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9 Seiten

DER HIMMEL UEBER ROM, Teil 3 - HOHER BESUCH...

Romane/Serien · Spannendes
HOHER BESUCH…

Der Frühling war endlich gekommen! Vanadis begrüßte ihn enthusiastisch, obwohl sie manchmal dachte, der Frühling in Rom wäre genauso blenderisch wie die Prostituierten am Fuße des Kapitols, auch diese warfen sich in wundervolle Kleider, um ihre Freier zu betören, und genauso tat es der Frühling. Doch nach ein paar Wochen der saftigen grünen Pracht verlor er seine duftigen Gewänder und kleidete sich plötzlich in Verstaubtes und Vertrocknetes. Dennoch hatte sie den Frühling immer freudig begrüßt, seinen blauen Himmel bestaunt und die federweißen Wolken darin. So schön, so leicht, so verheißungsvoll…
Dummes Zeug, für eine Sklavin gab es nichts Verheißungsvolles!
Swari, die zierliche Syrierin war ganz aufgeregt: „Sie kommt, sie kommt!“, sagte sie mit zitternder Stimme.
Vanadis hatte keine Ahnung, wen sie damit meinte. Aber es musste sich um eine höhergestellte Person handeln. Vielleicht um eine adelige Freundin der Herrin des Hauses. Na gut... Sie folgte den anderen Sklaven, welche sich allesamt am Portal des Stadthauses aufgestellt hatten wie Soldaten, die einem hohen Offizier huldigen wollten. Vanadis stellte sich unauffällig als Letzte dazu.
Sie sah durch das geöffnete Tor, wie eine Sänfte vor dem Haus hielt. Sie wurde von acht Sklaven getragen, und ihr Inneres war mit einem kostbar wirkenden Stoff verhüllt.
Dieser teilte sich, und eine junge Frau stieg aus. Sie hatte schwarzes, leicht lockiges Haar, ein rundes Gesicht, strahlend blaue Augen, und der leichte Gang, mit dem sie auf das Hausportal zuschritt, war aufregend anzusehen. Vermutlich war das der Ursprung ihrer Schönheit, diese Leichtigkeit…
Vanadis musste schlucken. Sie kannte dieses Gesicht, sie hatte es schon auf Münzen gesehen. Nein, das konnte nicht sein... Oder doch? Unauffällig stieß sie Bobum an, der neben ihr stand und flüsterte ihm leise ins Ohr: „Ist sie das, wofür ich sie halte?“
Bobum nickte und flüsterte zurück: „Keine Ahnung, wofür DU sie hältst. Ich zumindest halte sie dafür...“
Seltsam, diese Doppeldeutigkeit. Vanadis fühlte sich immer noch nicht klüger, aber sie hatte schon eine vage Ahnung.
„Nimm dich in acht“, raunte ihr die üppige Nubierin zu. „Diese Frau duldet keine anderen schönen Frauen neben sich. Also ziehe ein griesgrämiges Gesicht, mache dich krumm – und vor allem bedecke dein blondes Haar...“
Vanadis war für ein Moment lang wie erstarrt, doch dann befolgte sie hastig diese Anweisungen, sie hatte immer ein Tuch dabei, um ihre Haare zu verstecken, damit sie nicht die Begehrlichkeit der Herrin erweckten. Und es war erfolgreich: Der Blick der vornehmen Besucherin glitt an ihr vorbei – und sie schwebte ins Innere des Hauses, wo die Sidonia schon stand und sie liebevoll umarmte.
„Liebste Cousine! Wie schön du aussiehst und wie ich mich freue, dich zu sehen!“ Diese Rede hörte sich überaus ehrlich an, und die kaiserliche Cousine zeigte sich auch dementsprechend geschmeichelt.
„Liebste Sidonia, ich habe dir soviel zu erzählen. Ich muss ab jetzt wieder öfter zu dir kommen...“
Die beiden Frauen gingen miteinander plaudernd durch das Vestibül am Wasserauffangbecken vorbei in Richtung Garten. Bei dem Haus der Colonii handelte es sich nicht um ein einfaches Atriumhaus, sondern um ein sogenanntes Peristylium, das hieß: es war mehr als doppelt so groß – und es besaß im hinteren Teil einen wundervollen Säulengang, der den Garten umschloss.

„Was war das denn?“, fragte Vanadis verwirrt.
Die anderen Sklaven fingen an zu lachen.
„Das war“, gluckste die Nubierin, „unsere werte Kaiserin, eine überaus vornehme Dame, die es sich zu Aufgabe gemacht hat, die gesamte männliche oder auch weniger männliche Bevölkerung des Römischen Reiches zu ficken!“
„Oh!“ Vanadis kamen jetzt einige Erzählungen in den Sinn. Sie hatte sie für übertrieben gehalten, denn eine Kaiserin konnte sich doch nicht so verhalten. Oder doch? „Seid ihr sicher“, fragte sie zögernd nach.
„Und ob wir sicher sind, liebste Vanadis“, die Nubierin zeigte höhnisch ihr strahlend weißes Gebiss. „Das ist eine Schlampe vom feinsten römischen Adelsblut, vor der ist kein Mann sicher und sei er auch der älteste, hässlichste und grässlichste Kerl des ganzen Kaiserreichs.“
„Oh“, sagte Vanadis noch einmal. Und jetzt kam es ihr voll zu Bewusstsein: Diese wunderschöne Frau war die Kaiserin Messalina, die junge Frau des doch recht alten Claudius.
„Die Herrin ist aber auch nicht viel besser...“, gab Bobum noch einen drauf.
„Das weiß ich doch“, sagte Vanadis, „aber dass die Kaiserin auch so sein könnte, das habe ich nicht geahnt.“
„Mach dir keine Ahnung davon, denn jede deiner Ahnungen wird von den beiden übertroffen werden. Die beiden sind Miststücke vom Feinsten. Ausgeburten der Hölle. Direkt aus Bacchus’ Arsch geboren...“
„Ich glaube nicht an die römischen Götter...“ Nein das tat sie nicht, sie glaubte an einfache Götter, an die des Bodens und der Ernte. Und die waren eher für Frauen zuständig.
„In diesem Fall kannst du ruhig an sie glauben!“
Die Sklaven hatten sich alle in der riesigen Küche des Hauses versammelt, auch der griechische Koch war anwesend, es handelte sich um einen Freigelassenen namens Plejades, den die Herrin für teures Geld erworben hatte, um für sie die ausgefallensten Gerichte zu kreieren. Normalerweise wurde im Haus eher schlicht gespeist, aber bei Gesellschaften kam es oft vor, dass alles auf den Tischen serviert wurde, was als teuer und ausgefallen galt.
Teuer und ausgefallen… Der römische Geschmack in Bezug auf Essen war sonderbar, wie Vanadis dachte. Der Adel bevorzugte zum Beispiel gefüllte Mäuse, und das war in Vanadis Augen Ungeziefer, es schmeckte brechreizerregend nach Moschus und nach Verwesung, sie fing schon an zu würgen, wenn sie nur daran dachte, und sie hoffte insgeheim, dass sie nie so einen Hunger erleiden würde, um DAS essen zu müssen.
Dennoch war der Koch Plejades kein Schlechter. Auch er hatte anscheinend eine Meinung zu der Kaiserin. Er sprach zwar sehr leise, aber dennoch überaus leidenschaftlich, als er sie kundtat:
„Die Messalina bescheißt den Kaiser, wo sie nur kann. Dieser bewundert sie, weil sie so gut mit ihrem Haushaltsgeld klarkommt. Damit richtet sie riesige Feste aus und ist immer prächtig und aufwändig gekleidet. Aber...“ - alle Augen hingen an seinem Mund bei diesen Worten, „aber… sie bescheißt ihn! Ganz einfach ist das: Sie bescheißt ihn. Er vertraut ihr alles Mögliche an, unter anderem auch die Bürgerrechte, die nur Auserwählten des Reiches zugute kommen sollen. Er überlässt ihr sogar das kaiserliche Siegel. Und was macht sie? Sie lässt sich von dem miesesten Abschaum bezahlen für die Bürgerrechte. Und das nicht zu knapp! Wen wundert’s denn, dass es mittlerweile Senatoren gibt, die miesester Abschaum sind. Sie kaufen ihre Wähler, genauso wie sie die Kaiserin gekauft haben...“
Vanadis fand das nicht besonders interessant. Der Koch liebte anscheinend den Begriff „miesester Abschaum“ sehr. Und der alte Abschaum, der schon seit Jahren im Senat saß, war ja auch nicht viel besser als der neue. Und außerdem ging sie das gar nichts an, sie war Sklavin und hatte keine Wahl, sie konnte keine Bürgerrechte erlangen, geschweige denn Senatorin werden. Sie musste lachen bei dem Wort Senatorin. Das war so absurd, so vollkommen unvorstellbar, da konnte ja eher die Messalina prüde und mildtätig werden...
„Und dann wisst ihr auch bestimmt, dass die Messalina die Aufsicht über die Vestalinnen hat?“
Vestalinnen, was waren das noch mal für welche? Vanadis überlegte… Ach ja, die Vestalinnen waren die Priesterinnen der Vesta, der römischen Göttin des Feuers und somit auch von Heim und Herd. Es waren heilige Jungfrauen mit einigen Privilegien. So durften sie im Zirkus und im Theater auf den Ehrenplätzen der Senatoren sitzen. Gefangene, die auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung einer Vestalin begegneten, wurden freigesprochen. Es waren wirklich Frauen mit viel Einfluss, soviel wusste sie mittlerweile. Weil die Colonia ihr es erzählt hatte. Ach, die Kleine…
„Ja und?“, fragte die Nubierin nach.
„Nun, sie hat damit die Kontrolle über die vielen Frauen, welche Beichten ablegen bei den jungfräulichen Priesterinnen der Vesta. Und sie kann diese Frauen damit erpressen...“
„Das ist aber wirklich eine Schlimme!“
„Nicht schlimmer in dieser Beziehung als die Großmutter des Claudius, die Frau des Augustus...“ Der Koch, der dem Kaiserhaus gar nicht wohlgesinnt war, lachte höhnisch auf. „Es bleibt eben alles in der Familie. Aber wo die Livia sich dem Reich verbunden fühlte, da ist das Miststück Messalina egoistisch und triebhaft.“ Bei diesen Worten spuckte er aus. Fast wäre seine Spucke in der Fleischsuppe gelandet, fast nur, trotzdem war es ekelhaft, und Vanadis entschloss sich spontan, heute Abend nichts von der Suppe zu essen.
„Guter Plejades, sag das bitte nicht so laut. Mittlerweile haben die Wände Ohren, und es ist ja fast so, als wäre der schreckliche Caligula noch unter uns.“
„Die ist genauso schlimm! Caligula war verrückt, grausam und gierig nach Geld. Sie aber ist gierig nach Geld und Lust und Erniedrigung. Sie bestraft jeden mit dem Tode, der nicht mit ihr schlafen will und der sie nicht als schön befindet. Sie lässt gute und treue Ehefrauen vor den Augen ihrer Männer Ehebruch begehen. Und auch vom Geld kriegt sie nicht genug in den Rachen gestopft! Genauso wenig wie von den männlichen Tei...“
„Sei still Plejades, ich bitte dich!“ Es war Bobum, der den Koch unterbrach. Denn in der Zwischenzeit war die Tür zur Küche aufgegangen und die Tochter des Hauses hereingekommen.
Eigentlich war die Colonia ein hübsches Mädchen – sie sah der Herrin ein wenig ähnlich – wenn nur ihr rechter Fuß nicht so verkrüppelt gewesen wäre. Dieser hing kraftlos an ihrem Bein und behinderte sie bei jedem Schritt. Und so hinkte sie langsam in die Küche hinein.
Alle Gespräche verstummten auf einmal. Die Bediensteten des Hauses mochten das kleine Mädchen. Es war in einem gewissen Sinne nicht besser dran als sie selber. Es wurde von seiner Mutter geschlagen, beleidigt und immerzu weggestoßen, und so kam es, dass es sich bei den Sklaven des Hauses wohler fühlte als bei der leiblichen Mutter. Ein armes Kind war das. Immerhin hatte es eine enge Verbindung zu Marcus, dem Herrn des Hauses, doch dieser befand sich meistens auf Feldzügen im Auftrag des Kaisers. Wenn er aber da war, dann kümmerte er sich rührend um seine kleine Tochter.
Vanadis verspürte eine seltsame Zuneigung zu dem kleinen Mädchen. Wie in Rom üblich war es nach dem Familiennamen des Vaters benannt worden – Marcus Colonius – also hieß es dementsprechend Colonia. Ein schöner Name, wie Vanadis fand. Sie mochte das kleine Mädchen sehr. Es hatte leider kaum Spielgefährten, denn die römische Gesellschaft akzeptierte nur vollkommen gesunde Kinder – zumindest dem Äußeren nach – wie Vanadis verächtlich dachte – und die anderen vornehmen Damen ließen ihre Kinder nicht gerne mit der Colonia spielen. Dabei war das kleine Mädchen überaus intelligent, bei ihrem Hauslehrer hatte es in Blitzesschnelle das Schreiben gelernt, obwohl es erst acht Jahre alt war. Und dann hatte es eine Sklavin namens Vanadis darin unterrichtet. Colonia war eine ausgezeichnete Lehrerin, und Vanadis erwies sich als ausgezeichnete Schülerin. Sie saugte alles Wissen auf, das sie bekommen konnte. In nur einem Jahr hatte sie die latinische Schrift schreiben gelernt - das Sprechen hatte die Mutter ihr als Kind schon beigebracht – sie konnte auf Wachstafeln Notizen machen, die ihr beim Einkaufen sehr behilflich waren, und sie hatte gelernt, mit den römischen Zahlen zu rechnen.
Aber nicht deshalb liebte Vanadis dieses Kind, sie hatte es einfach gern. Denn es erweckte ihr Mitleid. Seltsam, sie war eine Sklavin und fühlte Mitleid mit einem hochgeborenen Kind. Aber so war es nun einmal.
„Sollen wir ins einkaufen gehen?“ Sie lächelte der Colonia zu und hielt ihr die Hand entgegen. „Au ja“, jubelte die Kleine
„Es müssen doch bestimmt noch Besorgungen gemacht werden?“, fragte Vanadis den Koch. Dieser nickte. „Ich brauche unbedingt noch Knoblauch, aber frisch muss er sein. Und vielleicht ein bisschen gutes Brot, mit Käse überbacken.“
Mit ‚gutes Brot’ meinte er das feine Weißbrot. Mit den anderen Sorten des Brotes konnten sich die niederen Massen abgeben.
Vanadis musste lächeln, in so einem großen Haushalt fehlte doch immer etwas. Sie vermerkte die Wünsche des Kochs auf einer zusammenklappbaren Wachstafel, auf der man mit einer harten Gänsefeder Notizen niederschreiben und auch schnell wieder wegwischen konnte. Kaum jemand in diesem Haushalt war des Schreibens fähig. Außer dem Koch natürlich, aber der hatte weder Zeit noch Lust, sich auf den Märkten herumzutreiben und um Oliven zu feilschen. Er gab lieber Vanadis eine gewisse Summe Geldes und ließ sie das erledigen.
Und Vanadis genoss die Freiheit, die sie während ihrer Einkäufe hatte. Wenn die Herrin des Hauses wüsste, was sie in dieser Zeit so nebenbei alles trieb ... Aber sie wusste es nicht. Auch der Koch wusste es nicht.
Einkaufen war schön, man konnte sich immer herausreden, wenn es länger gedauert hatte: Dort gab es kein richtig frisches Weißbrot, zumindest sah es so aus, dort erschien ihr der Käse schimmelig zu sein und dort war das Fleisch nicht rot, sondern grünlich angegammelt ...
Nachdem der Koch ihr noch einiges in Auftrag gegeben hatte, machten sich Vanadis und Colonia endlich auf den Weg zum Forum Romanum, dort wo das Leben pulsierte. Natürlich hatte Vanadis nicht wirklich vor, das Forum zu erreichen. Nein, das wollte sie nicht. Sie würden schon auf dem Weg dorthin ihre Besorgungen machen.
Sie nahmen die beiden stummen Sklaven mit, die beiden waren kräftig genug, um die Colonia zu tragen, denn eine Sänfte hatte die Herrin ihrer Tochter verboten, das wäre nur verschwendete Mühe für sie. Dieses Rabenaas, wie Vanadis verächtlich dachte.
Die Sklaven nahmen die Kleine abwechselnd huckepack auf den Rücken, das gefiel ihr überaus gut, und sie musste immerfort drüber lachen, sie tat so, als säße sie auf einem Pferd, welches sie antrieb mit einer Peitsche: „Willst du wohl galoppieren, du edles Ross!“, und manchmal tat ihr der jeweilige Sklave den Gefallen und fiel in einen sanften Pferdegalopp, und das machte sie dann noch glücklicher. So kamen sie schnell voran.
Der Weg führte teilweise an der Subura vorbei, dem Armenviertel Roms. Es handelte sich um ein übelbeleumdetes Viertel, dort gab es Prostitution und illegales Glücksspiel. Dort gab es angeblich Schlägereien und Morde, die keinen Gesetzeshüter scherten.
Vanadis musste lachen, sie war froh über ihre bescheidene Kleidung, ihre lange Tunica zeigte erkennbar, dass sie aus billigstem Wollstoff war, ihr Haar trug sie wie immer in geflochtenen Zöpfen nach Chattenart, zudem verbarg sie deren auffallende blonde Farbe durch ein über den Kopf geschlungenes Tuch. So konnte sie keine Begierden erwecken. Auch die kleine Colonia war sicher, denn die beiden Sklaven sahen groß und kräftig genug aus, um jeden, der Böses im Sinn hatte abzuschrecken.
Immer nach oben schauend – man konnte nie wissen, wann ein Nachttopf über einem ausgeleert wurde - erreichten Vanadis und die Tochter des Hauses Colonius endlich die Straße Argiletum. Diese war sehr viel ungefährlicher als die Subura.
Sie führte zum Palatin; der kaiserliche Hügel lag weiter südlich auf der anderen Seite des Forum Romanum, dort wo auch der Sklavenmarkt stattfand. Und mit dem verband Vanadis üble Erinnerungen.
Also bummelte sie mit der Kleinen herum, versuchte sie vom Forum fernzuhalten, entdeckte mehrere Geschäfte kurz vor dem Forum – und da gab es alles, was auf ihrer Einkaufsliste stand… Gut, die Einkäufe waren erledigt, und sie hatten das Forum nicht einmal gesehen.
„Wir haben alles und können zurückgehen“, verkündete sie fröhlich.
Die Colonia schaute sie skeptisch an, manchmal hatte Vanadis das Gefühl, dieses kleine Mädchen wüsste viel zu viel über sie, aber das konnte doch nicht sein. Sie wollte es ablenken, deutete bei einem Händler auf einen Ballen Stoff und sagte: „Schau mal, Colonia, das würde doch ein schönes Gewand für dich abgeben!“
Die Colonia stimmte ihr zu: „Das ist wirklich hübsch! Aber DU solltest es tragen…“
„Bitte Loni, das geht doch nicht…“ Vanadis musste lachen.
„Für mich bist du die schönste Frau, die ich kenne“, auch die Colonia musste kichern.
„Dann kennst du bestimmt nicht viele Frauen ...“ Oh nein, das hatte sie nicht sagen sollen, Vanadis hielt sich schnell die Hand vor den Mund. Es konnte so verstanden werden, dass die Colonia in der römischen Gesellschaft verachtet wurde wegen ihrer Behinderung. Sie schaute die Kleine von der Seite her an und sah, dass sie grinste. Dem Jupiter sei Dank, sie hatte es ihr nicht übelgenommen.
„Viel zu viele, liebe Vanadis, ich kenne viel zu viele“, sagte die Colonia. Und Vanadis fühlte sich erleichtert.
Sie befanden sich wieder mitten im Argiletum-Viertel, hier fühlte Vanadis sich wohl, hier gab es keinen Sklavenmarkt, dafür aber andere aufregende Dinge. Denn die Hauptstraße dieses Viertels war bekannt für seine Buchhändler und vor allem durch die großen Literaturverlage.
Dort erhielt man alte Werke, Schriftrollen im Kodex gebunden und somit gut zu lesen, es gab griechische Gedichte, ins latinische übertragen, von Theokrit zum Beispiel. Oder römische von Vergil und Horaz.
Und es gab Schriften des jetzigen Kaisers. Ja wirklich, Claudius war ein Gelehrter, er beherrschte als einer der wenigen noch die etruskische Sprache, die praktisch ausgestorben war, und er hatte ein Werk über die Etrusker geschrieben, welche die Kultur Roms stark beeinflusst hatten, bevor sie in derem aufsteigenden Imperium aufgingen, beziehungsweise sich verloren. Und er hatte ein Buch über die Punischen Kriege und die Geschichte Karthagos verfasst. Ein Schriftsteller als Kaiser! Warum nur wurde er nicht entsprechend gewürdigt? Nein, man machte nur dauernd Anspielungen auf seine körperlichen Leiden: Er hinkte von Geburt an – in dieser Beziehung glich er der Colonia – und brachte in der Öffentlichkeit kaum einen Satz heraus, ohne zu stottern. Vanadis schüttelte unmerklich den Kopf.
Vor den Buchläden und Verlagen trieben sich immer arbeitsuchende Schreiber herum, sie warteten darauf, dass jemand sie aussuchte, um Kopien von Schriftrollen zu machen.
Vanadis war mittlerweile so sicher im schriftlichen Ausdruck, dass sie alles kopieren konnte: die Manuskripte der Klassiker, Rezepte, oder Urteile, die ein windiger Anwalt gerade brauchte.
All das hatte sie schon getan. Auf Papyrus zu schreiben war natürlich sehr viel schwerer als auf eine simple Wachstafel. Man sollte sich besser nicht vertun, Papyrus war teuer. Wenn sie sich in dieser Straße befand, dann war sie wie ein Knabe gekleidet, das Brustband eng geschnürt, sie trug eine männliche Tunica - von Bobum ausgeliehen - und einen Turban auf dem Kopf. Denn einer Frau hätte niemand einen Auftrag erteilt.
Hier war es fast so aufregend wie in der großen öffentlichen Bibliothek, die von dem Kaiser Tiberius gestiftet worden war. Es war schwer, dort hineinzugelangen als Unfreier. Die meisten Leser, natürlich Bürger Roms oder Freigelassene hatten ihre eigenen Sklaven dabei, um sich von diesen auserwählte Werke vorlesen zu lassen.
Aber es lief ähnlich ab wie in der Straße der Buchhändler: Auch dort warten viele Arbeitswillige, um Aufträge zu erhalten.
Und so hatte sie einmal diese heiligen Räume betreten können. Aber so heilig waren die gar nicht, wie Vanadis feststellen musste. Überall erklangen laute Stimmen, die irgendwelche Werke vorlasen, es war nicht der stille Ort der Besinnung, wie sie sich ihn vorstellt hatte. Dennoch überwältigend! Die marmornen Wände waren mit Reliefs bedeckt, die den großen Kaiser Augustus und seinen Nachfolger Tiberius zeigten; einer der Räume war riesig hoch, und in seiner Mitte erhob sich eine Statue, die den Gott Apollo darstellte. Es war wunderbar!
Noch wunderbarer war: Durch ihre Schreibarbeiten gelang es ihr, einiges an Geld zu verdienen. Natürlich würde sie damit nie ihre Freilassung erkaufen können, es war viel zu wenig. Aber vielleicht konnte es irgendwann nützlich für sie sein.
 
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Kommentare  

danke schön, doska!
ich hoffe, dass es dir auch weiterhin gefällt. und ja, es wird vanadis irgendwann helfen, weiter leben zu können, aber das dauert noch.... ;-)


Ingrid Alias I (04.10.2014)

Hallo Ingrid.
Wieder ganz prima. Mann ist das schön, dass man sich durch deine Worte so richtig in diese Zeit hinein versetzt fühlen kann. Vanadis ist listenreich und klug und hat einen ganz eigenen Willen. Ich bin gespannt, was sie noch so alles tun wird, um sich freikaufen zu können. Schlimme Zeiten damals, aber sie ist ein starker Mensch in einer - eigentlich völlig verfahrenen - Lebenssituation. Wenn ich so etwas lese, dann bin ich immer wieder froh, in unserer heutigen Zeit geboren worden zu sein. Aber gäbe es eine Zeitreise, würde ich gerne mal in diese Vergangenheit hineinschnuppern wollen. Und so ein bisschen ist das so wenn man deinen Roman liest.
Ganz liebe Grüße


doska (01.10.2014)

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