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7 Seiten

Das Messer (Teil 3 von 3)

Spannendes · Kurzgeschichten
Am Dienstag nach Ostern betrittst Du das erste Mal wieder die Praxis. Dir ist unwohl. Was mögen die anderen alle von Dir denken? Ganz hibbelig hängst Du die Jacke auf. Deine Handtasche löst sich von der Schulter. Auf dem Boden aufschlagend öffnet sich gleich das Schloss. Lidschatten, Lippenstift, Mascara und Spiegel kullern über den Boden. Mittendrin im Chaos liegt ein großes, unförmiges Küchenmesser.

Du spürst die Blicke der Geier in Deinem Nacken. Deine Härchen stellen sich auf. „Ich muss es nach der Arbeit zum Schleifen bringen“, sagst Du mit weinerlicher Stimme, den Blick nicht vom Boden heben könnend. Als könnte Dir das Zählen der Fliesen irgendeine Erleichterung bringen.

Hinter und über Dir hörst Du das Zischen der Handys. Beweisfotos werden gemacht.

Eine halbe Stunde später übergibst Du Deine Tasche Deinem neuen Bekannten. Nach der Spurensicherung würde er sich wieder melden.

Der Tag geht holprig weiter. Du kannst Dich nicht konzentrieren, schreibst mit vielen Fehlern, wählst falsche Medikamente für die Rezepte aus, holst aus dem falschen Wartebereich einen verkehrten Herrn Müller und kannst es nicht ertragen, dass niemand mit Dir spricht.
Alleine mümmelst Du Dein Brot in der leeren Küche. Nachdem Du hinein getreten bist, sind die anderen gegangen. Angeführt von Emilie. Hat die noch immer nicht genug mit ihrer Hassfahrt?

Auf der Treppe zur U-Bahn knickst Du um. Als Du in der Nordstadt bei Verena ankommst, ist der Knöchel schon stark geschwollen. Schnell kühlt die Freundin mit Eis. Dann der Anruf von der Polizei. Dir ist schlecht, Du gehst nicht ran. Beim zweiten Mal erbarmt sich Verena. Am Messer sind nur tierische Spuren zu finden, soll ich Dir von einem Herrn Sahin ausrichten. Der nette Assistent des grausamen Kommissars. Ob er den Anruf unter der Hand getätigt hat?

Der Gedanke ist noch nicht verraucht, da bimmelt er ein weiteres Mal an. Ob ich verfolgt werde, will er wissen. Ich bin baff. Warum kümmert der sich um mich? Wer sollte mich verfolgen, außer der Zickenstall von der Arbeit? Mein Atem geht ganz schnell. Ich weiß nicht, ob ich Brüllen oder Schluchzen soll. Mein Schweigen nimmt der Polizeibeamte als Bestätigung auf, fortzufahren: „Nur fünf Minuten, nachdem ich dieses Messer gekauft habe, ist es ein weiteres Mal über den Ladentisch gegangen. Allerdings in bar bezahlt. Ist Ihnen niemand aufgefallen?“
Stumm schüttele ich den Kopf. Nein, übersetzt Verena, den Mund in Richtung Mikrofon gebracht.
„Gehen Sie noch einmal in sich, Frau Horsten. War an diesem Tag etwas Besonderes vorgefallen? Jede Kleinigkeit ist von Interesse. Ein Zeitungsjunge, jemand, der Sie um Geld angebettelt hat, ein kurzer Blick in der U-Bahn.“
„Zu dem Tag bin ich kaum U-Bahn gefahren.“ Deine Stimme ist erschöpft. Du willst nicht weiter mit diesem Mann reden. Nicht an diesen fürchterlichen Tag erinnert werden, an dem Du mit Peter eine Waschmaschine gekauft, im Blockhouse gegessen und zu den hell erleuchteten Lampen aufgeblickt hattest. Schon gar nicht willst Du erinnert werden an die Gedanken, die Dir bei diesem Anblick durch den Kopf stolziert waren: Er hat eine neue Geliebte!

Weil die Polizei Dich nicht verhaftet hat, kehrt in der Praxis ein Hauch von Normalität ein. Die Kolleginnen behandeln Dich nicht mehr wie ein pestbesetztes Leichentuch. Selbst ein kurzer Scherz ist wieder drin. Dennoch bist Du Dir sicher, eine neue Arbeitsstelle zu suchen, wenn dieser Fall beendet ist. Nach Hildesheim hast Du Deine Fühler schon ausgestreckt.
Einmal noch musst Du zwecks einer Personenidentifizierung aufs Kommissariat. Sie zeigen Dir eine Phantomzeichnung von einem Geschäftsmann. Ein Allerweltgesicht, jeden Tag siehst Du es tausend Mal.
Enttäuscht verschwindet die Zeichnung wieder in der Schreibtischschublade des Kommissars. Auf dem Tisch siehst Du einen Schnappschuss liegen: Zwei Frauen in einem angeregten Disput. Emilie erkennst Du sofort. Sie stehen vor einem Patrizierhaus, wie es sie in der List so reichhaltig gibt. Roter Backstein, ockerfarbene Fensterbänke, hochwertige Pflanzen im schmalen Vorgarten, prägst Du Dir ein. Und analysierst messerscharf, die zweite Person ist die Witwe Merlinger.
Vielleicht findest Du das Haus am Wochenende.
*
Gedankenverloren wie immer trottest Du in den Wartebereich. Nie hat Deine Stimme beim Aufrufen des Namens sachlicher geklungen. Gleich darauf wünschst Du Dir, in eine Zeitschleife zu geraten und von vorne anfangen zu dürfen. Er ist es. Du hattest ihn schon ganz vergessen.
Sein freundliches Nicken signalisiert, er hat Dich wieder erkannt. Und es ist ihm angenehm, Dich zu sehen.
So viele Gesprächseinstiege hattest Du Dir ausgemalt. Keiner kommt Dir in den Sinn. Wie ein Blackout vor einer Matheklausur.

Ohne weitere Anweisungen folgt er Dir, setzt sich in den Stuhl. Seine Augen mustern Dich unverhohlen.
Obwohl Dein Pferdeschwanz viel Luft an Deinen Hals kommen lässt, kribbeln mehrere Tropfen abwärts. Deine Finger zittern, wollen die Tastatur nicht mehr richtig treffen. Letztendlich schaffst Du es doch, „seine“ Datei aufzurufen. „Hat sich die Entzündung gelegt?“ Eigentlich ist es dem Arzt vorbehalten, diese Fragen zu stellen. Aber Du willst diesem verdammt scharf aussehenden Mann Dein Interesse zeigen.
„Innerhalb von nur zwei Tagen. Sie hatten genau die richtige Salbe ausgesucht.“
Natürlich war das der Doktor. Dennoch rinnt dieses kleine Kompliment wie Öl an Deiner Kehle runter. Sofort verliert Deine Stimme jeglichen Berufspathos. „Wie geht es Ihnen ansonsten mit der Wunde? Ich meine, können Sie sie gut versorgen?“
„Sehr gut, Frau Horsten.“ Sein Blick ruht auf Deinem Namensschild. Du lächelst.
„Ich hab zwar keinen, der da mal nachsehen kann. Doch zum Glück gibt es Spiegel.“
„Sie wohnen alleine?“ Schnell schlägst Du Dir die Hand vor den Mund. Angestrengt sucht Dein Blick einen blinden Fleck auf dem Bildschirm. Dabei hüpft Dein Herz vor Freude.
„Sie meinen, ein so attraktiver Mann muss unbedingt verheiratet sein? Ich bin seit einem Jahr solo, die viele Arbeit, sie verstehen.“
Du verstehst nichts. Bindest es ihm jedoch nicht auf die Nase. Stattdessen nickst Du mutig mit dem Kopf.
„Haben Sie auf dem Bildschirm ein Portrait von mir?“
Schlagartig wirst Du rot und merkst, wie unhöflich Du in Deiner Schüchternheit geworden bist.
„Nein“, lächelst Du ihn an und siehst noch, wie er einen kleinen Zettel zusammen faltet. Dann kommt auch schon der Doktor hinein gestürmt. Er ist im Stress. Alles geht ganz schnell. Sehr zu Deinem Unmut. Gerne hättest Du weiter geflirtet.

Dem schönen Patienten scheint es ähnlich zu gehen. Er lässt sich viel Zeit beim Anziehen seiner Hosen. Wie Dein Adlerblick von seinem Zentrum zu seinem Kopf hoch wandert, blickst Du in seine Augen. Diese lächeln, Deine blinzeln irritiert. Zum Glück hältst Du jetzt Dein Blut in Schach.
Beim Abschied reicht er Dir zuerst die Hand. Schnell wischst Du Deine am Hosenbein trocken. Mit seiner zweiten drückt er Deine väterlich. Zeit für Dich, das Papier fest zu greifen, das mittlerweile in Deiner Hand schlummert.
Sein intensiver Blick geht Dir bis tief in den Bauch. Anstatt Deinen Blick zu senken, lächelst Du. Stumm flüstern Deine Lippen ein ja.
„Bis zum nächsten Mal“, hauchst Du ihm hinterher und flitzt übern Flur zur Toilette. Dein Pferdeschwanz wippt wild, Dein Herz tanzt Samba. Ab heute bist Du stolze Besitzerin seiner Telefonnummer.

Zwei wichtige Männer Deines Lebens hast Du in den letzten Wochen verloren. Hier bietet sich einer zur Nachfolge an. Mindestens sechs Jahre älter als Du; ein Exemplar, mit dem Du Dich überall sehen lassen kannst.
Montag wirst Du ihn anrufen und nach einem Date fragen.
Fürs Wochenende beschäftigt Dich eine andere Sache.
*
Samstagmittag kriechst Du mit Schrittgeschwindigkeit durch die List. Der Wagen, der Dir folgt, Du registrierst ihn nicht.
Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten. Allen Mut zusammennehmend, drückst Du auf die Klingel. Frau Merlinger lässt Dich hinein. Ob sie Bilder von Dir gesehen hat, fragst Du Dich und zweifelst, gerade einer guten Idee zu folgen. Doch zum Umkehren ist es zu spät.

Als eine Cousine aus Eutin willst Du Dich ausgeben. Dein Doktor hatte Dir gesagt, dort Verwandtschaft zu haben, als ihr ein Wochenende in Dahme an der Ostsee verbracht hattet. Ein wissenschaftlicher Kongress in Lübeck war der Schlüssel für euer langes Schäferstündchen gewesen.

Frau Merlinger ist groß, hat langes, schwarzes Haar und eine traumhafte Figur. Ihr gegenüber fühlst Du Dich klein und minderwertig. Wieso hat Dich der Doktor als Geliebte ausgewählt, stellst Du Dir erstmals die Frage. Doch dann liegst Du schon in ihren Armen. War wohl doch keine gute Idee, sich als Verwandte auszugeben.

Die Umarmung hat etwas Verzweifeltes und ist extrem übertrieben. Du spürst die Sucht nach Geborgenheit, nach einer starken Hand, die die Witwe stützt. Unwillkürlich legen sich Deine Hände an ihre Hüfte.
Da erschrickst Du über Deine eigenen Gedanken. Von außen müsstet ihr wie ein Liebespaar wirken. Trotzdem kannst Du Deine Hände nicht von ihrem Körper nehmen.
Diese Frau ist in Trauer – oder spielt die Trauer. Und um diesen Unterschied herauszufinden, bist Du gekommen. Somit folgst Du ihren Regeln.

Nachdem Frau Merlinger Kaffee und Kuchen aufgetragen hat, setzt sie sich zu Dir aufs Sofa und ergreift erneut Deine Hand. Sie schimpft über das Flittchen, das sich in der Praxis ihren Mann geangelt; lobt die achtsame Mitarbeiterin, die ihr die Augen geöffnet hat.
Für ihren Mann hat sie kein einziges freundliches Wort mehr übrig. Jede ihrer Anklagen ist ein Stich in Dein Herz. So ein Scheusal war er einfach nicht. Als Cousine nimmst Du Dir das Recht heraus, um Relativierung zu bitten.
Sofort findet die große Dame ihren Anstand wieder. Zärtlich tätschelt sie Dir Deine Wange. Wie es eine Tante eben so macht.

Darauf richtet sich ihre Wut gegen Peter. Der Freund dieses Flittchens hat seinen rechten Lohn bekommen. Ein Mann, der die Seitensprünge seiner Partnerin duldete, hatte jedes Recht auf Weiterleben verwirkt.
Erst als es draußen dunkel ist, schaffst Du Dich aus ihrer Umklammerung loszueisen. Alle zehn Minuten hat die Frau Dir angeboten, in ihrem Hause übernachten zu dürfen. Aber Du hast alles in Erfahrung gebracht, was Du wissen wolltest. In der Küche gab es die vielen, großen Fleischmesser. Im Notizbuch neben dem Telefon stand Deine Adresse gleich bei Emilies. Über dem Flurtisch hängt groß ein Kalender. Fein säuberlich hat Dein Doktor dort all seine „Überstundentermine“ vermerkt. Am 16. März siehst Du ein ganz kleines Herz über dem I bei Meeting. Wut kommt in Dir auf. Denn Du hattest an diesem Tag kein Liebesdate mit ihm. Seine Frau hat recht, er hat bekommen, was er verdient hat.
Einer Eingebung folgend greifst Du das Ersatzschlüsselbund neben der Tür, während Frau Merlinger in das saubere Treppenhaus mit seinen Jugendstilfenstern hinausschaut.

Zuhause drehst Du die Schlüssel in der Hand. Im Einklang mit den Gedanken in Deinem Kopf.
Vom Festnetz aus wählst Du die 110. Ein Halstuch um das Mikro geschlagen gibst Du Hinweise, Frau Merlinger könnte die gesuchte Serienmörderin sein. Du hättest heute Beweise in ihrer Wohnung gesehen.
Ohne eine Gegenfrage abzuwarten, legst Du auf.
In Deinen Händen kribbelt es.
Die Festnahme dieser stolzen, reichen Frau willst Du Dir nicht entgehen lassen.

Zügig fährst Du durchs nächtliche Hannover. Willst vor der Polizei da sein. Deinen alten Polo stellst Du ins Parkverbot.
Vorm Haus wartest Du auf den Großeinsatz.
Er kommt nicht.
In ihrem Wohnzimmer brennt Licht.
Ein paar Schatten huschen am Fenster vorbei, als würde sie tanzen.
Ein weiterer Beweis. Sie vergnügt sich schon mit dem Nachfolger Deines Arztes.

Das bringt Dich auf eine hervorragende Idee.
Dieses Mal rufst Du vom Handy aus die 110 an. Das Halstuch vorm Mund brüllst Du, Schreie und Streit in der Wohnung unter Dir zu hören. Perfekt die Aufgebrachte spielend, nimmst Du Dir Zeit, die weiteren Fragen des Telefonisten zu beantworten. Schließlich sollen sie Dich dieses Mal ernst nehmen.

Mit den gestohlenen Schlüsseln öffnest Du die Haustür.
Vor der Wohnungstür im zweiten Stock bleibst Du stehen. Wird ihr neuer Liebhaber ein Kollege sein? Die Neugier macht Dich fast rasend. Laute Musik von Pink dröhnt aus der Wohnung.

Ganz leise schließt Du auf.

Auf Zehenspitzen schleichst Du durch den Flur.

Erschrecken willst Du sie, die so unflätig in ihrem Zimmer tanzt.

Mit Karacho reißt Du die Tür auf.

Ein Mann fährt erschrocken zu Dir herum.

Es ist der hübsche Patient.

Seine behandschuhte Hand hält ein blutiges Messer.
Er springt auf Dich zu.
Du bist gelähmt, kannst weder schreien noch weglaufen.
Er greift in Deinen Pferdeschwanz, reißt Dir den Kopf in den Nacken.
Aus den Augenwinkeln siehst Du die blutüberströmte Frau am Boden liegen. Ihr Atem geht nur noch ganz schwach.
„Ich lasse nicht zu, dass die Alle Dir Dein Leben zerstören!“, keift der Patient und nimmt kurz die Klinge von Deiner Kehle, um auf die Sterbende zu zeigen.
Gleich darauf pikst der kalte Stahl wieder in Deinem Hals.

„Du gehörst nur mir, das weißt Du doch.“
Du hauchst ein ganz leises Ja, obwohl Du es bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst hast. Sein Blick raubt Dir jedwede Hoffnung: Er ist die pure Besessenheit. Gleich wird er Dich töten. Röchelnd wirst auch Du hier Dein Leben aushauchen.
Das Messer Dir nicht von der Kehle nehmend, drückt er Dir einen harten Kuss auf den Mund. Er schmeckt frisch nach Zimtkaugummi. Sein Duft von Dior Homme steigt Dir in die Nase. Frisch, kühn und blumig. Passend zu einem rassigen Temperament. Ein wirklich sauberer Mann.

Draußen heulen die Martinsshörner.

Blau blinkt das Licht durch das Fenster herein.

Der Mann lässt das Messer fallen, streicht seinen Anzug glatt, zieht die Handschuhe aus. Hinter ihm fällt die Tür ins Schloss.
„Wird auch Zeit“, hörst Du ihm im Treppenhaus zu der Polizei sagen. „Immer dieser Radau. Als würde ein Schwein geschlachtet werden.“
Die Schritte der Polizisten werden schneller.
Du wunderst Dich über das eigenartige Messer.
Es strahlt eine Magie aus.
Du bückst Dich, hebst es auf.
Hinter Dir splittert die Tür.
 
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