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Pünktlich nach Hause kommen! - Berliner Alltagsgeschichte zwischen Kreuzberg und Neukölln

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten
Als ich die U-Bahntreppen zum Hermannplatz hochstiefele, schaue ich auf die Uhr: Noch sieben Minuten! Das müsste zu schaffen sein. Obwohl, in sieben Minuten kann allerhand geschehen in Berlin zwischen Karl-Marx-Straße und Sonnenallee, zwischen Kreuzberg und Neukölln.
Zwei Mädchen mit blond gefärbten Schnittlauchlocken, vielleicht so um die siebzehn Jahre alt, Bierflaschen wie Statussymbole moderner Emanzipation in der Hand, laufen unbekümmert schwatzend bei Rot über die Straße. Ein Taxi hupt. Ein Mädchen zeigt ihm den Stinkefinger, das andere schreit „Alter Wichser!“ Ich laufe auch quer, flutsche bei Rot über den Zebrastreifen und biege eilig in die Sonnenallee ein.
An der Ecke steht Harkan mit seinen Kumpels. Harkans Familie wohnt bei uns im Hinterhaus. Die Meute redet auf ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren ein. Harkans Hände gestikulieren. Seine Augen sind voller Verachtung und die Worte wie Blitze.
„Du Schlampe!“ schreit Harkan das Mädchen an. „Du lässt doch jeden ran! Wenn du meine Schwester wärst, ich würde dich kaltmachen, du Schlampe! Pfui!“ Er spuckt vor dem Mädchen aus. Die Jungs nicken zustimmend und palavern dann mit einem Kauderwelch aus Deutsch und Türkisch weiter. Das Mädchen erwidert „Fick dich doch selbst!“ und rennt zum Bus.
Harkan und die Jungs überqueren die Sonnenallee und verschwinden in der Bar mit der roten Neonröhre, darüber steht „Girls-Club“ und drinnen kann man sich für fünf Euro Porno-Videos bei Whisky-Cola reinziehen.
Noch sechs Minuten. Ich werde schneller. Die Zeit läuft mir davon. Vielleicht ist unterdessen in China ein Sack Reis umgefallen? Oder eine Zwölfjährige wurde in Afrika beschnitten oder in der Türkei mit einem Cousin verheiratet. Alles in dieser Sekunde. Das muss man sich mal überlegen...
Noch drei Wochen bis zum Urlaub. Nix Türkei! Nix Kenia! Diesmal Ostsee! Immerhin nicht Balkonien. Noch nicht. Wer weiß, was nächstens Jahr ist...
Wenn man in der Ostsee, also etwa zwischen Rostock und Kopenhagen, mal tauchen und immer tiefer tauchen würde, ob man dann auf der anderen Seite irgendwo im Indischen Ozean wieder herauskommt? Müsste theoretisch doch möglich sein. Hab’ ich gestern Gerda gefragt. Manchmal versuche ich, sie mit anderen Gedanken zu provozieren. Nur mal so, um die Suppe ein bisschen zu salzen. Gerda ist nicht gerade die Hellste, aber unterm Strich ist sie okay und ein guter Kumpel. Gerda antwortete halb lachend, halb vorwurfsvoll: „Du alter Spinner! Was redest du wieder für'n Blech?! Mach dir lieber Gedanken, ob wir für'n Urlaub Halb- oder Vollpension buchen sollen!“
Noch vier Minuten! Als ich die Wohnungstür öffne, ruft Gerda aus der Küche: „Hallo Dicker! Wie war’s auf der Arbeit?“
„Wie immer!“ antworte ich wie immer, füge dann aber hinzu: „Dem Kalle hamse gekündigt, wir werden wohl bald in Kurzarbeit gehen!“
Gerda ruft: „Ich hab ‘ne kalte Platte gemacht, wir können ja auf’m Sofa vorm Fernseher essen!“
Also Kurzarbeit und Kalle schon entlassen. Bei Herthie und Karstadt ist auch bald Totensonntag. Ob die Mauer nicht doch ein antikapitalistischer Schutzwall und berechtigt war? Ich meine, so nachträglich betrachtet.
Anstandshalber frage ich Gerda: „Und wie war dein Tag?“
„Nichts Besonderes“, ruft sie zurück. „Die Katzelbacher von gegenüber war wieder da und hat sich Mehl gepumpt. Ich wette, die wollte nur tratschen. Ob ich das von der dicken Blonden aus dem Hinterhaus mitgekriegt hätte, hat die Katzelbacher noch gefragt. Wegen dem Krach letzte Nacht. Aber was interessieren mich die Kerle von der dicken Blonden?! Soll doch jeder machen was er will, solange ich schlafen kann. Trotzdem, irgendwann kracht’s bei denen mal, das schwör ich dir, irgendwann kommt ihr Kerl dahinter und dann gibt’s blaue Augenränder, aber Hallo!“
„Ja!“ antworte ich und pflanze mich schon mal auf die Couch vor die Glotze. „Noch eine Minute!“ rufe ich. „Gleich geht’s los! Mach’ hinne!“
Gerda stellt die kalte Platte mit den Häppchen auf den Wohnzimmertisch. Ich lange zu und Gerda sagt leicht schmollend: „Gerade noch mal geschafft! Warum du auch immer auf die letzte Minute nach Hause kommen musst. Besonders an so wichtigen Abenden wie heute. Geht das nicht anders …?“
Ich räuspere eine vage Entschuldigung, bringe die ausgefallene U-Bahn ins Spiel und denke, es hat doch wieder mal hingehauen!
Gerda greift mit einer Hand nach einem Käsebrot, mit der anderen sucht sie fahrig nach meinem Arm und tätschelt ihn. Ich angele mir eine Flasche Bier. Öffne den Klappverschluss.
Plopp!
Ich stülpe meinen Mund über den Flaschenhals, als wollte ich ihn abknutschen. Dann lege ich friedfertig meinen Kopf auf Gerdas Schultern. Unterm Strich ist das Leben eigentlich nicht soo schlecht …
Aufgeregt starrt Gerda auf den Fernseher. Schweißperlen stehen auf ihrer Nasenspitze. In ihren Augen erkenne ich den erwartungsvollen Glanz. Unter tosendem Beifall erscheint auf Bühne und Bildschirm der Moderator. Seine schmal zusammengekniffenen Lippen haben das lauernde Lächeln einer Ratte beim Pokern. Er breitet die Arme aus, umfasst Gerda und mich und Millionen andere - und dann sagt Günther Jauch: „Herzlich willkommen zu einer neuen Sendung von Wer wird Millionär?!“
*
 
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Kommentare  

@ Marco Polo: Danke für dein Lob, das mich etwas überrascht, denn eigentlich stufe ich diese Geschichte zu meinen weniger gelungenen ein. Es war mehr eine Schreibübung nebenher, und eine unvollkommene Milieustudie, die man sicher noch verfeinern könnte. Trotzdem freue ich mich natürlich über deine Stellungnnahme.

Michael Kuss (16.11.2012)

Toller Schreibstil. Hat sich sehr gut gelesen, unterhaltsam und flüssig. Typische Milieustudie und irgendwie auch zum grinsen. Ganz prima.

Marco Polo (16.11.2012)

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