312


9 Seiten

Rosi und das Haus Brühl 18/ Kapitel 7/Rosi bekommt was mit dem Riemen und Richards Glasauge

Romane/Serien · Für Kinder
© rosmarin
7. Kapitel

Rosi bekommt was mit dem Riemen

„Wann kommt denn eure Mama endlich aus dem Krankenhaus?“
Die Kinder, Richard und Nanny, die auf der Bank unter dem Pflaumenbaum an der Mauer, die die beiden Höfe voneinander trennte, saßen und Mensch ärgere dich nicht spielten, hoben erschreckt ihre Köpfe.
Auf der Mauer war Frau Schmids Kopf mit dem bunten Kopftuch zu sehen. An beiden Seiten lugten einige dunkle, krause Haarbüschel hervor.
„Wissen wir nicht“, sagte Rosi kurz angebunden. Das war doch zu ärgerlich. Immer wurde sie gestört, wo sie doch heute endlich mal so weit vorn lag. „Wir dürfen doch nicht zu ihr. Aber nachher fragt Tante Nanny den Doktor.“
„Stimmt. Ich muss ja auch noch einkaufen“, stimmte Nanny freundlich zu. „Ist ja nicht so weit. Ein Glück, dass sich die Kinder nicht angesteckt haben.“
„Ein Glück.“ Frau Schmids zog ihren Kopf von der Mauer.
„Kommst du mit Richard?“ Nanny erhob sich von der Bank. „Die Kinder können doch allein weiter Mensch ärgere dich nicht spielen. Mir ist das sowieso zu langweilig. Mariandel, andel, andel…“
„Ich will auch mit.“ Jutta hängte sich an Nanny.
„Ich auch“, heulte Karlchen. „Mami suchen.“
„In das Krankenhaus dürfen keine Kinder. Das ist streng verboten.“ Richard guckte die Kinder böse an. „Ihr habt doch Quarantäne.“
„Aber Richard…“ , wollte Nanny etwas sagen, doch Richard unterbrach sie barsch.
„Das sind überhaupt alles Tunichtgute“, wütete er. „Und am schlimmsten bist du, Rosi.“
Rosi guckte erschrocken in Richards schwarzes Auge, das sie böse anfunkelte. Bestimmt war das das Auge des Teufels. Er hatte sich nur verkleidet. Sie hatte schon lange das Gefühl, als säße er in allen Ecken des Hauses und beobachte sie. Vielleicht war es ihm ja in dem Haus gegenüber zu langweilig geworden.
„Ich habe doch gar nichts gemacht!“
„Du machst nie was.“ Richard trat ganz nah an Rosi heran. „Und doch machst du immer was. Du merkst es nur nicht. Jetzt widersprichst du ja auch schon wieder. Du ungezogenes Kind! Du.“
„Mach ich doch gar nicht!“ Trotzig starrte Rosi in das funkelnde Auge. „Du guckst böse! Bestimmt bist du der Teufel.“
„Klar. Ich bin der Teufel!“ Richard lachte schallend. „Nanny hast du das gehört? Ich bin der Teufel. Hu, ich stecke alle bösen Kinder in den Sack und nehme sie mit in die Hölle. Hahahha, da können sie dann brennen, hahahaah!“
„Richard, lass das!“ Nanny stellte sich schützend vor die Kinder, die erschreckt zurückgewichen waren. „Die Kinder bekommen doch Angst.“
„Ich will nicht mit. Ich bleibe hier“, sagte Rosi.
„Das will ich auch hoffen.“ Richard fuchtelte mit seinen langen Armen. „Und wenn du noch lange so vorlaut bist, bekommst du meinen Riemen zu spüren.“
„Ich bleibe auch hier“, heulte Karlchen.
„Ich auch.“ Jutta drängte sich ängstlich an Rosi.
„Komm her Karlchen“, spottete Richard. „Der Onkel Richard ist soo böse.“
Laut auflachend stampfte Richard vom Hof. Die Kinder hörten noch, wie Nanny zu ihm sagte:
„Jag doch den Kindern keinen Schreck ein. Die sind doch noch so klein.“

Die Tage vergingen. Else und Bertraud kamen nicht. Das Leben in dem kleinen Haus wurde immer düsterer. Kein Lachen war mehr zu hören. Kein Herumtollen möglich. Kein Zanken.
Nanny und Richard waren mit den Kindern und der ganzen Situation überfordert. Verängstigt saßen die Kinder auf der Bank unter dem Pflaumenbaum und spielten leise Mensch ärgere dich nicht.
„Tante Nanny singt nicht mehr“, flüsterte Jutta.
„Und Onkel Richard ist ganz böse“, flüsterte Karlchen zurück.
„Ich hab eine Idee.“ Verschwörerisch sah Rosi Jutta und Karlchen an. „Wir müssen ihn auch ärgern. Vielleicht überlegt er es sich dann, uns zu schimpfen.“
„Oh ja! Und wie?“
„Wir maulen einfach, weil wir immer so früh ins Bett müssen. Noch früher als bei Mama. Das ist doch blöd. Die Sonne scheint noch und wir sollen schlafen.“
„Das nützt bestimmt nichts“, zweifelte Jutta. „Die schicken uns trotzdem hoch.“
„Mir fällt schon was ein“, war Rosi zuversichtlich.

Die Kinder konnten den Abend kaum erwarten. Die Spannung wuchs und wuchs mit jeder Stunde, die viel zu langsam verging. Endlich war es so weit.
„So, ihr lieben Kleinen“, freute sich Richard nach dem Abendessen mit seiner bösen Stimme, „jetzt werdet ihr schön in eure Kammer hüpfen und schlafen.“ Sein Auge blickte die Kinder streng an. „Wird's bald“, befahl er, als die Kinder sich nicht vom Fleck rührten.
Jutta und Karlchen schauten auffordernd zu Rosi, die an der Tür stand und wartete.
„Ich muss noch mal auf Klo.“ Rosi nahm eine Haltung an, als müsste sie ganz dringend. „Groß machen. Hatte ich vorhin vergessen.“
„Seit wann muss man abends groß?“ Richard funkelte Rosi an.
„Ich muss aber!“, stampfte Rosi mit dem Fuß. „Und wenn ich muss, dann muss ich!“
„Ich auch! Ich auch!“ Karlchen und Jutta stellten sich neben Rosi, die schon einen Fuß auf der Stufe zum Flur hatte.
„Hiergeblieben!“, schrie Richard. „Einer nach dem anderen. Wenn es schon sein muss. Seit wann steckt denn die Scheißerei an?, murrte er ungehalten.
Jutta und Karlchen gingen zurück. Rosi blieb bockig stehen.
„Rühr dich nicht vom Fleck!“ Richard drängte sich an Rosi vorbei, eilte die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, kam mit einem Glasnachttopf in der Hand zurück. „Mach hier rein“, befahl er streng. „Ich will sehen, ob du die Wahrheit gesagt hast.“

Rosi ging mit dem Nachttopf in der Hand langsam durch den Hof. Missmutig setzte sie sich vor dem Plumpsklo auf den Topf. Wie sollte sie dieses Kunststück vollbringen? Sie musste ja nicht. Doch Richard wollte den Beweis. So leicht konnte man ihn nicht täuschen. Sie drückte und drückte. Nichts kam. Nach einigen Minuten war der Topf noch immer leer.
„Wie lange sollen wir denn noch warten!“, polterte Richards ungeduldige Stimme zu ihr hin. „Komm endlich! Sofort!“
Da kam ihr der rettende Einfall.
Ohne weiter nachzudenken, stand sie auf und öffnete die Tür ohne Klinke zum Klo. Der Deckel lag locker über dem Loch. Vorsichtig hob sie ihn hoch, lehnte ihn an die weiß getünchte Steinwand, nahm einige Zeitungsstückchen, die Richard fein säuberlich in gleichmäßige Vierecke gerissen hatte, von dem Nagel an der Wand neben dem Klo und griff schnell mit geschlossenen Augen in das gut gefüllte Plumpskloloch. Mit der freien Hand legte sie den Deckel wieder auf das Loch. Mit der anderen ließ sie das Groß in den Glastopf plumpsen.
Zufrieden mit sich und ihrem Einfall betrat sie siegessicher die Stube, in der sie alle gespannt anstarrten
„Hier.“ Sie schaute siegessicher in die Runde und hielt Richard das Groß unter die Nase. „Du siehst, ich habe nicht gelogen.“

Ungläubig sah Richard in den Topf. Plötzlich wurde er putterot im Gesicht. Rosi starrte ihn erwartungsvoll an. Mit dem Topf in der Hand. Dem Groß direkt vor seiner Nase.
„Das ist meine Worschtt!“, schrie Richard da wie ein Wahnsinniger los! Wutentbrannt riss er Rosi den Topf aus der Hand. Heulte: „Das ist meine Worschtt!“ Er schwenkte den Topf mit den Fäkalien vor ihrer Nase hin und her. „Du glaubst wohl, du verdammtes, hinterhältiges Ding, du glaubst wohl, du kannst mich hinters Licht führen? Ich war vorhin drauf! Auf eurem Scheißplumsklo! Auf dem einen die Scheiße ja schon den Arsch leckt! So eine dicke Worscht kann doch kein kleines Kind scheißen. Dich werde ich Mohres lehren! Du verlogenes Balg du!“
In Windeseile stülpte Richard den Topf auf die Dielen. Hastig zog er seinen Ledergürtel, auf dessen Schnappschnalle Gott mit uns stand, von der Hose und legte Rosi über sein spitzes Knie. Außer sich versetzte er ihr eine Tracht Prügel, die sie ihr Lebtag nicht vergessen sollte.
„Hör auf! Hör auf!“, heulten Jutta und Karlchen. „Das sagen wir alles Mami!“
„Schluss jetzt!“, gebot endlich auch Nanny dem Treiben ein Ende. „Du verdammter Sadist!“
Sie gab Richard mit ihrem spitzen Schuh einen Tritt in den Hintern, so dass er wie ein Ball auf den Dielenboden kullerte.
„Das gibt ein Nachspiel!“, brüllte Richard von unten. „Das Ding bringt mich zur Weißglut. Das Ding muss weg!“

***

Richards Glasauge

„So“, sagte Richard nach einigen Tagen nach dem kärglichen Frühstück: „Ich hoffe, ihr seid satt Kinder.“
„Ich nicht.“ Rosi stippte mit den Fingern auf ihrem leeren Teller herum. „Ich habe nur eine Bemme gegessen.“ Sie sah Nanny vorwurfvoll an. „Und Richard zwei.“
„Ich auch nur eine“, klagte Jutta.
Karlchen plapperte wie gewohnt nach: „Ich auch nur eine.“
„Und die Marmelade vergesst ihr wohl?“, höhnte Richard. Er funkelte die Kinder der Reihe nach mit seinem einen Auge an. „Ich habe mit eurer Mutter gesprochen. Sie ist der Meinung, dass Rosi zu ihren Großeltern aufs Land soll.“
„Allerdings nur, bis sie wieder gesund ist“, sagte Nanny. „Sie zeigte Verständnis dafür, dass wir mit drei kleinen Kindern überfordert sind.“ Sie schaute Rosi mit ihren schönen, schwarzen Augen bittend an. „Wir haben ja keine Kinder“, fügte sie wie entschuldigend hinzu. „Und demzufolge auch keine Ahnung von Kindererziehung. Richard wollte schon eine Kinderlandverschickung beantragen. Aber wozu, wenn deine Großeltern einen so schönen Bauernhof haben.“
„Dort wirst du dich ja auch ordentlich satt essen können“, spottete Richard böse mit seiner knarrenden Stimme.

Rosis Herz hüpfte vor Überraschung und Freude. Etwas Besseres hätte ihr nicht widerfahren können. Endlich würde sie Helene wiedersehen. Und Karl. Karls Vater hieß ja auch Karl. Und Wally mit ihren langen blonden Zöpfen. Diese würde sie dann auch fragen können, was es mit dem Jungmädelbund und Glaube und Schönheit auf sich hat. Immerhin war Wally schon siebzehn und ein echtes Hitlermädchen. Jedenfalls hatte sie dies beim letzten Besuch immer wieder stolz betont.
Doch was wird mit Jutta und Karlchen?, kam ihr plötzlich der Gedanke. Sie konnte sie doch nicht allein zurücklassen. Bei dem schrecklichen Richard.
„Karlchen und Jutta müssen aber auch mit“, forderte sie bestimmt, „dann könnt ihr wieder nach Hause fahren. Nach Hamburg. Wo die Bomben gefallen sind.“
„Wir wollen auch mit.“ Jutta und Karlchen hängten sich an Rosi. „Wir wollen auch zu Oma und Opa nach Ziegelroda.“
„Da hast du es!“, empörte sich Richard. Er sah Nanny an, als könne sie was dafür. „Immer muss dieses ungezogene, vorlaute Ding das letzte Wort haben.“
Nanny streichelte zärtlich Rosis Hand.
„Leg doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage“, versuchte sie Richard zu beruhigen. „Sie ist halt etwas eigensinnig.“
„Und deshalb muss sie weg“, erwiderte Richard mit seinem bösen Ton in der Stimme. „Jutta und Karlchen bleiben hier. Bald ist Erntezeit. Da haben die Leute keine Zeit für kleine Kinder. Rosi kann dann schon mithelfen. Sie ist ja schon so groß.“ Er sah Rosi spöttisch an. „Oder glaubst du, du kannst dort faulenzen?“

Faulenzen? Nein, das könnte sie dort bestimmt nicht. So schön es auch war, zu tun gab es immer in Hülle und Fülle. Die Schweine quiekten schon frühmorgens vier Uhr. Der Hahn krähte auf dem Mist. Die Gänse und die Enten liefen schnatternd umher. Die Kühe mussten gemolken und versorgt werden. Genauso wie die Schweine in ihrem Schweinestall.
Von nichts kommt nichts, war ein beliebter und oft gebrauchter Satz Helenes und Wer rastet, der rostet.
Und Wally rief immer:
„Aufstehen!“, obwohl es noch nicht einmal sechs Uhr war. „Der Tag ist schon lange erwacht. Raus mit dir, kleine Langschläferin! Der frühe Vogel fängt den Wurm.“
Mit diesen Worten kitzelte sie Wally jeden Tag aus den Federn. Obwoghl sie weder ein Wurm noch ein Vogel war.

„Schade, dass ihr nicht mitdürft.“ Sie schüttelte Jutta und Karlchen sanft ab. „Ich werde mal in die Küche gehen, abwaschen. Wann soll's denn losgehen“, wandte sie sich an Nanny.
„So in ein, zwei Stunden.“ Nanny sah Richard an. „Ihr fahrt mit Elses Fahrrad. Sie braucht es ja zurzeit nicht.“
„Das wird eine Fahrt“, lachte Richard. „Juchheisa. Sind ja nur so siebenundzwanzig Kilometer. Die wirst du wohl aushalten. Was? Auf dem Gepäckträger. Dann sind wir dich endlich los, du verflixter Quälgeist. Und hier zieht endlich Ruhe ein.“
„Ich pack schnell deine Sachen.“ Nanny stand schon in der Tür.
„Ich komme mit“, bot sich Rosi eilig an. „Ich kann doch meine Sachen selbst aus dem Schrank holen und in die Tasche packen.“
„Du willst doch abwaschen.“ Richard hielt Rosi am Arm fest. „Versprochen ist versprochen.“
Nanny verschwand nach oben im Elternschlafzimmer. Rosi in der schmalen Küche.
Richard setzte sich vor die zwei Fenster auf die Couch und las die Nachrichten in der Zeitung.
Der Briefträger steckte jeden Morgen das Thüringer Volksblatt durch den Schlitz mit der Klappe in der blauen Holztür. Die Zeitung landete dann mit einem leisen, knisternden Geräusch auf dem Fliesenboden. Das fand Rosi so lustig, dass sie oft die Zeitung aufhob und selbst durch den Schlitz steckte.
Jutta und Karlchen holten den Ball aus dem Versteck unter der Treppe im Flur und rannten in den Hof.

*

„Nanny! Nanny!!“
Nanny eilte die Treppe hinunter, steckte ihren Kopf in die Stube.
„Was gibt es denn?“
Richard saß leichenblass stocksteif auf der Couch. Die Zeitung lag auf den Dielen.
„Da! Da!“, stammelte er und starrte auf eine zerfetze Seite. „Da!“
„Was ist denn? Richard!“ Nanny eilte in die Stube.
„Da.“ Richard zeigte auf die Zeitungsfetzen. „Nein! Das andere Blatt.“ Nanny bückte sich nach dem anderen Blatt.
„Lies“, forderte Richard. „Lies es! Nanny.“

-Feuersturm vernichtet Hamburg, las Nanny leise. 27. Juli 1943, 23.40 Uhr: Fliegeralarm in Hamburg. Die Menschen in der 1,5-Millionen-Stadt reagieren sofort, suchen die vermeintlich schützenden Keller und Bunker auf. Schon in den Nächten zuvor hatten britische Bomber schwere Angriffe geflogen - der Beginn des "Unternehmens Gomorrha...

„Weiter. Den Absatz darunter. Hammerbrook.“

Nanny las leise weiter.

- Spreng- und Brandbomben auf Arbeiterviertel - . 739 britische Flugzeuge brechen am 27. Juli abends in Richtung Hamburg auf. Innerhalb von nur drei Stunden werfen sie über 2.400 Spreng- und Brandbomben ab. Orientierungspunkt für die Piloten: die Nikolai-Kirche. Der dichte Bombenteppich trifft die dicht besiedelten Arbeiterviertel Hohenfelde, Hamm, Billbrook, Rothenburgsort, Hammerbrook und das östliche St. Georg. Über 400.000 Menschen halten sich zum Zeitpunkt des zweiten Großangriffs in diesem Gebiet auf, etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung. In der Innenstadt brennt die Alstertarnung, ein Netz aus Drahtgeflecht und kleinen Blechplättchen, - eine Fläche von 250.000 Quadratmetern steht in Flammen. In Stellingen zerstören die Bomben Hagenbecks Tierpark.

Erschüttert setzte sich Nanny neben Richard auf die Couch. Sie war leichenblass und atmete schwer.
„Hammerbrook“, sagte sie kaum hörbar. „Richard, schau doch mal das Datum. Hier“, sie zeigte mit ihrem Finger auf eine Stelle in der Zeitung, hielt sie vor Richards Gesicht, „27. Juli 1943. Das war vor einem Jahr Richard. Heute ist der 27. Juli 1944. Du hast ein altes Blatt gegriffen.“
„Verflixte, verhurte, widerliche Scheißnazis!“
Mit einem Satz sprang Richard von der Couch. Er fuchtelte mit seinen langen Armen und stampfte mit weit ausholenden Schritten durch die Stube. Dabei stieß er mit dem Kopf fast an die niedrige Decke.
„Verteufelte Hitlerfratze!“, schrie er. „Heil Hitler! Heil Hitler! Ich scheiß dir was! Dir und deinem verfluchten Krieg. Jetzt haben wir die Retourkutsche!“
„Bist du von Sinnen?“, flüsterte Nanny ängstlich. „Beruhige dich. Wir können doch nichts daran ändern. Sei froh, dass wir noch leben. Reiß dich zusammen, Richard. Die Kinder. Sei still.“ Nanny streichelte Richards zuckende Hände, setzte ihn vorsichtig auf die Couch, legte seinen Kopf in ihren Schoß, einen Finger auf seinen Mund und sagte wie zu einem kleinen Kind: „Pst, pst.“

Rosi wusste selbst nicht, wie ihr geschah. Sie empfand plötzlich Mitleid mit Richard. Obwohl ihr der Po noch ganz schön weh tat von seinem Riemen. Die Tränen traten ihr in die Augen. So hatte sie diesen großen, bösen Mann noch nie gesehen. So klein und hilflos wie ein Kind. Mitfühlend setzte sie sich auch neben Richard und streichelte seine schwarzen, struppigen Haare. „Alles wird gut“, flüsterte sie. „Alles wird gut.“
„Was redet ihr da!“ Richard sprang wieder von der Couch. „Nichts wird gut. Ein einziges Inferno ist diese verdammte Welt! Ein einziges Inferno!“
Wütend strich Richard seine vom Kopf abstehenden Haare aus der Stirn. Dabei riss er versehentlich die Augenklappe herunter und erstarrte.
Rosi erstarrte auch. Fassungslos blickte sie in Richards Gesicht. Wo war das Glasauge?
Er hat gar keins, dachte sie entsetzt.
Zwei schwarze Augen funkelten sie traurig an. Traurige Hundeaugen. Wie bei dem anderen Richard. Nur dass diese größer waren und nicht funkelten.
„Wo ist das Glasauge Nanny?“
„Welches Glasauge?“
„Richard seins. Es ist weg.“
„Wir müssen es ihr sagen, Richard.“
Nanny zog Richard die Treppe hinauf. Rosi trabte verunsichert hinterher. Was mussten sie ihr sagen? Es war bestimmt nichts Gutes. Oder vielleicht doch? Vielleicht ein Geheimnis? Überall gab es Geheimnisse.

Im Verschlag setzten sie sich auf den Fußboden unter das Bild mit dem Jesus und der Weltkugel. Keiner sagte ein Wort. Die Erschütterung war zu groß.
„Es war ein sehr heißer Sommertag, der siebenundzwanzigste Juli im vorigen Jahr“, brach Nanny endlich das Schweigen. „Sogar am Abend waren es noch so dreißig Grad. Aus den engen Häuserschluchten des Hamburger Arbeiterviertels Hammerbrook, da wo wir wohnten, zog es die Menschen in die Parks, in die Kneipen, an die Kanäle, die diesen dicht besiedelten Stadtteil durchziehen, wie ein unendlich langes, blaues Band... ."
Nanny schwieg wieder. Nachdenklich schaute sie zu Richard. Der hatte seine großen Fäuste auf seine Augen gedrückt und wiegte mit dem Oberkörper hin und her. Hin und her. So, als wolle er sich selbst in den Schlaf wiegen.
„Plötzlich brach das Inferno los… .“ Mehr zu sich selbst, als zu Rosi sprach Nanny mit kaum vernehmbarer Stimme weiter, den Blick immer auf Richard gerichtet: „Zwei Nächte zuvor waren die westlichen Stadtteile Eimsbüttel, Altona und auch der Hafen schwer getroffen worden. Doch keiner ahnte, dass auf den Straßen Hammerbrooks ein Inferno losbrechen würde, das fast den gesamten Hamburger Osten in Schutt und Asche legen sollte. Mit Zehntausenden Toten. Wegen der Hitze und der Trockenheit standen schon kurz nach dem ersten Bombenabwurf um ein Uhr zwei Minuten in der Nacht ganze Straßenzüge in Flammen. Die Brände verbreiteten sich mit rasender Geschwindigkeit. Ein Feuersturm brach los. Es war, als ob ein Orkan über die Stadt fegte. Die Rettungskräfte konnten die Brände nicht löschen. Die Menschen torkelten schreiend auf die Straßen. Umlodert von den Flammen. Sie fielen einfach um. Sie fielen um. Oder sie verbrannten oder erstickten in den Luftschutzkellern. Sofern sie diese überhaupt erreichten. Die Straßen verwandelten sich in Windeseile in glühende Schutthalden. Noch nach Tagen konnte man die Hitze spüren.“
Nanny war ganz nahe an Richard gerückt. Rosi sah, wie ihm die Tränen hinter den Händen übers Gesicht liefen. Zärtlich nahm Nanny ihn in ihre Arme.
Sie weinte auch.
„Wir waren bei einem befreundeten Ehepaar gewesen“, wandte sie sich wieder an Rosi, „und auf dem Weg nach Hause. Richard lief wie ein Irrer durch die brennenden, stinkenden, qualmenden Straßen. Ich immer hinter ihm her, um ihn aufzuhalten. Doch er hörte nicht. Wir stolperten über verbrannte Leichen, Schutt und Steine, immer den Rauch und den Brandgestank um uns, in uns. Wir bekamen keine Luft mehr. Doch endlich fanden wir unser Haus. Es war nur zum Teil zerstört. Richard rannte hinein. Er wollte die Papiere holen. Und dann, als er mit den Ausweisen in der Hand auf der Treppe stand und mir zuwinkte, ertönte ein Krachen und Poltern. Eine Feuerfontäne stieß in den schwarzen Himmel. Das Haus stürzte ein. Es begrub Richard unter sich.“
„Nanny“, sagte da Richard mit einer plötzlich ganz ruhigen, klaren Stimme, „Nanny, was erzählst du denn da? Das versteht das Kind doch noch nicht.“
„Später wird sie es verstehen“, sagte Nanny. „Und auch dein Verhalten.“
Nanny nahm Rosi in den Arm. „Du bist ein kluges Kind.“ Sie küsste Rosi auf ihr niedliches Stupsnäschen. „Und viel hübscher und verständnisvoller als alle anderen Kinder in deinem Alter.“
Rosi schlüpfte aus Nannys Arm.
„Und was ist nun mit dem Auge?“, fragte sie. „Und wie ist Richard unter dem Haus hervorgekommen?“
„Die Rettungskräfte waren gleich zur Stelle. Sie zogen Richard unter den Trümmern hervor. Aber seitdem redet er manchmal etwas irr. Er wird auch schnell wütend und ungerecht. Das hast du ja selbst erlebt. Dann wieder sagt er lange Zeit gar nichts. Das ist noch schlimmer.“ Nanny seufzte laut auf. „Ja, es ist nicht ganz leicht.“
„Und das Glasauge? Und die Augenklappe?“
„Richard glaubt seitdem, er habe ein Auge verloren. Deshalb die Klappe.“
Nanny legte Richard die Augenklappe, die an einem Band an seinem Hals hing, wieder über das Auge. „So“, sagte sie, „das beruhigt. Nun kannst du dich wieder sicher fühlen.“ Sie zog Richard von dem Fußboden. „Ist schon gut“, flüsterte sie. „Alles ist gut.“
Rosi sah Richard zum ersten Mal lächeln.
„Ich liebe dich“, sagte er zu Nanny und küsste ihre Hände. „Was wäre ich ohne dich. Bitte sing doch mal wieder unser Lied.“
„Aber gern Richard.“
Nanny sang endlich wieder ihr Mariandel, andel, andel… .“
„Ich werde ganz artig sein“, versprach Rosi, nachdem Nanny verstummt war. Sie streichelte Richards schwere Hand, „und wenn nicht, soll mich der liebe Gott strafen.“
„Ach Kind!“ Nanny nahm Rosi wieder in ihre Arme. „Du bist so ein erschreckend einfühlsames Kind. Else weiß gar nicht, was sie an dir hat.“
„Fahren wir nun nach Ziegelroda, Onkel Richard?“
„Ja“, erwiderte Richard, der sich wieder gefangen hatte, viel freundlicher als sonst. „Es ist besser für dich. Und du willst ja auch deine Großeltern und deine Tante Wally mal wiedersehen.“

Und ob Rosi das wollte. Und wenn sie wieder hier sein würde, käme sie ja endlich in die Schule. Nur schade, dass Jutta und Karlchen nicht mitdurften. Aber sie waren ja noch zu klein und würden nur stören, jetzt in der Erntezeit.
„In einer Stunde könnt ihr losradeln.“ Nanny lachte. „Es wird bestimmt ganz toll. So eine Fahrt durch das schöne Thüringer Land.“

***

Fortsetzung in Kapitel 8
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Ein dramatisches Kapitel. Auch mir geht es so, dass mir Richard leid tut obwohl er so ein brutaler Kerl ist. Rosi scheint ein einfühlsames intelligentes Kind zu sein. Ich bin gespannt, wie die beiden während der langen Fahrt, die sie zu erwarten haben, miteinander hinkommen. Vom Schreibstil her, gefällt mir die Realität, die du herbeizauberst. Gerne gelesen.

doska (01.01.2013)

danke michael, und so richtig einfühlen können wir uns wohl auch nicht, aber zumindest versuchen. ich wollte damit erklären, dass jedes verhalten, besonders das böse, irgendwo seinen ursprung hat. in richards fall war es das verschüttetsein und die unsagbare angst.
gruß von


rosmarin (18.12.2012)

Dieses Kapitel ist meiner Meinung nach das spannendste Kapitel deines Romans, obwohl es in den anderen Folgen auch schon gewaltig knisterte.Zu Beginn habe ich Richard auf Grund seines aggressiven Verhaltens regelrecht verflucht. Ich habe mit Rosi förmlich mitgelitten. Sicher ist seine Aggressivität auf dieses einstürzende Haus zurückzuführen. Psychische Langzeitfolgen, die mitunter auch verheerend sein können, bleiben da oft nicht aus. Ein Mensch, der so ein Inferno noch nicht erlebt hat, kann sich so etwas kaum vorstellen. Diesbezüglich kann ich dir bescheinigen, dass du diesen Bombenangriff ganz toll und vor allem sehr lebensecht rübergebracht hast!
Für weitere Spannung ist also gesorgt.
Wirklich total super geschrieben!
LG. Michael


Michael Brushwood (17.12.2012)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Die Kinder von Brühl 18/ Teil 4/ Hammer Zirkel Ährenkranz/Episode 10/ Die verpatzte Verabredung und das verpasste Abenteuer  
Die Kinder von Brühl 18/Teil 4/Hammer Zirkel Ährenkranz/Episode 9/Der Spaziergang um den Teich mit den Trauerweiden und Norberts Geheimnis  
Die Kinder von Brühl 18/ Teil 4/ Hammer Zirkel Ährenkranz/Episode 8/Das Hexenkind die Weizenernte Norbert und der Fleischersohn  
Die Kinder von Brühl 18/ Teil 4/ Hammer Zirkel Ährenkranz/Episode 7/ Im August im August blühn die Rosen Fräulein Ziehe erzählt von den 3. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin und Rosi fasst einen Entschluss   
Die Kinder von Brühl 18/ Teil 4/ Hammer Zirkel Ährenkranz/Episode 6/ Der Pfingstsonntagsbraten der Engel mit der Laute und Erichs trauriges Schicksal   
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De