger mehr.“
„Hören Sie mir nicht zu? Sie hören mir einfach nicht zu. Wissen Sie was, Kruger? Ich werde Ihnen keinen Passierschein ausstellen. Genauer gesagt werde ich jedem Wachsoldaten den Befehl erteilen, Sie nicht aus der Stadt zu lassen. Sie laufen mir nicht vor unserer Abmachung davon. Solange dieser Wurm in meinem Schädel steckt, solange ist mein Märkteburg ihr Gefängnis."
„Ich kann Ihnen die Adresse des Arztes geben, der solche Operationen durchführt, aber Sie müssen…“
„Das können Sie und das werden Sie Kruger und gleich morgen früh werden Sie ihren Patienten einen Besuch abstatten und ihnen das Licht ausblasen. Haben wir uns verstanden?“
„Ich…“
„Haben wir uns verstanden?!“
„Ja. Ja, Herr Hauptmann… ich habe verstanden.“
Vincent Kruger wandte sich mit hängenden Schultern zum Gehen, als ihn die Stimme von hinten einholte.
„Wohin so eilig, Herr Doktor?“
„Ich fahre jetzt nach Hause.“
„Schön. Das wollte ich hören, aber zuerst lassen Sie mir noch die Adresse ihres Wunderarztes da.“
 
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Kommentare  

Hallo Ingrid, hallo Jochen - ich freu mich wie jedesmal sehr über eure Kommentare zu meiner Geschichte. Es macht mir momentan wieder ungeheuren Spaß zu schreiben und die Kapitel fließen einfach so aus mir heraus, daher ist es schön auch für diese Kapitel ein positives Feedback zu bekommen. Das Ende des ersten Teils ist nahe und ich freue mich wie ein kleines Kind darauf.

Jingizu (18.03.2012)

ahrok tut mir sehr leid, und du schilderst das ausgezeichnet: zu seinem desolaten zustand kommt auch noch die enttäuschung hinzu, weil ariane sich nicht mehr blicken lässt. und dann die zweifel wegen seines bruders, hat er ihn umgebracht und warum kann er sich nicht mehr erinnern?
auch der arzt kann einem leid tun, er sucht einen grund, um die beiden nicht zu töten, aber... nix, er entschiedet sich zu fliehen und (fast) alles zurückzulassen, aber dann wird er vom hauptmann abgefangen...
ein sehr vielschichtiger teil und toll geschrieben!


Ingrid Alias I (18.03.2012)

Also hat Dr. Kruger unseren beiden Helden noch nichts getan. Fies wie er mehr und mehr in die Rolle des Killers gepresst wird. Wirklich ein scheußlicher Typ dieses Hauptmann. Aber auf der anderen Seite will der auch nur den Wurm im Kopf loswerden. Was er wohl ohne den Wurm anderes tun würde?

Jochen (17.03.2012)

Vielen Dank für deine treuen Kommentare Petra. Ich hoffe immer, dass die Dialoge "echt" sind, dass sie dem Charakter entsprechen und nicht aufgesetzt wirken.
Das nächste Kapitel ist nun aber noch ein paar Tage hin, da ich gerade nicht mehr zum Schreiben komme.
Ich möchte dir aber nochmals danken, dass du nach all der langen Zeit immer noch jedes Kapitel liest und kommentierst.
Danke


Jingizu (17.03.2012)

Schrecklich echt, wie Hauptmann Bernhard Schreiber reagiert. Bei der Bemerkung "Wie`n kleines Mädchen!" dürften sich insbesondere Männer in ihrer Ehre gepackt fühlen. Wieder ein tolles Kapitel.

Petra (16.03.2012)

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