Es ist Altlicht. Die Nacht vor Neumond, wenn letztmalig die abnehmende Mondsichel sichtbar ist. Düster ist der Wald, in dieser sternenklaren Nacht Mitte Mai, im Jahre 1360 des Herrn. Eine Gruppe von fünf mystisch gekleideten Menschen schleicht auf schmalen Pfaden durch das dichtstehende, harte Holz, das der Namensgeber für diesen Höhenzug ist: Harz. Ihr Ziel ist der „Alte Mann“, ein von Naturgewalten geschaffenes Gesicht im Granit der Kästeklippen, oberhalb des Okertales, zwischen Hexenküche und Mausefalle.
Voran schreitet Aradia, die Schamanin, die Hexe. Sie ist eine kleine Frau von zierlicher Gestalt. Ihr rabenschwarzes, langes Haar quellt an ihren Schläfen unter der Kapuze aus Bärenfell hervor. Aus demselben Material ist ihr bis zu den Knien reichender Umhang. Darunter schließen sich die hellbraunen Stiefel aus Hirschleder an. Über die Augen hat sie sich einen breiten Streifen Schwarz gelegt. Hergestellt aus geriebener Kohle in Leinöl. Von der Stirn über ihr linkes Auge zieht sich zudem ein senkrechter Strich. Entfernt wirkt es wie ein christliches Kreuz mit zwei ungleichen Schenkeln. Doch das ist nicht das Schaurige, das Geheimnisvolle, das die Anführerin der Gruppe ausmacht. An den Schläfen ragen aus ihrer Bärenfellkappe große Hirschgeweihe hervor, die von einer unsagbaren Last künden, Aradias aufrechten Gang aber nicht beeinträchtigen.
Ihre vier Begleiter, drei Männer und eine Frau sind nicht minder magisch aufgemacht. Hingegen sind sie nicht in Fällen gekleidet, sondern in sehr dunklen Stoffen, die durch eine Beize aus Tannin mit Eisenvitriol und weiteren Eisensalzen schwarz gefärbt sind. Alle haben sie Runen und die Symbole alter Götter in ihr Gesicht und auf ihre Arme aufgemalt. Wer diese Menschen sähe, müsste zwangsläufig glauben, die Gesandten des Teufels hätten die Erde betreten. Lediglich die Tatsache, dass Aradias Begleiter Musikinstrumente tragen, hätte sie stutzig werden lassen können. Der Schrecken indes wäre geblieben.
Allerdings sind diese Fünf alles andere als Vasallen des Satans. Sie wollen Eir anrufen, die Göttin der Heilkunst, aus dem Geschlecht der Asen. Von ihr erhoffen sie die Kräuter und die Mixtur genannt zu bekommen, die das „Fieber der Hexen“ bekämpfen mag. Eine Pestilenz, die seit dem letzten Herbst über Goslar und den Harz hereingebrochen ist und der schon sehr viele Kinder erlegen sind. Ein Fieber, das die Quacksalber und Pastoren den Hexen zugeschrieben haben, um gleich die Schuldigen auszumachen, die es zu jagen und zu töten gälte. Aradia und ihre Gefährten hingegen sprechen von der braunen Fleckenseuche, da sie die Körper der Erkrankten mit hellbraunen Pusteln übersät, die die Größe von Daumennägeln haben.
Die ganz schwache Mondsichel des Altlichts ist schon untergegangen, als das Feuer unheimliche Schatten auf die Felswand wirft. Bärenförmige Monster mit einem Hirschgeweih, die zuweilen ihren Pelz öffnen, als würden Fledermäuse ihre Flügel ausspannen. Die Figuren tanzen, springen, drehen sich um sich selber, sind urplötzlich in Luft aufgelöst. Immer dann, wenn Aradia auf der anderen Seite des großen Feuers tanzt, ihr Schatten in den Wald anstelle auf den „Alten Mann“ geworfen wird.
Die zierliche Frau mit dem rabenschwarzen Haar tanzt in wilden Verrenkungen um das Feuer herum. Sie stellt Tiere nach, Geister und Götter. Hat sie ihren Umhang aus Bärenfell mit ihren Händen geöffnet, sieht sie wie ein Todesengel aus, der seine Fittiche ausgestellt hat. In dieser Pose ist ihr fahles Unterkleid aus Baumwolle zu sehen. Es ist mit Runen und Symbolen bestickt, mit Federn der Eule und der Raben, Krallen des Wolfes und des Bären. Um ihren Hals trägt sie einen blauen Edelstein, geschliffen in der Form eines Auges. Ein Talisman, der die Göttin Eir herbeisehnen soll. Ebenso wie die Beschwörungsformeln, die Aradia hin und wieder laut und klar singt. In einer längst vergessenen Sprache.
Meistens jedoch ruft Leila die Göttin der Heilkunst an. Dann in einem Flüstergesang, der in der Musik ihrer Gefährten untergeht. Leila selber spielt die Schamanentrommel. Ihr Rahmen ist aus dem Holz der Esche gefertigt. Dem heiligen Baum. Yggdrasil, die Weltesche, unter der die drei Nornen Urd, Werdandi und Skuld das Schicksal der Menschen weben.
Leila spielt diese mit einer Wolfshaut bespannte Rahmentrommel mit den Fingern, der Hand oder einem Knochen als Schlägel. Doch egal, welche Wahl sie trifft, immer erzeugt sie einen trancemäßigen Rhythmus. Ihr Takt ist hingegen nicht das wirklich Mystische in der Musik. Das wird erzeugt durch die anderen Instrumente, eine Drehleier, eine Flöte und ein armdicker, zwei Meter langer Holzstamm, der ausgehöhlt ist. Der kräftige Mann, der in ihn hineinbläst, hat sein langes, schwarzes Haar zu einem Zopf geflochten, den er auf dem Rücken trägt. So wirkt die gespenstige Bemalung in seinem Gesicht besonders stark. Es passt zu seinem bis auf den Boden reichenden, schwarzen Umhang sowie den Tönen, die er mit seinem eigenwilligen Instrument erzeugt. Mal sind es brummende, rollende Basstöne, als kämen Kugelblitze den Berg herunter und wollten sich gegenseitig überholen. Setzt der Mann den Mund hingegen anders an, erzeugt er schnarrende, hellere Töne, die nicht weniger fremdartig wirken. Diese harmonieren mit dem schwingenden, leicht krächzenden Melodien der Drehleier und geben das magische Grundgerüst, auf dem sich das Flötenspiel legt.
Die mit zauberhaften Zeichen bemalten und in beängstigende Gewänder gehüllten Musizierenden schreiten in einem langsamen Tempo ebenfalls um das Feuer herum. In entgegengesetzter Richtung, wie sich Aradia bewegt sowie außerhalb von ihrer Tanzbahn.
Stunde um Stunde beschwören sie die Göttin Eir. Nicht müde werden sie in ihrem Spielen und Tanzen, selber haben sie sich in Trance versetzt. Gelegentlich werden neue Scheite ins Feuer gelegt, bis die „Blaue Stunde“ naht. Die Zeit, wenn die Schwärze der Nacht in das Blau der Morgendämmerung übergeht.
Nun sinkt Aradia vor der Glut auf die Knie, verbeugt sich vielfach, murmelt Zaubersprüche, bis sie sich lang auf die Erde ausstreckt und wie tot liegen bleibt. Instrument für Instrument verstummen nun. Zuerst die Flöte, dann die Drehleier, darauf der Baumstamm. Übrig bleibt für eine kurze Weile das Trommeln der Finger auf der Wolfshaut, deren Takt immer langsamer wird, bis er gänzlich abreißt.
Übrig bleiben einzig und allein das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume und der Gesang des ersten Rotkehlchens.
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Am Morgen des nächsten Tages, an einem anderen Ort
Schultheiß Tervoort, der Vogt von Goslar, wie stets gekleidet in teurem Tuch, steht im Kontor seines Handelshauses und schenkt seinen Gästen einen edlen Rotwein ein. Sein Besuch besteht aus dem Pastor Eraßmus Lindemann sowie dem Quacksalber und Alchimisten der Stadt, Caspar Oberbach.
Die Audienz ist nicht willkürlich zusammengekommen, Schultheiß Tervoort, als Silberminenbesitzer der reichste Mann der Stadt und somit die schwerwiegendste Stimme im Rat, sieht seine Macht gefährdet, wenn nicht bald etwas gegen das Hexenfieber unternommen wird. Unmut regt sich im Volk ebenso wie im Rat, weil über diesen Winter unzählige Kinder zu Gott berufen wurden. Erste, mutige Ratsherren haben ihm schon Untätigkeit vorgeworfen und ihm somit die Verantwortung für das Massensterben in die Schuhe geschoben. Deshalb ist jetzt geboten, Tatendrang zu zeigen. Die Bürger Goslars, noch mehr aber die Ratsherren muss er, Schultheiß Tervoort, jetzt davon überzeugen, dass er der einzig richtige Mann ist, mit dem die Pestilenz bekämpft werden kann. Ansonsten könnte er von seiner Funktion als Vogt abgesetzt und somit von den Fleischtöpfen verbannt werden. Denn als Koryphäe im Rat besitzt er Zugang zu allen anstehenden, größeren Geschäften in Goslar und weiß geschickt, seine Zustimmung zu geben, wenn die richtige Summe in seinen Geldbeutel fließt.
Lautstark verlachte der Silberminenbesitzer im letzten Herbst das neue Fieber und verhöhnte die Menschen als Schwächlinge, die von ihm befallen wurden. Da die Krankheit im ersten Schritt die Kinder der Ärmsten der Stadt dahinraffte, fand er damals jubilierende Zustimmung zu seiner Ansicht. Heute ist das Anders, das braune Fleckenfieber ist längst beim Adel, dem Klerus und den Kaufleuten angekommen. Ignoranz, Arroganz und Verleugnung sind nun nicht mehr zweckmäßig.
„Nun, Herr Caspar Oberbach, Quacksalber und Alchimist der Bergarbeiterstadt, was schlagt ihr vor zur Eindämmung der Pestilenz?“ In der Stimme des Vogts schwingt Spott mit. Ein Ausdruck an Überheblichkeit, die den Angesprochenen schuldig sprechen soll.
„Wie schon im Winter vorgeschlagen, sollten die Menschen sich Pestmasken aufsetzen und den Schnabel mit keimtötenden Kräutern wie Fichte, Zimt, Thymian und Eukalyptus, aber auch Essigwasser füllen sowie einen großen Abstand zueinander halten, große Versammlungen meiden und vor allem sich von Kindern fern halten. Ebenso rate ich, die Kinderarbeit in den Silbermienen bis zum Ende des Fiebers im Einklang mit dem Besuch der Kloster- und Stadtschulen auszusetzen.“ Der Alchimist dreht seinen Dreispitz in der Hand. Unwillkürlich drückt er dabei die Krempe seines Hutes fest zusammen. Er weiß, diese Vorschläge haben den Vogt all die letzten Monate zur Weißglut gebracht.
„Sie bestätigen mir somit Ihre Unfähigkeit, als Quacksalber ein geeignetes Mittel gegen diese Pestilenz herstellen zu können, Herr Oberbach? Ich bedaure zutiefst, keinen besseren Arzt in unserer reichen Stadt zu wissen und versichere Ihnen, im Sommer nach einem Nachfolger Ausschau zu halten.“ Mit einer heftigen Geste kippt der Vogt seinen Wein in seine Kehle, bevor er seine lauernden Augen auf den Pastor legt.
„Die Seuche ist das Werk der Hexen, Herr Vogt“, hebt Eraßmus Lindemann mit listiger Stimme an zu sprechen, wobei seine Hände mit der Kordel seiner Soutane spielen. „Allein schon, dass das Fieber Kinder trifft, ist Beweis genug. Die bösen Zauberinnen benötigen das Fett der Kinder, um daraus ihre teuflischen Salben zu machen. Wenn wir die Hexen der Stadt und des Umlandes ausrotten, wird die Pestilenz von alleine verschwinden. Der heilige Hieronymus hat schon 391 nach Christus in seiner Vulgata gesagt, Zauber und Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen. Papst Johannes XXII befahl 1329, mit aller Härte gegen Ketzerei und Häresie vorzugehen, um die Ausbreitung des Aberglaubens im Volke endgültig auszurotten und alle Gottesleugner auf den Scheiterhaufen zu bringen. Glauben Sie mir bitte, Herr Tervoort, diese heiligen Männer können sich nicht irren. Die Anhänger der heidnischen Götter ebenso wie die Zauberer und Hexen, die sich den alten Riten verschreiben, ist ein Ende zu setzen. Weil wir dieses bisher in Goslar unterlassen haben, straft uns der Allmächtige mit diesem Fieber der Hexen. So schwer es mir auch fällt, über meine Schäfchen ein derartiges Urteil zu sprechen, Herr Vogt, so dringend ist die Notwendigkeit geboten, der Inquisition nicht länger ablehnend gegenüber zu stehen. Wir müssen das Unheil ausmerzen.“
Der Vorschlag des Pastors ist dem Vogt näher gelegen als der des Arztes. In seinem Kopf rattern die Gedanken wie die Zahnräder in einer Standuhr. Als Vogt unterliegt ihm die hohe Gerichtsbarkeit, auch Blutgericht genannt. Er darf Urteile verhängen, wenn es um heimtückischen Mord, Raub, Verrat, Gotteslästerung, Notzucht sowie Ehebruch geht, aber auch um Schadenzauber und Hexerei. Und da die Folter als ein ganz normales Mittel zur Einholung von Geständnissen dient, ist er auch Schirmherr über die peinliche Befragung. So ist es nicht verwunderlich, dass Schultheiß Tervoort noch am Nachmittag desselben Tages das in einem Talkessel außerhalb der Stadtmauer gelegene Haus des Scharfrichters aufsucht, um mit dem Henker Jecklein Kuhle die notwendigen Schritte zu besprechen.
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Eine Woche später, im Haus von Aradia
Die Hexenküche ist in einem gewölbemäßigen Tiefparterre untergebracht. Durch ein kleines Fenster im romanischen Baustil, das in die ein Meter breite Wand eingelassen ist, fällt kaum Licht in den Raum. Es reicht aber für Leila aus, auf dem davor aufgestellten, quadratischen Tisch getrocknete Kräuter in einer Reibschale zu Pulver zu verarbeiten.
Links neben dem Fenster steht ein schmaler, zwei Meter langer Holztisch an der Wand. Auf ihm stehen gläserne Vorratsbehälter, kleine Zinkeimer, ein eiserner Dreifuß in dem Maß einer Elle, Glaskolben und Kupferschalen. Höhere Gegenstände passen nicht auf ihn, da die Wand auf Brusthöhe in die Rundung des Gewölbes übergeht. Ein kleines Talglicht, das auf diesem einfach gezimmerten, schwarzen Tisch steht, wirft von einigen Geräten Schatten an die Wand. Im Flackern der Flamme wirken sie, als wollen sie bis in die Rundung hochklettern. Der beißende Geruch der einfachen, stark rußenden Kerze wabert dabei in das kleine Verlies. Er findet Unterstützung von den zwei auf eisernen Ständern stehenden Talkkerzen, die auf dem großen, rustikalen Arbeitstisch stehen, hinter dem Aradia verschiedene Kräuter, klein gehäckselte Wurzeln und zu Pulver geriebene Steine abwiegt und auf kleine, hölzerne Schalen verteilt. Hin und wieder wirft sie einen Blick auf den großen Zettel, auf dem sie die ihr von der Göttin Eir mitgeteilten Zutaten und das Mischungsverhältnis aufgeschrieben hat.
Unweit von ihrem Arbeitsplatz lodert ein kleines Feuer in einem Kamin, der an der Stirnseite des Zimmers angebracht ist. Über ihm hängt an einem langen, gezackten Kesselhaken, der entfernt an ein Sägeblatt erinnert, ein kleiner Eisentopf, in dem Fett geschmolzen wird.
Das Feuer knistert, knackt und zischt, sein Qualm wird aber gleich in die Esse abgezogen, kann die Luft in der Hexenküche nicht weiter verpesten. So bleiben die in weißen Schürzen gekleideten Leila und Aradia in den Duftwolken der zerstoßenen Kräuter und dem beißenden Geruch der Talglichter gehüllt. Letztere streckt gerade ihren Rücken durch, zupft anschließend die weiße Haube auf ihrem Kopf zurecht, geht zur Wand neben dem Kamin, wo in vielen Reihen Holzscheite aufgeschichtet sind, greift sich zwei Stücke, wirft sie ins Feuer, kontrolliert mit einem hölzernen Löffel die Konsistenz des Fetts im Topf über dem Feuer, greift sich einen feuerfesten Handschuh, hängt den Topf an dem Kesselhaken drei Zähne tiefer. Daraufhin nimmt sie sich von der Wand über den Holzscheiten einen kleinen Blasebalg und schürt das Feuer weiter an. Sofort werden die Flammen heller, beginnt das Fett zu schmelzen.
„Leila, bitte jetzt die Zutaten in der Reihenfolge, wie ich die Holzschälchen auf dem Tisch angeordnet habe.“
Emsig rührt Aradia mit ihrem Löffel das flüssige Fett um während ihre Freundin ein Schälchen nach dem anderen in den Topf kippt. Kaum ist die letzte Zutat dosiert, hängt die zierliche Frau, deren langes, rabenschwarzes Haar unter der weißen Haube eingefangen ist, den Topf um vier Zähne höher. Abwechselnd rühren die beiden heilkundigen Frauen eine halbe Stunde weiter, dann wird der Topf vom Feuer genommen und zum Abkühlen auf eine stählerne Matte gestellt.
Eine Stunde später, die beiden Damen sind gerade mit dem Aufräumen der Hexenküche fertig, ist an der Haustür das verabredete Klopfen von Freunden zu hören. Leila nimmt sich die Haube vom Kopf, schüttelt ihr langes, blondes Haar, zieht sich die Schürze über den Kopf und eilt zur Haustür. Derweil zerrt Aradia den noch warmen Kessel unter ihren großen Arbeitstisch, nimmt ein paar Utensilien hoch, legt eine bis zum Boden reichende Tischdecke auf und stellt die Gerätschaften zurück.
Im Flur reibt sie sich an ihrer Schürze die Hände trocken, da erkennt sie an der Stimme den hünenhaften Mann, der einem Baumstamm so mysteriöse Töne entlocken kann. Bevor sie ihm unter die Augen tritt, reißt sie sich schnell Haube und Schürze vom Körper und hängt diese im Flur an einen Nagel, bevor sie die paar Stufen nach oben eilt, wo Leila den Gast schon in die kleine Stube gebeten hat.
Pernhardt tigert in dem kleinen Zimmer herum. Sein langes, schwarzes Haar trägt er heute offen. Es fällt ihm in unordentlichen Strähnen über die Schulter. Leila steht vor dem Stubenschrank und spielt mit der Kordel ihres Gewandes, als Aradia zu den beiden stößt. Die Aufregung des Freundes macht Leila verlegen.
Die zierliche Frau mit dem rabenschwarzen Haar hingegen muss ihren Gast nur scharf anschauen, da befreit er sich augenblicklich von der Last seiner Seele. „Sie haben heute Morgen den Alchimisten Casper Oberbach auf die Folter gespannt. Er soll bezeugt haben, zusammen mit ein paar weisen Frauen der Stadt das Hexenfieber herbeigerufen zu haben sowie mit Satan im Bunde zu stehen. Deshalb hat er auch kein Heilmittel zusammengestellt. Wer die Frauen sein sollen, die er besagt hat, habe ich nicht in Erfahrung bringen können.“
„Ruf die anderen herbei, Pernhardt und komme in einer Stunde mit einem Ochsengespann vorbei, damit wir unsere „Hexenküche“ ausräumen und in unser Versteck am Hessenkopf bringen“, bleibt Aradia ganz unaufgeregt. „Schultheiß Tervoort hat begonnen, seine Gegenspieler im Rat auszuschalten, ob er wirklich auf uns Frauen Jagd machen wird, bleibt abzuwarten. Deshalb werden Leila und ich Goslar nicht verlassen.“
„Schon gar nicht, wo wir so nah am Ziel sind“, fällt die Frau mit dem langen, blonden Haar ihrer Freundin ins Wort. Die Hände in ihre Hüften gestemmt und den Kopf stolz nach oben gereckt, berichtet sie alsdann dem Gast, das Heilmittel fertiggestellt zu haben und heute noch seine Wirkung an dem Buben des Tuchmachers Gallus Thomsberger austesten zu wollen, der seit gestern Abend mit dem Fleckenfieber im Bett läge.
„Der Tuchmacher?“ Pernhardt zwirbelt einige Strähnen seines langen Haares, bevor er seine Befürchtung ausspricht. „Gallus Thomsberger gehört zu den fünf wohlhabendsten Männern der Stadt. Er steht mit dem Vogt auf Du. Wenn ihr zu ihm geht, begebt ihr euch in des Teufels Haus.“
„Danke für deinen Rat.“ Aradia stellt sich auf die Zehenspitzen, um dem Freund beim Abschied einen Wangenkuss zu geben. „Jetzt hol das Ochsengespann und die Freunde, bis zum Abend müsst ihr vom Hessenberg zurücksein. Leila und ich werden in der Zeit sehr viele Tiegel mit der Heilbutter abfüllen, was im Topf bleibt, geht mit in das Versteck.“
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Vier Tage später auf dem Weg zum Markt
„Dem Bub des Tuchmachers geht es schon recht gut.“ Leila steckt ein paar herausgeglittene Strähnen unter ihre schwarze Haube mit Rüschenrand und den zwei am Kinn herabhängenden Bändern. Das schicke Modell schmückt die große, junge Frau sehr, meint Aradia, als sie ihre Freundin liebevoll mustert. Beide haben sie einen großen Weidenkorb am abgewinkelten Unterarm hängen, als sie durch die engen Gassen Richtung Markt schlendern.
„Er isst ja auch drei Mal am Tag brav seine Stulle mit der Heilsalbe, Leila. Und du wirst sehen, unseren anderen Kranken wird es bald genauso gehen. Wir werden das braune Fleckenfieber bannen.“ Zuversicht strahlt in Aradias Gesicht, das von weißem Stoff umrahmt ist, da sie ihr Kopftuch zu einem Wimpel gebunden hat.
Doch wie sie aus ihrer kleinen Gasse auf den Markt treten, erstirbt ihre Zuversicht mit einem Schlage.
„Was stinkt denn hier so gotterbärmlich, Leila“, flucht Aradia leise und schaut von der Seite zur größeren Freundin auf, die über die Köpfe des Volkes hinweg schauen kann, wenn sie sich auf ihre Zehenspitzen stellt.
„Am eisernen Schandpfahl hängen die verkohlten Reste des Alchimisten. Der Henkersknecht bindet gerade das eherne Halsband ab . . . oh, jetzt sackt der Körper nach unten und der Knecht legt ihn auf dem Rost unter seinen Füßen.“
„Gleich wird er darunter ein großes Feuer anzünden und den Alchimisten so lange vor sich hin kokeln lassen, bis er vollkommen zu Asche gewandelt ist. Damit die Seele des armen Sünders vollkommen gereinigt und befreit wird, begründen die Inquisitoren diesen Schritt – und nicht ein Fitzelchen des befallenen Fleisches zu Satan kriechen kann.“ Aradia bekreuzigt sich, greift Leilas Hand und zieht diese von ihren Zehenspitzen herunter, damit sie sich nicht länger dieses menschenunwürdige Schauspiel anguckt.
Gerade ein paar Stände weiter sind sie gekommen, als das Gerede zweier alter Marktweiber ihre Aufmerksamkeit fesselt.
„Der Quacksalber soll gestanden haben, nicht nur das Hexenfieber über Goslar gebracht zu haben sondern auch die Missernte vor zwei Jahren.“ Die Verkäuferin jagt mit ihrer Hand eines der Hühner in ihrem großen Käfig, bis sie es zu packen kriegt.
„Das also auch“, pflichtet die Käuferin der Alten bei, als sie ihren kleinen Vogelbauer aufmacht, um das am Hals geschleppte Huhn, das wild mit seinen Flügeln um sich schlägt, dort hineinlegen zu lassen. „Und ist es nicht verwunderlich, werte Frau? An dem Tag, wo der Quacksalber eingetürmt wurde, begann es dem Jungen des Tuchmachers besser zu gehen. Heute, wo der Alchimist verbrannt wurde, soll der Bub das erste Mal aufgestanden und vor dem Haus herumspaziert sein. Wenn das nicht Beweis genug ist.“
„Ich sag es Ihnen, Magd, mit jedem Ketzer und jeder Hexe, die der Vogt brennen lässt, wird sich das Fieber ein Stück weiter aus unserer Stadt zurück ziehen.“ Die Marktfrau lässt sich in ihre Hand die Münzen für das Huhn abzählen. Über das Verbrennen von Menschen spricht sie mit derselben Gelassenheit wie das Abtöten ihres Federviehs. „Aber zurück zum Casper Oberbach, den ich noch nie hab leiden können wegen seiner klugen Worte; er hat sogar mit dem Teufel gebuhlt, steht in seinem Geständnis. Erst soll er Satan den Allerwertesten geküsst, dann sich von diesen haben nehmen lassen. Allein auf diese gleichgeschlechtliche Liebe steht schon die Todesstrafe, der Quacksalber hat es vielfach verdient, heute verbrannt worden zu sein.“
„Und der nächste wird der Schulmeister Wittgenstein sein, habe ich vorhin vom Marktschreier vernommen. Er sei gestern in den Kerker geworfen worden und noch am Abend seine erste peinliche Befragung überstanden haben.“ Die Käuferin steckt einen Finger durch die Stäbe ihres Vogelbauers und streichelt dem Huhn, dem sie nachher den Hals umdrehen wird, liebevoll den Kopf, wobei sie glucksende Laute ausstößt.
„Das ist gut, der Vogt greift hart durch. Lange wird uns das Fieber nicht mehr plagen. Mit dem Schulmeister hat er den nächsten Ketzer ausgemacht, der den Kindern der oberen Stände gotteslästernde Gedanken einimpft. Man solle die Welt nicht in Schwarz und Weiß einteilen, ist eines der geflügelten Worte des Schulmeisters. Das ist Häresie. Es gibt nur Satan und Seine Herrlichkeit. Diese Einteilung der Welt ist von ganz oben geschaffen. Wer sie anprangert, muss demnach von unten kommen, aus der Hölle.“ Die Marktfrau stopft das soeben erhaltene Geld in ihren am Gürtel tragenden Geldbeutel und schaut die nächste in der Schlange stehende Magd erwartungsvoll an.
Das andere Marktweib murmelt zum Abschied, dass der Schulmeister und der Quacksalber im Rat dem Vogt ständig widersprochen hätten und nun zu Recht aus dem Verkehr gezogen würden.
Aradia und Leila kreuzen die Blicke. Sie verstehen sich ohne Worte. Dieser Aberglauben ist bald schlimmer als das braune Fleckenfieber, denn gegen mutwilligen Starrsinn ist kein Kraut gewachsen.
Schnell erledigen die beiden ihre Besorgungen, kaufen Gemüse und Fleisch ein, Eier und Milch, Küchen- und Waldkräuter. Sie haben schon fast das Ende des Marktplatzes erreicht, als sie hinter sich eine alte Frau keifen hören.
Aradia dreht sich um, es ist die Marktfrau vom Kräuterstand, die mit ihrem knorrigen Finger auf die zierliche Frau mit dem weißen Wimpel um den Kopf zeigt und den Bütteln an ihrer Seite zuruft, dass dieses die Frau sei, die bei ihr Hexenkräuter eingekauft habe.
„Fliehe!“ brüllt Aradia ihre Freundin an, nachdem sie dieser hektisch ihren Korb gegeben hat. Leila kann im Tumult des Volkes entkommen, die soeben als Hexe Bezichtigte indes nicht. Unsanft wird Aradia von den zwei Bütteln abgeführt.
„Wir müssen was tun“, nuschelt der Tuchmacher Gallus Thomsberger vor sich hin, der Zeuge dieser Verschleppung geworden ist.
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Die Nacht ist kalt und stockdunkel. Am „Alten Mann“ hängen die Wolken bis auf den Boden, es ist nieselfeucht. Die Gewänder von Leila und ihren drei Gefährten sind pitschnass. Wasser tropft aus ihnen heraus, als sie an den Felsklippen angelangt ihre Instrumente unter den Umhängen hervorholen, unter einen Felsvorsprung legen und mit Fällen abdecken. Die magischen Zeichen, die sie sich in ihre Gesichter gemalt haben, sind verlaufen.
Leila stolpert viel bei der Suche nach trockenem Unterholz in dieser stockfinsteren Nacht, immer wieder hört man Pernhardt fluchen. Desungeachtet haben die Vier nach einer halben Stunde einen ordentlichen Holzhaufen aufgeschichtet. Pernhardt, der Hüne mit dem langen Haar, das er wieder als geflochtenen Pferdeschwanz trägt, kniet sich vor dem aufgeschichteten Feuerholz nieder. Er nimmt von Leila und den anderen beiden Gras, röllchenförmig eingedrehte Birkenrinde, Rohrkolbensamen und dürre Zweige in Empfang, die sie von daheim unter ihren Umhängen mitgeschleppt haben. Aus diesem trockenen Gemisch baut er ein Nest in dem Holzhaufen.
Sodann kramt er unter seinem eigenen Gewand eine silberne, große Büchse aus. Bevor er sie öffnet, bauen die anderen Drei mit ihren Umhängen ein Zelt über den Knienden. Pernhardt öffnet seine Zunderbüchse. Darin liegt ein großes Stück staubtrockener Feuerschwamm, ein Holzpilz.
Die unteren Finger seiner linken Hand klemmen die Zunderbüchse gegen den Handballen, sein Daumen und Zeigefinger halten darüber den Pyritstein fest. In seine rechte Hand nimmt der Hüne den Flint. Mit diesem Feuerstein schlägt er von oben auf den Pyritstein. Von diesem fallen Funken auf den Feuerschwamm. Bevor diese verglühen, haucht der große Mann ganz vorsichtig in seine Zunderbüchse. Ein kleines Glutnest entsteht. Als es groß genug ist, drückt er es in das trockene, von zuhause mitgebrachte Anmachholz. Um das Feuer anzufachen, benutzt er ein dünnes Blasrohr, für das er einen Holunderzweig ausgehöhlt hat. Schnell frisst sich das Feuer voran. Trotz Nässe und Kälte. Jetzt ist es Zeit zum Handeln.
Wenige Minuten später erklingt ihre mystische Musik. Leila führt die Trommel, während sie Aradias Rolle einnimmt und Beschwörungen flüsternd um das Feuer herumtanzt. Auf dem regennassen Felsmassiv sind abermals die Schatten der geheimnisvollen Menschen zu sehen, ihre trancemäßige Musik bestimmt den Platz und die Nacht. Heute rufen sie Loki an, den Listigen. Er soll ihnen helfen, Aradia vom Flammentod zu retten.
Jecklein Kuhle, der Scharfrichter aus Goslar und Pastor Eraßmus Lindemann versuchen in der gütlichen Befragung Aradia zu einem Geständnis zu bewegen, dass sie mit dem Teufel gebuhlt hätte. Sie bräuchte nur in allen Einzelheiten ihren Geschlechtsverkehr mit Satan schildern sowie ausführlich erklären, wie sie das Hexenfieber in die Kinder zaubert, meint der Henker, dann könne sie sich die Folter ersparen und direkt auf den Scheiterhaufen gebracht werden.
„Besinne dich, Aradia, denk an dein Seelenheil“, hebt nun der Geistliche zu einem langen Monolog an, wobei er sich drei Mal bekreuzigt. „Die Welt ist ein Jammertal, wir alle müssen von Geburt an leiden. Hunger, Krankheit und Tod sind unausweichlich. Vielen ereilt das Sterben gnädig, einige werden durch das Schicksal zu Tode gemartert. Wen welches Los ereilt, ist Gottes Wille. Doch das ist im Moment für dich gar nicht von Bedeutung. Das Einzige, das wirklich zählt, ist das, was nach deinem Tod kommt: Die Ewigkeit. Für den einen kann es das Paradies auf Erden werden, für den anderen ein unendlicher Ritt im Fegefeuer. Glaube mir, Aradia, was dich nach dem Tod erwartet, ist unvorstellbar schlimmer als das, was Meister Kuhle mit dir machen wird, solltest du nicht geständig sein.“
Trotzig schaut die an der Wand angekettete, nackte, geschorene und rasierte Frau am Pastor vorbei auf die schwere Eingangstür ihres Kerkers. Selbst wenn sie die Ketten aus der Wand reißen könnte, würde sie diese verriegelte Tür nicht so schnell öffnen können, wie Jecklein Kuhle ihr mit seiner Eisenstange einen über den Schädel gehauen hätte. Zudem ist sie keine Hexe, nie hätte sie die Stärke, sich aus den Fesseln zu befreien, deshalb ruckelt sie nicht an ihre Ketten.
Die beiden Männer hingegen sehen das ganz anders. Sie sind der felsenfesten Überzeugung, Aradia die Zauberkraft geraubt zu haben, indem sie diese ausgezogen und von ihrem gesamten Haar befreit haben. Die böse Frau kann sie jetzt nicht mehr mit Flüchen belegen. Schade findet der Pastor lediglich, dass sie an der Gefangenen kein Hexenmal gefunden haben. Aber das sagt ja noch lange nicht aus, dass die zierliche Frau unschuldig ist. Der Teufel ist gerissen und weiß sein Mal zu verstecken. Jenes Mal, dass er seinen Dienerinnen aufbrennt wie ein Bauer seinem Vieh das Brandzeichen. Höchstwahrscheinlich liegt es im Inneren der schönen Frau, hier jedoch jetzt schon Nachforschungen anzustellen, ist für seine Heiligkeit verfrüht. Eraßmus Lindemann hofft noch, durch seine Überredungskünste ein Geständnis erwirken zu können.
„Du kannst dem ewigen Feuertod in der Unterwelt indes entgehen, Aradia“, beginnt der alte Mann in seiner allwissenden Art zu erzählen, wobei er gedankenverloren mit der Kordel seiner Kutte spielt, „wenn wir deine Seele reinigen. Dazu musst du aber Buße tun. Sonst reißt der Rauch des Scheiterhaufens deine Seele in die Hölle. Denk an unseren lieben Herrn Jesus Christus. Er erwartet deine Seele, deine geläuterte. Gestehe uns, an dem Kindstod schuldig zu sein, so werden wir deinen Körper nicht durch Folter entstellen und du kannst in deiner ganzen Schönheit vor Gott treten.“
„Ich bin unschuldig, Vater, und das wissen Sie so gut wie jedermann. Das braune Fleckenfieber ist weder Zauberei noch eine Strafe Gottes. Menschen dafür zu verbrennen ist die einzige Freveltat, die in Goslar begangen wird. Wie soll ich vor Gott treten können, wenn ich meine Seele mit einer Lüge belastet hätte. Ich hoffe, unser aller Vater gibt mir die Kraft, mein Schicksal zu ertragen.“ Nach dieser kurzen Ansprache schließt die Kahlgeschorene demonstrativ ihren Mund.
Der Pastor murmelt etwas von Gotteslästerung vor sich hin, Jecklein Kuhle dagegen erklärt laut und deutlich, dass die erste Phase des Verhörs, die Gütliche Befragung beendet sei und augenblicklich die zweite begänne, das Territion.
Jetzt übernimmt der Scharfrichter das Wort. In der Hoffnung, die Beschuldigte einzuschüchtern und darüber zu einem Geständnis zu bewegen, zeigt er Aradia die einzelnen Folterwerkzeuge und erklärt ihr dabei bildreich aus den Verhaltensweisen anderer Angeklagter, wie schmerzhaft Daumenschrauben, Brustreißer, Zangen zum Zwicken sowie Peitschen wirken würden, welche Qualen der spanische Stiefel, die Eiserne Jungfrau, der Dornenstuhl oder die Streckbank hervorrufen täten.
Natürlich wird Aradia bei diesen grausamen Erzählungen schlecht, dennoch ist sie nicht bereit, eine Hexen-Schuld auf sich zu nehmen. Anstatt das Fieber nach Goslar gerufen zu haben, hat sie doch ein Gegenmittel gebraut, das Wirkung zeigt. Unmöglich kann man sie dafür foltern und hinrichten.
Leider können es die Männer.
In der dritten Phase des Verhörs, der peinlichen Befragung, schrumpft ihr starker Wille von Foltergang zu Foltergang. Am Ende brechen sie die Schmerzen und Qualen. Aradia gesteht, mit dem Teufel einen Pakt geschlossen zu haben, schildert ausführlich den Beischlaf mit Satan, nimmt zudem die Schuld für die Hungersnot vor zwei Jahren auf sich, gesteht, sich mit dem Alchimisten Caspar Oberbach gegen die Bürgerschaft Goslars verschworen zu haben.
Ein kratziges, dickes Leinenkleid übergezogen bekommen, wird sie sodann links und rechts von den beiden Männern gestützt in ihre Zelle gebracht, wo sie auf einem dürftigen Strohlager auf den Gang zum Scheiterhaufen zu warten hat.
Zur gleichen Zeit als Aradia gefoltert wird, üben sich ein paar Ratsherren darin, Türen leise aufzubrechen, Schlafende mit Äther zu betäuben, Henkersknoten zu binden. Am nächsten Tag, als die Büttel beginnen, den Scheiterhaufen zu bauen, erkranken bei gewissen Herren, wie dem Vogt Schultheiß Tervoort, dem Pastor Eraßmus Lindemann und dem Scharfrichter Jecklein Kuhle die jungen Mägde am Hexenfieber. Der Tuchmacher Gallus Thomsberger kann sich im Rat mit dem Vorschlag durchsetzen, diese jungen Mägde vorübergehend mit älteren Frauen zu ersetzen, denen das Fieber der Hexen bekanntlich nichts anhaben kann.
*
Zwei Tage später.
Zwei Büttel und der stämmige Henkersknecht betreten Aradias Kerkerzelle. Sie zerren die Verurteilte von der Pritsche hin zur Wand, wo sie die Arme an eiserne Schellen fesseln. Nur unter äußersten Schmerzen kann die zierliche Frau stehen bleiben, muss sie stehen bleiben, sonst würde die um ihren Hals gelegte Lederschlinge sie strangulieren.
So steht die gemarterte Frau in ihrem kratzigen Gewand mit zusammengebissenen Zähnen an der Wand, Hände und Füße in eisernen Schellen und um den Hals die Schlinge. Auf ihrem Kopf sprießen erste Stoppeln neuen Haares, über ihre nackten Füße krabbeln Schaben und Spinnen, als die Schergen des Vogts mit dem spöttelnden Spruch „vor der Ollen hätte nicht einmal meine dreijährige Tochter Angst“ die Zelle verlassen.
Der nun eintretende Pastor Eraßmus Lindemann ist da anderer Ansicht. Er geht lieber auf Nummer sicher, will sich auf keinem Fall einer unangeketteten Hexe nähern. Zu groß ist die Befürchtung, er könne ihren Zauberkräften unterliegen.
„Ich habe die Ehre, dir mitteilen zu können, Aradia, dass immer mehr Kinder genesen, seitdem wir dich eingetürmt haben, was besagt, mit dir den Übeltäter dingfest gemacht zu haben“, hebt der Mann in der geistlichen Kluft verständnisvoll an zu sprechen, „damit die noch Kranken so schnell wie möglich genesen können, wird deine Seele morgen früh dem Scheiterhaufen übergeben. Ich bin gekommen, damit du Abbitte leisten kannst und ich dir den Segen unseres Herrn mit auf den Weg geben kann.“
„Meine Schuld habe ich eingestanden, Vater. Ich bin bereit, die Strafe dazu zu ertragen. Was sonst soll ich noch leisten? Unmöglich kann ich Ihnen das schlechte Gewissen abnehmen. Das müssen Sie mit sich selber ausmachen, wenn Sie an der Himmelstür anklopfen. Doch bitte wundern Sie sich nicht, wenn Ihnen die Tür wieder vor der Nase zugeschlagen wird und ihr Rocksaum von langen, feuerroten Armen ergriffen wird.“ Aradia hat nichts mehr zu verlieren. Aus diesem Grund fürchtet sie sich nicht, die Wahrheit auszusprechen. Sie bestraft den Pastor mit einem Blick, als würde sie einen läusezerfressenen Straßenköter in einer stinkenden Gasse faules Gemüse essen sehen.
„Glaub mir, Kindchen, ein Weib wie dich richten zu müssen, ist kein Pläsier. Aber es ist unumstößlich notwendig. Dein Körper ist verdorben, du bringst ehrliche Männer dazu, diesen Schmutz berühren zu müssen. Das Böse in dir wie in den anderen Hexen verführt redliche Männer wie uns zu grausamen Taten. Denn wir Edelleute wissen, was von uns erwartet wird: Das Übel aus der Welt heraus zu brennen. Wir tun nur unsere leidliche Pflicht, um das Volk Goslars vor dir und deinem hinterhältigen Sinn zu schützen. Dass du brennen musst, mein Schäfchen, ist deine eigene Schuld. Mit deinen dämonischen Kräften hast du so viel Tod und Verzweiflung über die Stadt gebracht – du hast die allerschwerste Strafe tausendfach verdient.“
Bei den letzten Sätzen hat Eraßmus Lindemann aus seinem Kragen das große Jesuskreuz hervorgezogen. In einer Faust hält er es am ausgestreckten Arm. Direkt vor Aradias Gesicht, als müsse er ihr den Teufel austreiben.
„Halten Sie sich gerade an Herrn Jesus fest, weil sie Angst haben, im Morast ihrer eigenen Sünde zu versinken, Vater?“ Mit so viel Spot, wie Aradia unter den gegenwärtigen Schmerzen möglich ist, schaut sie den geistlich Verwirrten stolz an.
Dieser murmelt ein lateinisches Gebet, bindet ein an seinem Gürtel hängendes Fläschchen ab, beträufelt die zum Tode Verurteilte mit Weihwasser, bevor er unverständliches Zeug vor sich hin grummelnd den Kerker verlässt. Keine Minute später liegt die körperlich aber nicht seelisch Gebrochene wieder auf ihrer Pritsche und erwartet ihre letzte Nacht. Kein Wunder, dass sie keinen Schlaf findet.
Irgendwo kräht ein Hahn. Aradia wendet den Blick zum kleinen Fenster, hoch oben in ihrem Verlies. Der erste Hauch der Morgendämmerung wirft einen schüchternen, fahlen Schimmer in ihre Zelle. Als ein gellender Schrei die morgendliche Idylle zerfetzt, zuckt sie zusammen.
Dem Gebrüll folgt weiteres Geschrei. Aus anderen Richtungen. Dann trappeln überall Schuhe auf den Pflastersteinen. Ebenso auf den Treppen aus Sandstein, die zu ihrer Gruft führen. Schwerter klirren, draußen wie drinnen. Vor ihrer Tür hört Aradia ein Schlüsselbund rasseln.
So früh wollen sie mich anzünden, das Volk ist doch noch gar nicht wach. Will der Vogt es sogar um das Abenteuer prellen, mich brennen zu sehen?
Die Tür schwingt auf, fremde Söldner stürmen das Gemach, vor Angst hat Aradia einen Kloß im Hals. Da schreitet der Tuchmacher Gallus Thomsberger mit eingezogenem Kopf durch die niedrige Tür in ihr Gefängnis. Er lächelt gütig, als er zu ihrer Pritsche geht. Ehe die gemarterte Frau noch einen klaren Gedanken fassen kann, ist sie von den Söldnern frei gebunden und wird von der starken Armen des Tuchmachers sanft angehoben.
Sie merkt, wir Gallus Thomsberger etwas schwankt, weil er die Füße weit anheben muss, um über die Leichen der Büttel zu steigen, die im engen, spärlich mit einer Fackel erleuchteten Gang liegen. Der vorangehende Söldner trägt in seiner linken Hand eine Laterne, in der rechten den Degen. Diesen muss er nicht benutzen, als Aradia die lange, steinerne Treppe hochgetragen wird. In den Räumlichkeiten des Erdgeschosses ist es etwas heller, der Morgen wirft sein silbergraues Licht durch die Fenster. Kühle Luft umfängt die Getragene auf dem kurzen Stück vom Hinterausgang zur Kutsche. Auf dem Bock sitzt ein Hüne an Mann, sein langes, schwarzes Haar trägt er als einen geflochtenen Pferdeschwanz. In der Droschke wird Aradia neben eine große Frau mit langen, blonden Haaren gesetzt. Den Frauen gegenüber nehmen zwei Söldner Platz.
„Wir sehen uns später, Aradia“, verabschiedet sich der Tuchmacher. Aus seinen Augen strahlt eine ernste Entschlossenheit.
Die Kutsche fährt langsam, weil überall aufgebrachtes Volk hin und her läuft. Nach und nach kann Aradia die von ihr aufgeschnappten Wortfetzen in einen Zusammenhang bringen. Vermeintliche Raubritter hätten in der Nacht einen Torwächter bestochen – von diesem Gesindel des heruntergekommenen, niederen Adels streunen mehr durch die Wälder als verwilderte Köter durch die Gassen der Stadt, meinen einige. Nachdem 1302 in der Schlacht von Courtrai flanderische Fußsoldaten das französische Ritterheer vernichtend geschlagen hatten, war die militärische Bedeutung der Ritter endgültig vorbei. Die wirtschaftliche hatten die sich als Ritter verdingenden Adelsherren schon vorher an die Bürger in den aufkommenden Städten abgegeben, den Händlern, Handwerkern und Geldverleihern.
Die in dieser Nacht nach Goslar eingebrochenen Vagabunden hatten sich einen Teil an Wohlstand zurückgeholt - aus den Häusern vom Vogt, vom Pastor und vom Scharfrichter. Neben umgekippten Schränken und zertrümmerten Möbeln fand man die Ehefrauen und die Kinder betäubt in ihren Betten, die Hausherren aufgehängt in ihren Arbeitszimmern. Von den älteren Mägden, die erst seit kurzem den Herren dienten, fehlte wie von den Räubern jede Spur. Eindeutig waren das die Huren der Ritter, weiß das Volk zu berichten.
„Wohin fahren wir, Leila?“ Erschöpft aber glücklich legt Aradia ihren kahlgeschorenen Kopf an den Oberarm der großen, blonden Frau.
„In unser Versteck am Hessenkopf. Gallus Thomsberger ist jetzt der mächtigste Mann im Rat, der sich zwei Dutzend Söldner gedungen hat, die ihm den Umsturz absichern. Er hat befohlen, dass wir unsere „Hexenküche“ so schnell wie möglich einrichten sollen. So wie seinen Sohn müssen wir alle kranken Blagen in Goslar und Umgebung vom braunen Fleckenfieber befreien. Wer fortan das Wort Hexenfieber in den Mund nimmt, wird mit der Zwangsabgabe von einem Gulden bestraft. Dafür könnte man sich einhundert Roggenbrote kaufen, dieses Strafmaß wird ziehen, Aradia.“ Zärtlich streichelt Leila über den kahlen Kopf mit den Stoppelborsten ihrer jetzt weinenden Freundin.
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Ein spannender Krimi über grausame Verbrechen und Hexenwahn im Harz ist ganz frisch im Redrum-Verlag unter meinen Pseudonym Mats Hoeppner veröffentlicht worden. Sein Titel lautet knapp: „Verspeist“.