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Memoiren eines Schriftstellers - 12. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 12

William Carter erreichte zwei Jahre später den Höhepunkt seiner beispiellosen Karriere. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er zweiundzwanzig Bestseller geschrieben und Millionen von Leser auf der Welt fieberten nach dem dritten Band der Nachtigall Trilogie.
Es war ihm gelungen seinen psychopathischen Protagonist, ein Opernsänger namens Daryl Barnes, der zugleich ein Serienkiller war und sich ausschließlich Opfer aussuchte, die seiner Mutter ähnelten, einen Kultstatus zu verleihen. Das Erscheinungsdatum war Montag der 15. Januar 1973, woraufhin in ganz Amerika die hartgesottensten Carter Fans bereits am Wochenende zuvor, trotz der Eiseskälte, vor sämtlichen Buchläden des Landes campierten, um als erster ein Exemplar zu ergattern. Die meisten dieser verrückten Fans hatten sich für diesen Tag sogar beurlauben lassen und waren verkleidet erschienen, wie der Serienkiller Daryl Barnes auf den Buchcovern abgebildet war. Der Rest der Welt musste sich leider gedulden, bis der neue Carter Roman in ihrer Sprache übersetzt werden würde.
Vor dem Geschäftsgebäude des Jack Hopkins Books Publishing Verlag in Los Angeles hatten sich dermaßen viele Carter Fans versammelt, dass sogar ein beachtliches Polizeiaufgebot anrücken musste und Straßen gesperrt wurden, damit niemand zu Schaden kommen würde. Die Druckmaschine produzierte schließlich über das Wochenende nur eine begrenzte Auflage, somit konnte unmöglich gewährleistet werden, dass auch jeder am Erscheinungstag ein begehrtes Werk kaufen konnte. Ebenfalls waren zahlreiche Fernsehteams aus verschiedenen Bundesstaaten erschienen, um dieses Ereignis abends in den sechs Uhr Nachrichten zu präsentieren. Denn der hauptsächliche Grund für diesen unüberschaubaren Menschenauflauf am besagten Montag war, weil vorweg angekündigt wurde, dass William Carter persönlich erscheinen und bis Ladenschluss jedes erworbenes Buch signieren würde.
Die Jahre vergingen und Williams Erfolg war unaufhaltsam. Er war nun weltberühmt geworden, sodass er auf der Straße nur von den wenigsten Menschen nicht wiedererkannt wurde. Für Adam Hopkins war es nicht mehr möglich geworden, seinen Starautor weiterhin zu managen, so war William gezwungen ein eigenes Büro zu eröffnen und einen professionellen Manager sowie eine Sekretärin zu engagieren.
Er tingelte jahrelang von einer Fernsehshow zur anderen, selbst weltweit im Ausland war er ein begehrter Gast gewesen, und bekannte sich stets als Gegner des Vietnamkrieges, obwohl sein neuer Manager ihm strikt davon abgeraten hatte, sich in der Öffentlichkeit politisch zu äußern. Überdies befürwortete er John Lennon und Yoko Ono skurrile Antikriegsprotestaktion Make Love Not War, als das berühmte Ehepaar in einem Hilton Hotel in Amsterdam sich nackt in einem Bett hatte interviewen lassen, woraufhin auch er, genauso wie John Lennon, vom FBI bespitzelt wurde. Die Agenten bekamen schließlich die Anweisung, Carters Bücher zu prüfen um herauszufinden, ob man ihn eventuell wegen Volksverhetzung anklagen müsste. Die Herrschaften vom Secret Service wurden also praktisch dazu gezwungen, alle seine Bücher zu lesen und waren daraufhin derart begeistert, dass sich im Geheimdienst intern eine Fangemeinde gebildet hatte.
Trotz das William Carter älter und souverän geworden war und er nun ausschließlich mit dunklen Designeranzügen sowie einer anständigen Haarfrisur in der Öffentlichkeit auftrat, geriet er dennoch hin und wieder mit Skandalen in die Schlagzeile der Medien. Hauptsächlich mussten aufdringliche Paparazzos und Journalisten sich vor ihn in Acht nehmen, oder neuerdings sogar Talkshowmasters, die ihn unangebrachte Fragen stellten. Zweitklassige Comedians, die sich auf seine Kosten lustig machten, hatten nach ihrer Show ebenso wenig zu lachen. Schließlich waren ihre Witze niveaulos und handelten meist von seinen Prügelattacken, dies der berühmte Schriftsteller sich nicht gefallen lassen wollte. Entweder verklagte William sie oder stattete ihnen persönlich einen Besuch ab, um ihnen verständlich zu machen, dass ihre Scherze nichts mit Showbusiness zu tun haben, sondern reine Beleidigungen sind. Und obwohl es mittlerweile bekannt war, auf welches Thema er besonders aggressiv reagierte und man ihn keinesfalls darauf ansprechen durfte, wurde er hauptsächlich von Leuten provoziert, die ihm seine Karriere nicht gönnten oder auf ein hohes Schmerzensgeld spekulierten. Aber sein Rechtsanwalt George sowie auch sein Verleger Adam Hopkins, die beide seine Freunde geblieben waren, standen immer hinter ihm und verteidigten den berühmten Schriftsteller jederzeit. Aber privat musste William Carter schicksalhafte Niederschläge verkraften…

Chapter 70-76 aus meinen Memoiren: Shirley

Beverly Hills, 1986

Mein hitzköpfiges Gemüt war in meinen jungen Jahren, heute sehe ich das so, zugegeben etwas überzogenen. Heute, mit meinen 41 Jahren, bin ich ein alter Hase im Showgeschäft und sehe über einiges hinweg. Die großartigen Comedians wie Jerry Lewis, Sammy Davis Jr., Dean Martin oder Richard Pryor machten sich zwar auch regelmäßig in ihrer Show über mich lustig, aber diese Männer waren Profis, hatten Stil und den Anstand mich stets vorher um Erlaubnis zu fragen. Es gibt jedoch eine einzige Angelegenheit, worüber ich absolut nicht bereit bin irgendwelche Auskünfte zu geben und darüber zu diskutieren: Meine Tochter. Sie muss unbedingt von dem Trubel der mich umgibt, behütet werden.
Bis jetzt bin ich niemals krank geworden, nicht einmal das deftige Essen konnte mir etwas anhaben. Ja, ich gebe es zu, ich habe meine durchtrainierte Figur nicht beibehalten können und bin etwas korpulenter geworden. Meine Schläfen sind mittlerweile auch ergraut aber so wie es ist und wie ich aussehe, fühle ich mich wohl und es passt auch zu meiner Person.
Damals fühlte ich mich wie ein King, glaubte mir alles erlauben zu dürfen, und außerdem klopften mir die Jugendliche anerkennend auf die Schulter, sahen mich ehrfürchtig an und meinten, dass sie mich verstehen würden wenn ich aufdringliche Zeitungsfritzen eins auf die Mütze haue. Als ein Mittezwanziger fühlt man sich dann in seinen Taten, obwohl man es in diesem Alter schon besser wissen müsste, eben bestätigt.
Aber irgendwann begriff ich, dass meine Prügelaktionen sich nicht mehr schickten und ich unbedingt besonnener werden musste, wenn ich ein ernstzunehmender Schriftsteller bleiben wollte. Dies lernte ich von anderen Prominenten, die mich zum Glück mochten und es mir auf ihre Weise zu erklären versuchten.
Eines Tages irgendwann im Jahr 73 wurde ich wiedermal in irgendeiner Talkshow eingeladen und begegnete hinter dem Studio im Korridor einen Asiaten, der nur mit einer Adidas Jogginghose und ärmellosen Unterhemd sowie dunkler Sonnenbrille bekleidet war. Er hantierte am Cola Automat aber als keine Dose herauskam, schlug er mit seiner flachen Hand blitzschnell dagegen und dann kamen sogar zwei Coca Cola Dosen heraus. „Also, geht doch“, sagte er daraufhin lässig.
Der Kerl trug eine Nike Tasche mit sich und grinste verschmitzt, als er auf mich zukam. Unsere Hände klatschten zusammen, als wir uns begrüßten. Er schenkte mir eine Dose, wir tranken zusammen und plauderten ein bisschen.
„Hey, ich mag deine Filme. Sag mal, kannst du mir nicht ein paar Tricks zeigen? Ich meine, selbstverständlich nur zur Verteidigung“, fragte ich ihn und betonte, dass ich seine Kampftechnik ausschließlich um mich zu verteidigen anwenden würde (dies selbstverständlich gelogen war). Daraufhin öffnete der Chinese seine Sporttasche, griff hinein und hielt mir ein Buch vor die Nase, eins von mir geschrieben.
„Und ich mag deine Romane, Carter. Aber ich sag dir mal was … Ich lade dich zu mir nach Hause ein und zeig dir lieber die Kunst des Yoga. Kumpel, entspann dich endlich mal. Dass dir so mancher Reporter auf die Nerven geht, ist nun mal der Preis des Ruhms. Ich kann auch nicht hergehen und jeden gleich fertig machen, nur weil mir dessen Nase nicht passt oder er mir auf den Sack geht.“
Er wagte es tatsächlich mich mit dem Zeigefinger anzustoßen, sodass ich kurz aufstöhnte und etwas zusammen sackte, weil es wirklich verdammt wehtat. Normalerweise hätte jeder andere sich von mir sofort eine gefangen, aber ich lächelte nur, denn wer ist schon so verrückt und würde sich mit Bruce Lee anlegen wollen?
„Aber ich bin doch entspannt, Bruce. Ehrlich!“, entgegnete ich ihm vorwurfsvoll. „Komm schon, sei nicht so. Du kannst mir doch bestimmt ein paar Kung Fu Griffe zeigen, wobei mein Gegner, wenn er auf dem Boden liegt, zwar mächtige Schmerzen verspürt, aber dabei nicht bluten wird. Dann können die Aasgeier mich hinterher auch nicht mehr verklagen, beziehungsweise, wird es für mich dann nicht mehr gar so teuer“, meinte ich verlegen lächelnd.
Bruce Lee richtete seine dunkle Pilotenbrille, schmunzelte und schüttelte leicht mit dem Kopf. Sicherlich musste er gedacht haben, dass ich unverbesserlich war.
„Na schön. Du weißt ja, wo ich wohne. Komm meinetwegen vorbei aber ich warne dich.“ – Er wankte mahnend mit dem Zeigefinger – „Solltest du wieder jemand verprügeln und danach behaupten, dass du die Schläge von mir gelernt hast, werde ich es abstreiten dich jemals getroffen zu haben.“

Mein impulsives Verhalten änderte sich dann endgültig 1975 bei den Acadamy Awards, als mir ein Oscar für das beste Drehbuch des verfilmten Romans: Der Keller überreicht wurde (Meine Fans waren von dem Horrorfilm total enttäuscht, mein Buch wäre allemal besser, meinten gar die Filmkritiker).
Als ich nämlich auf der Bühne stand, die goldene Trophäe in meinen Händen hielt und mich vor einem Millionen Fernsehpublikum sowie vor den größten Hollywoodstars bedankte, brach plötzlich tosendes Gelächter aus. Ein großer Applaus ertönte. Ich wusste zuerst nicht weshalb sie lachten und applaudierten und fühlte mich etwas befangen, doch als ich neben mir schaute und Jerry Lewis erblickte, wusste ich sofort was los war und musste ebenfalls laut loslachen.
Jerry Lewis mimte den Ängstlichen und wagte sich nur schrittweise an mich heran. Er hatte sein albernes Gebiss mit den vorstehenden Zähnen im Mund stecken und sah wiedermal zum Totlachen dämlich aus. Außerdem hatten die Maskenbildner ihm ein blaues Auge geschminkt und eine zersplitterte Hornbrille lag ihm schief auf der Nase. Jerry Lewis reichte mir zitternd die Hand, gratulierte mir zum Oscar und sprach ins Mikrophon: „Das ist William Cartwright … Äh, ich meinte Carter. Wir haben uns vorhin in der Garderobe kennen gelernt.“ (Er spielte mit dem Namen Cartwright auf die Erfolgsserie Bonanza an, und in einem Western wird ja generell geprügelt).
Ein tosendes Gelächter brach aus und da erkannte ich, dass es für mich Zeit wurde mein aggressives Verhalten gegenüber nervigen Zeitungsreportern zu ändern, wenn ich von der prominenten Gesellschaft ernst genommen werden wollte. Am Anfang meiner Karriere empfanden sie meine Prügelaktionen noch lustig sowie auch mutig, aber mittlerweile hatte ich diesen Spaß wohl ausgereizt. Und ehrlich gesagt hatte ich sowieso keine Lust mehr, den Bad Boy zu mimen.

Als wir eines Tages beim Frauenarzt waren und endlich die frohe Neuigkeit erfuhren, dass meine Ehefrau schwanger war, rannte Penélope schreiend aus dem Arztzimmer und sprang mir in die Arme. Ab diesen Tag rührte sie nicht einmal eine Zigarette an. Es war eine harte Zeit für uns beide, insbesondre für sie. In der ersten Woche zeigte Penélope keinerlei Entzugserscheinungen, es machte ihr nicht einmal etwas aus, keine Zigaretten mehr zu qualmen. Wir beide dachten zuerst, dass das alles scheinbar nur ein Schauermärchen sei, das Kokain überhaupt nicht süchtig macht sondern nur eine harmlose Angewohnheit wäre, wie ab und zu mal ein Bier trinken, was man ohne Weiteres nach Belieben abstellen kann. Man muss es nur wirklich wollen.
Doch schon sehr bald bekam sie die Quittung für ihr lasterhaftes Leben.
Sie war nur noch am Heulen und klagte über Magenschmerzen, Übelkeit und Angstzustände. Sie hatte sich ständig übergeben und keiner von uns beiden wusste, ob nun wegen der Schwangerschaft oder weil es wegen des Entzugs war. Nachts konnte sie kaum schlafen, eine innere Unruhe quälte sie. Schließlich hatte Penélope irgendwann regelrecht darum gebettelt das ich ihr Koks besorgen sollte, ansonsten würde sie durchdrehen, meinte sie. Sie behauptete, dass das Verlangen nach dem Inhalieren des Kokses massiv stärker wäre, als das Bedürfnis nach einer Zigarette.
Selbstverständlich war ich ihrem Wunsch nicht nachgegangen, obwohl sie daraufhin wütend mit ihren Fäusten auf mich eingeschlagen hatte. Ich ließ ihren Zorn und Schläge über mich ergehen und sprach ihr Tag und Nacht gut zu, dass sie diese Tortur unserem Kind zuliebe über sich ergehen lassen müsste. Letztendlich lag sie weinend in meinen Armen und stimmte mir zu. Sie konnte es nur nicht verstehen, weshalb mir diese Qualen erspart geblieben waren, obwohl ich ebenfalls selbst mit dem Trinken aufgehört hatte.

Mir war klar geworden, dass die Drogensucht wie ein Quälgeist in einem haust, eine Zeit lang geduldig ist und sich nicht bemerkbar macht. Doch wehe dem wenn dieser Teufel merkt, dass man nicht weiterhin bereit ist, ihn mit seiner giftigen Nahrung zu füttern, dann rebelliert er und tobt wie ein wütendes Rumpelstilzchen in den Eingeweiden, bis man zermürbt oder ihn besiegt. Und während dieses höllischen Prozesses verwandelt sich der Mensch in ein willenloses, jämmerliches Geschöpf. Und wenn dieser Dämon endlich verhungert ist und man sich wieder gesund fühlt, heißt das noch lange nicht, dass die Sucht auch endlich besiegt und vernichtet wurde. Nein, denn dieser böse Geist ist unsterblich und wird einem immer begleiten. Sein ganzes Leben lang wird er in einem schlummern und lauert nur darauf, bis man endlich wieder schwach wird.
Hat sich die Sucht einmal eingepflanzt, ist es wie Unkraut. Dann muss man damit leben und den unbändigen Heißhunger des Dämons kontrollieren, beherrschen und ständig unterdrücken. Und wenn man dieses Ungeheuer wieder anfüttert, weil sein Magen zu gegebener Zeit in gemütlicher Runde knurrt, dann gedeiht er, verlangt nach mehr und will die Zeit der Abstinenz sogar nachholen. Schließlich wird die Scheiße dann von vorne beginnen. Insbesondre die Drogen- und Alkoholsucht ist erst dann wirklich besiegt und der Dämon endgültig vernichtet, wenn man tot im Grab liegt.

Penélope war schon immer eine willensstarke Frau gewesen, die ihre Ziele hartnäckig verfolgte. Immerhin hatte sie sogar ihren Traum eine Schauspielerin zu werden auch verwirklicht. Leider hatte sie aber ihre Karriere aufgrund ihrer unbeherrschten Art selbst zerstört. Aber sie wünschte sich unbedingt einen Sohn, genauso wie ich mir eine Tochter wünschte, und bezwang schließlich ihre Sucht. Sie war dann sogar richtig liebevoll geworden, besonnen, lachte wieder und war fröhlich, als der kalte Entzug vorbei war. Sie aß auch wieder normal und nahm sichtlich zu. Scherzhaft nannte ich sie dann meine spanische Dicke, als ihr Bauch von Monat zu Monat sich wölbte. Ich glaube, dass ich sie sogar hätte Penny nennen durfte, ohne dass sie dabei in die Luft gegangen wäre. Penélope war wie verwandelt, sie sah gesund aus und war glücklich. Aber sie wurde des Öfteren melancholisch, heulte in meinen Armen und bat mich ständig um Verzeihung, weil sie immer so ein Biest zu mir gewesen war.

Dann am 9. September 1973 war es endlich soweit. Das war der glücklichste Tag meines Lebens gewesen, weil unsere Tochter geboren wurde. Shirley. Ja, ich habe sie so genannt. Wäre es ein Junge geworden, so war unsere Abmachung, hätte Penélope den Namen unseres Kindes auswählen dürfen. Wir hatten sogar extra auf Ultraschallbilder verzichtet und wollten von den Ärzten während der Schwangerschaft keinerlei Auskünfte erhalten. Wir wollten uns überraschen lassen.
Einen Monat zuvor hatte Missey ebenfalls ein Mädchen auf die Welt gebracht, woraufhin George, Adam und ich im Los Angeles berühmten Rockclub Whiskey a Go Go mächtig einen Trinken gegangen waren und von nichts anderem geredet hatten, dass Judith (so hieß die Kleine von George und Missey) und Shirley wie Schwestern aufwachsen würden. Außerdem hatte sogar Adam mittlerweile geheiratet, überraschenderweise seine eigene Sekretärin, die fünf Jahre älter als er war. Überraschend war es für uns alle gewesen, weil seine Sekretärin keine Sexbombe sondern solide und sehr bodenständig war und zudem zwei Kinder mit in die neue Ehe genommen hatte. Bei Adam hatte der Storch auch mittlerweile an der Tür geklopft und wir feierten feuchtfröhlich, dass wir bald einen Kindergarten gründen könnten.
Wie dem auch sei. Seitdem knallten in der Villa Carter keine Champagnerkorken mehr. Partys waren für uns beide absolut tabu. Penélope war eine vorbildliche Mutter gewesen und kümmerte sich Tag und Nacht um unsere Tochter, während ich fleißig weiter Romane schrieb.
Mittlerweile hatte ich die Schreibfeder unter Kontrolle, trotzdem entführte sie mich in Visionen, die mir hin und wieder stundenweise einen Blackout bescherten. Aber diese Visionen waren letztendlich der Stoff aus dem meine Storys entstanden waren.
Aber irgendetwas stimmte mit unserem Kind nicht, hatte ich das Gefühl. Ein Baby schreit gewöhnlich ständig, mindestens wenn es hungrig ist. Shirley dagegen war immer ruhig, sogar nachts. Ich war sogar jede Nacht aufgewacht, eben gerade weil unser Würmchen, wie ich sie immer nannte, nie geschrien hatte. Dann ging ich zu ihrem Bettchen und schaute nach. Sie war immer wach, sodass ich schließlich Penélope wecken musste, damit sie unser Baby stillte.
Ich bemerkte eines Tages, dass sie ihr rechtes Ärmchen ständig verkrümmt hielt und auch ihre Beine. „Hat sie etwa X-Beine?“, fragte ich mich verwundert.
Wir gingen am nächsten Tag selbstverständlich sofort zum besten Kinderarzt von Los Angeles. Während er unser Baby untersuchte erzählte ich dem Doktor, dass unser Kind bislang kaum geschrienen, geschweige denn, gelacht hätte. Zudem würde unser Mädchen nur apathisch drein schauen, erklärte ich ihm. Dann zog der Arzt seine Brille ab und sah mich ernst an. Seine Diagnose war erschütternd.
Shirley war geistig und körperlich schwer behindert.
Der Arzt sagte, dass sie wahrscheinlich weder sprechen, noch alleine essen, geschweige denn laufen könnte. Shirley müsste ihr Leben in einem Rollstuhl verbringen und wäre rund um die Uhr auf Pflege angewiesen.
Diese Diagnose hatte mich zwar schockiert, doch ich besann mich sogleich und akzeptierte die Situation. Aber was mich wirklich ängstigte und mich aus der Fassung brachte war, dass der Arzt ihr eine Lebenserwartung von allerhöchstens zwanzig Jahren vorhersagte.
Daraufhin verließ ich wortlos das Arztzimmer, ließ Penélope verdutz zurück, die ebenfalls geschockt war, schloss mich in die Toilette ein und weinte bitterlich. Penélope war daraufhin erstmal zum nächsten Zigarettenautomat gelaufen und hatte mit einem Dealer telefoniert.
Dass meine Tochter eine pflegebedürftige, schwer behinderte Person war, konnte ich verkraften und war bereit dazu, mein eigenes Leben für sie aufzuopfern, obwohl ich nicht im Geringsten ahnte, welch Bürde das werden wird. Aber das ich meine Tochter, die ich mir so sehnlichst wünschte, schon in zwanzig Jahren zum Grab tragen sollte, war für mich ein Stich ins Herz. Diese Erkenntnis hatte mich so sehr niedergeschmettert, dass ich vor der Kloschüssel kniete, bitterlich weinte und zum ersten Mal intensiv zu Gott gebetet hatte, er solle meine Tochter bitte alt werden lassen.

Penélope jedoch verkraftete diese schockierende Nachricht nicht. Sie fühlte sich bereits überfordert, obwohl die Pflege unseres Kindes nicht einmal begonnen hatte. Sie verfiel zurück in ihr altes Muster, kokste sogar mehr als zuvor und verwandelte sich wieder in eine streitsüchtige Furie. Wir stritten jeden Tag miteinander weil sie einfach nicht dazu bereit schien, ihre eigene Tochter bis zum Lebensende zu pflegen. Sie machte mir Vorwürfe, weil sie neun Monate lang darauf verzichtet hätte, Partys zu feiern und sogar Zigaretten zu rauchen. „Und für was?!“, schrie sie mich an. „Für ein behindertes Kind, das wir besser hätten abtreiben lassen sollen? Nur deinetwegen haben wir auf Ultraschalbilder verzichtet. Du bist schuld! Was wird das bloß für ein beschissenes Leben für das Mädchen werden, hä?“, warf sie mir wütend vor.
Sie argumentierte, dass sie selbst noch viel zu jung wäre, um sich für ein behindertes Kind aufzuopfern und auf alle Annehmlichkeiten und Vergnügen im Leben zu verzichten.
Ab sofort zeigte ich für meine Ehefrau keinerlei Verständnis mehr und mir war es egal, ob sie nun mit mir zusammen bleiben wollte oder nicht. Ich hatte schließlich das bekommen, was ich mir schon seit meiner Jugendzeit gewünscht hatte: eine eigene Tochter. Und Shirley hatte ebenso ein Anrecht auf ein Leben und dieses wollte ich ihr ermöglichen, so angenehm wie es in meiner Macht stand. Der Reichtum war mir eigentlich nie wichtig gewesen, sondern immer nur der Ruhm. Doch jetzt war es genau umgekehrt. Auf die Berühmtheit konnte ich ab sofort verzichten und war nun froh darüber, reich zu sein, somit konnte ich meiner Tochter jeden erdenklichen Wunsch erfüllen.
Nachdem Penélope mich wütend auf Spanisch beleidigte und ich ihr mit den Worten: „Jajajaja, bla-bla-bla“ geantwortet hatte, schnappte sie kurzerhand mit hassverzerrtem Gesicht die Stehlampe im Wohnzimmer und steckte sie in unseren neuen 6.000 Dollar teuren Fernseher.
„Adios Amigo, morgen reich ich die Scheidung ein, Arschloch!“
Dann schlug sie dermaßen die Haustüre zu, dass sogar Shirley zu weinen anfing.
„Muchas gracias Señorita. Ja, hau doch ab, du hysterische Ziege! Und lass dich nie wieder bei mir blicken!“, brüllte ich ihr hinterher.
Der Fernseher war im Eimer, das war eine Katastrophe, denn ausgerechnet an diesen Abend lief meine Lieblingssendung: Die Waltons. Also ging ich zornig zum Telefon, bestellte mir genau denselben Fernseher nochmal und verlangte ausdrücklich, dass der Apparat unbedingt noch vor 18 Uhr bei geliefert werden müsste.

Ich hatte jede erdenkliche Maßnahme getroffen, dass sich Shirley später einmal mit ihrem Rollstuhl in unserer Villa ungehindert bewegen konnte. Am Geländer der großen Eichentreppe, die vom Empfangssaal hinauf in die oberste Etage führte, ließ ich einen elektrischen Lift anbringen. Somit konnte ich Shirley dann später, samt ihrem Rollstuhl, ungehindert hinauf zu ihrem Zimmer befördern. Außerdem hatte ich das Gästebadezimmer behindertengerecht umbauen lassen und als sie sechs Jahre alt war, hatte ich ihr einen elektrischen Rollstuhl besorgt, den sie mithilfe eines Joysticks mit ihrer gesunden linken Hand selbst steuern konnte. Shirley war zwar auch geistig stark eingeschränkt, dennoch hatte das Kind schnell begriffen, wie man den Rollstuhl fortbewegt und bremst. Schon nach wenigen Tagen düste Shirley im Haus herum und freute sich dabei.
Ich befasste mich jeden Tag ausschließlich mit meiner Tochter und ging mit ihr in unserem Park spazieren. Ich versuchte ihr das Sprechen beizubringen, doch dies war beinahe vergebens. Sie brachte nur Laute heraus, die sich nur annähernd wie Wörter anhörten. Das war ihre Sprache und ich verstand sie. Ich wusste immer was meine Tochter verlangte oder was sie meinte.
Einige Wörter konnte sie sogar deutlich sprechen, diese Wörter waren Daddy und Hunger haben. Als ihr braunes Haar länger geworden war, hatte ich ihr seitlich Zöpfe gebunden. Ich war sehr stolz auf meine Tochter gewesen aber trotzdem versuchte ich es zu vermeiden, dass die Öffentlichkeit erfuhr, dass meine Tochter geistig und körperlich behindert war. Das wäre nur wieder Futter für die lästigen Paparazzos gewesen und was ich absolut verabscheute war, dass meine kleine unschuldige Tochter von diesen Aasgeiern vorgeführt werden würde. Ich kaufte mir dann regelmäßig sämtliche Boulevardzeitungen und verfolgte beharrlich jeden Bericht über mich und geierte darauf, die Schundblätter zu verklagen, falls sie Fotos von Shirley in ihrem Rollstuhl veröffentlichen würden.
Nun waren die Journalisten und Fernsehteams mehr denn je meine Feindbilder geworden. Wenn ich also in die Stadt ging, vermied ich es anfangs Shirley mit ihrem Rollstuhl zu schieben, stattdessen trug ich mein Kind auf dem Arm. Aber woran ich nicht dachte war, dass man es Shirley ansah, was mit ihr los war. Ich hasste die mitleidigen Blicke der Leute wenn ich mit ihr einkaufen ging. „Was ist? Was glotzt ihr denn alle so dämlich? Habt ihr etwa noch nie ein behindertes Kind gesehen?“, motzte ich die Leute an und es war mir egal, ob sie nun meine Fans waren oder nicht. Mag sein, dass sie im Grunde mit mir Mitleid hatten, weil sie mich mochten und mir ein gesundes Kind gewünscht hatten. Aber ich konnte auf ihr Mitleid verzichten, denn ich war auf meine Tochter unheimlich stolz.

Penélope hatte ihre Drohung schließlich in die Tat umgesetzt und ein halbes Jahr später die Scheidung eingereicht. Obwohl sie schon die ganze Zeit nicht mehr bei mir gewohnt hatte und ich auch nicht wusste, wo sie sich rumtrieb, war ihre Entscheidung für mich etwas schockierend und unerwartet gewesen. Insgeheim hatte ich immer gehofft und auch geglaubt, dass sie eines Tages zurückkommen würde. Sie war doch mein Mädchen, aber mein Mädchen zeigte nun ein hässliches Gesicht und war hinter meinem Geld her.
Mein Gesamtvermögen betrug schätzungsweise 12 Millionen Dollar; da ich niemals über eine Gütertrennung nachgedacht hatte, stand ihr gesetzlich die Hälfte meines Vermögens zu. Dies störte mich nicht einmal, Hauptsache war, dass ich meine Villa behielt und das Sorgerecht für Shirley zugesprochen bekommen würde. George jedoch wollte weder mich noch Penélope im Scheidungsprozess vertreten, weil wir beide seine Freunde waren. Er hatte sich uns beide persönlich vorgenommen und versucht, dass wir unsere Scheidungsabsicht nochmal überdenken würden. An mir lag es praktisch nicht, ich wäre bereit dazu gewesen unsere Ehe wieder zu kitten, aber für Penélope stand die Entscheidung fest. Scheidung!
Penélope und ich saßen uns vor dem Scheidungsrichter wie Fremde gegenüber und würdigten uns keinen Blick. Sie wäre sicherlich sogar mit nur 3 Millionen Dollar zufrieden gewesen, die Villa war ihr sowieso gleichgültig und auf die mühselige Pflege von Shirley konnte sie gut und gerne verzichten. Für sie war nur das Geld interessant. Penélope war von diesem Tag an eine reiche Frau. Mich störte der beachtliche Verlust meines Kontostandes aber wenig, denn schließlich war ich im Besitz dieser magischen Schreibfeder und weitere Bestseller und Einnahmen waren somit sowieso garantiert. Hauptsache war, dass mir das Sorgerecht für Shirley zugesprochen wurde und sie bei mir leben sollte. Dafür hätte ich ihr sogar meine geliebte Villa überlassen.

Die Pflege meiner Tochter beanspruchte mich dermaßen, sodass ich beinahe dreizehn Jahre lang nicht mehr die Schreibfeder angerührt hatte. Sie lag in meinem Tresor im Schlafzimmer, das zugleich mein Arbeitszimmer geworden war. Dort standen, nachdem Penélope ausgezogen war, ein massiver Mahagonischreibtisch und die alte Standuhr aus der Wohnstube meiner Eltern. Diese Standuhr hatte ich irgendwann zu mir nach Beverly Hills einfliegen lassen, weil ich dieses markante Ticken vermisste.
Übrigens, mein Haus in Cape Cod hatte ich nie verkauft sondern meinen alten Nachbarn Mr. Johnson darum gebeten, dass er das Grundstück sowie das Haus regelmäßig pflegt. Dafür bekamen die Johnsons von mir jeden Monat 1.500 Dollar überwiesen. Ich weiß, jeder normale Mensch hätte das Haus sicherlich längst verkauft, aber ich war nun Mal nostalgisch veranlagt, das Haus war das Erbe meiner verstorbenen Eltern und ich wusste, wahrscheinlich würde mich eines Tages das Verlangen packen meine alte Heimat wiederzusehen. Sicher, ich könnte mir das luxuriöseste Hotel in Provincetown leisten, würde mit großem Tamtam empfangen werden und müsste wahrscheinlich nicht einmal dafür bezahlen. Aber wenn ich schon zurück in meine Heimat kehren würde, dann würde ich auch gerne den Zauber der Vergangenheit erleben, dies nur in meinem alten Haus möglich wäre.
Ich war jetzt erfahrener sowie listenreicher geworden und meinte, die Schreibfeder ausgetrickst zu haben. In meinem Tresor lagen genügend Manuskripte, die ich schon vor der Geburt meiner Tochter geschrieben hatte und jährlich immer nur eins davon Adam überreichte. Somit dachte ich, dass ich von diesen Albträumen verschont bleiben würde, die mich ja insbesondre dann heimsuchten, wenn ich eine Zeit lang nicht schrieb. Aber davor fürchtete ich mich schon lange nicht mehr, denn was sollte mich jetzt noch erschrecken können? Etwa wieder dieser weiße Nebel oder der Collegebursche mit dem Revolver? Oder etwa der Rollstuhl, darin eine Puppe mit verdrehten Gelenken sitzt? Diese Botschaft war ja längst angekommen.
Aber die Schreibfeder ließ sich nicht austricksen und zu allem Überfluss wusste sie genau, was mich erschreckte. Außerdem hatte ich einen Vertrag unterzeichnet der unter anderem von mir abverlangte, dass ich so viele Bücher schreiben sollte wie es in meinem Leben nur möglich wäre. Und ausgerechnet am 31. Oktober 1987, in der Nacht meines 42. Geburtstages, bescherte mir die Schreibfeder wiedermal einen eindrucksvollen Albtraum, sodass ich gleich am nächsten Tag fleißig am Schreiben war. Denn diesmal wollte ich eine Wiederholung oder Fortsetzung dieses Traumes unbedingt vermeiden.
Meine ständige On und Off Beziehung, die chinesische Schauspielerin Sun Liu-Wang, lag bereits schlafend neben mir. Sie war ebenso exotisch bildhübsch wie geheimnisvoll, denn obwohl wir schon seit sechs Jahren hin und wieder liiert waren, kannte ich weder ihre Familienverhältnisse noch ihren wahren Namen. Ich wusste nicht einmal, wie alt sie war. Vielleicht war sie so alt wie ich, aber sie sah höchstens wie dreißig aus. Vielleicht war sie sogar älter als ich? Ihre Anwesenheit tat mir einfach nur gut, denn sie strahlte Besonnenheit aus und war der Ruhepunkt meines Lebens. Wir hatten uns bisher nicht einmal gezankt und nie war ein böses Wort gefallen. Sun befasste sich oft mit meiner Tochter und versuchte eine Beziehung zu ihr aufzubauen, doch dies war zwecklos. Shirley reagierte nie auf ihre Zuneigung, weil meine Tochter sie offensichtlich nicht mochte (dies ich Sun aber verschwieg). Shirley war ausschließlich auf mich fixiert und reagierte sogar eifersüchtig, wenn die kleine Judith uns besuchte und mich zur Begrüßung umarmte.
Mit einer Lesebrille auf der Nase las ich den aktuellen Thriller-Science-Fiction Roman: Der Schutzengel, von meinem Kollegen Dean Koontz, den ich genauso wie Stephen King sehr schätzte. Irgendwann war ich beim Lesen einfach eingeschlafen, und träumte:

Regen rauschte und aus dunklen Wolken, die rasend am Himmel vorbeizogen, zischten gewaltige Blitze heraus. Erinnerungen aus der damaligen Gewitternacht in Rumänien schoben sich fotografisch dazwischen. Ich sah das Gesicht des rothaarigen Engels kurz aufblitzen und er sagte mit seiner gruseligen rauen Stimme: „William, fürchte dich nicht … Ich bin immer bei dir.“
Ich stand mit meinem dunklen Designeranzug und Krawatte inmitten einer Menschenmenge, die mit hellen und braunen Gewändern bekleidet waren. Ich sah mich um. Die Gegend war felsig und weit unten im Tal erkannte ich die Stadt Jerusalem. Die Leute applaudierten und pfiffen, genauso als würde ich den roten Teppich in Hollywood betreten. Doch dieser Applaus galt nicht mir.
Ich spürte wie der Regen auf mich strömte und dabei mein Designeranzug durchnässt wurde. Es geht also wieder los, war mein Gedanke. Es war wieder einer dieser Träume, wobei ich meine Umgebung real wahrnahm und dabei sogar Schmerzen verspüren konnte.
Aufgrund der Menschenmenge, mittendrin ich stand, konnte ich nicht sehen, wen die Leute anfeuerten. Ich war verwundert als ich realisierte, dass ich mich offenbar 2.000 Jahre zuvor befand und der einzige Mensch aus dem 20. Jahrhundert war. Also drängte ich mich vor und sah einen Mann, der gerade im strömenden Regen ein riesiges Holzkreuz auf seiner Schulter schleppte.
Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil sein langes nasses Haar klatschend anlag und sein bärtiges Gesicht verbarg. Sein nackter Körper war von blutigen Striemen gezeichnet und die römischen Soldaten, die ihn begleiteten, trieben ihn erbarmungslos zu seinem Schafott, dort wo bereits zwei weitere Menschen am Holzkreuz genagelt wurden. Eine alte Frau, die mit einem schwarzen Gewand verhüllt war, lief ebenfalls neben ihn her.
Er war lediglich mit einem Lendenschurz bekleidet und zog das Holzkreuz auf seiner Schulter mühselig hinterher. Regenwasser tröpfelte von seinem bärtigen Kinn und plötzlich stolperte er. Das mächtige Holzkreuz stieß zu Boden – Matsch spritzte umher – und kippte samt dem geschundenen Mann seitlich weg. Klatschend knallte das Kreuz auf den Boden und der Mann sank erschöpft darauf.
Die Menge jubelte und applaudierte gehässig und als einige Frauen aus der Menschenmenge vortraten, um ihn zu helfen, breitete die Frau mit dem schwarzen Gewand ihre Arme auseinander und hielt sie davon ab. Ein Kapuze verdeckte ihr Kopf und warf einen Schatten über ihr Gesicht, sodass ich nur ihre Nase und Mund erkennen konnte.
Mir war sofort klar, welch biblische Situation sich grad vor meinen Augen ereignete. Mir kam es vor, als wäre ich in eine Zeitmaschine gestiegen, die mich zum Tag der Kreuzigung von Jesus Christus entführt hatte. Ich beobachtete die Frau, wie sie die anderen Frauen davon abhielt, dass sie den armen Christus zur Hilfe eilten.
„Lasst ihn, niemand darf ihm helfen!“, kreischte sie. „Er hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und macht mit Satan gemeinsame Sache! Dieses Kreuz hat er ganz alleine zu tragen!“
Die Frauen gehorchten, wandten sich ab und verschwanden in der Menschenmenge.
„Kreuzigt ihn! Kreuzigt ihn! Er hat es verdient!“, schrie sie die Menge an.
Die Menschen um mich herum jubelten und klatschten Beifall. Fassungslos sah ich mich um und beobachtete, wie die Leute mit den Gewändern den armen Mann, der sich mit letzter Kraft aufrappelte und das schwere Kreuz wieder auf seine Schulter nahm, johlend mit Steine bewarfen. Männer, Frauen sowie Kinder, bombardierten den geschundenen Christus mir Schlamm und Steine. Daraufhin stieß ich die Leute zur Seite und stellte mich vor die alte Frau.
„Wie kannst du das nur zulassen?!“, schrie ich die Frau im strömenden Regen empört an. „Er ist doch dein Sohn!“
Sie sah mit ihrem schwarzen Gewand und Kapuze wie ein unheimlicher Geist aus. Ich sah nur ihre Nase und ihren zähnefletschenden Mund, als sie mit ausgebreiteten Armen bedrohlich auf mich zu marschierte. Instinktiv wich ich einige Schritte zurück.
„Krrreuzigt ihn! Krrreuzigt ihn! Er hat es verdient!“, kreischte sie hasserfüllt.
„Wie kannst du das verlangen? Hast du denn kein Herz? Du bist doch seine Mutter!“, brüllte ich zurück. Ich war völlig aufgewühlt und konnte es nicht fassen, dass die eigene Mutter seinen Tod forderte.
Der bärtige Mann mit dem langen Haar und der Dornenkrone, die sie ihm höhnisch lachend auf seinem Haupt gesteckt hatten, bis er schmerzvoll aufschrie und das Blut über sein Gesicht lief, schrie erneut auf, als ihm ein römischer Soldat mit einem Vorschlaghammer die Nägel durch seine Armgelenke und Füße wuchtete. Mit Seilzügen zogen sie den gekreuzigten Mann schließlich in die Vertikale.
Aus dem Mund der Frau ertönte daraufhin ein grässliches, schrilles Lachen, wie das von einer Hexe, und sie hielt ihre Arme triumphierend in die Höhe.
„Ja, ja, kreuzigt ihn! Kreuzigt ihn! Möge er bis in die Ewigkeit in der Hölle schmoren!“, kreischte sie erneut.
Daraufhin ging ich wütend auf sie zu, riss ihre Kapuze herunter und erstarrte. Ich war dermaßen geschockt, dass ich sprachlos vor ihr auf die Knie in den Matsch fiel.
Es war meine Mutter, die mich emotionslos durch ihre Hornbrille ansah.
„Selbst wenn du hundert Mal das Vater Unser aufschreiben würdest, mein Sohn … Nichts wird dich jetzt noch davor bewahren können“, sprach sie mit ruhiger Stimme.
Dann wagte ich einen Blick auf den Gekreuzigten. Ich sah hinauf. Nun erkannte ich sein Gesicht. Es war mein eigenes Gesicht, als ich noch jung war und mein Haar lang trug mit Bart, wie damals auf dem Containerschiff Destiny.
Meine eigene Mutter verlangte meinen Tod? Unbändige Wut übermannte mich nach dieser Erkenntnis, ich erhob mich und starrte sie hasserfüllt an.
Dieser Albtraum sollte damit enden, dass ich sie mit meinen bloßen Händen erwürge und als ich sie grad schreiend an ihren Hals packen wollte, hielt ich inne, weil ich die kalte, messerscharfe Klinge eines Kurzschwertes an meiner Kehle spürte. Langsam drehte ich mich um und blickte den Römer an, der meinem anderen Ich die Nägel durch seine Armgelenke und Füße geschlagen hatte und mir das Schwert am Hals hielt. Regentropfen prasselten gegen seinen Helm und lief an seinem Lederschurz herunter.
Ich blickte genau in das Gesicht meines Vaters. Er lächelte sanftmütig, wie er früher immer gelächelt hatte.
„Lass es, William. Du weißt doch, wie sie immer ist“, sagte er.

William Carter war schreiend aufgewacht und saß keuchend im Bett. Seine Freundin Sun Liu-Wang war ebenfalls erwacht, nahm ihn zärtlich in die Arme und tröstete ihn. Sie war es mittlerweile gewohnt, dass ihn manches Mal Albträume plagten. Doch diesmal sah sie ihn mit ihren mandelförmigen Augen stutzig an, fasste ihm vorsichtig am Hals und zeigte ihn das Blut, welches an ihren Finger haftete. „Ich hatte mich vorhin beim Rasieren geschnitten“, beruhigte er sie. „Schlaf weiter, meine Lotusblume.“
William stand auf, ging ins Badezimmer und betrachtete im Spiegel seinen Hals. Es war nur ein winziger Schnitt gewesen, welchen er kaum spürte. Die messerscharfe Klinge hatte sich sanft in sein Fleisch geschnitten. Nachdem er sich ein Pflaster darauf geklebt hatte, schlenderte er gähnend nebenan ins Kinderzimmer und öffnete die angelehnte Tür. Vorsichtig ging er auf das Bett zu. Shirley hatte wie immer ihren Daumen in den Mund gesteckt und schlief. Ihr verkrümmter Arm hielt dabei ihren Stoffhasen fest. Er lächelte und streichelte sanft über den Kopf der Vierzehnjährigen. Er seufzte, küsste ihr auf die Stirn, zog die Bettdecke zurecht und ging zurück ins Schlafzimmer.
Sun schlief wieder bereits, als er seinen Tresor öffnete und das silberne Etui herausholte. Dann setzte er sich an den Schreibtisch, hörte einen Augenblick dem Ticken der Wanduhr zu, öffnete das Etui und nahm die Schreibfeder in die Hand.
Daryl Barnes wird wieder zum Leben erweckt werden und wird diesmal, im vierten Teil, grausamer zuschlagen als je zuvor.
 
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