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9 Seiten

Memoiren eines Schriftstellers - 24. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 24

In den darauffolgenden Jahren versuchte William Carter die Wahrheit herauszufinden, ob er nun ein wahrer Schriftsteller ist oder nicht, wobei er beim Schreiben auf seine magische Schreibfeder bewusst verzichtete. Unter dem Pseudonym Richard Springfield veröffentlichte er ein Buch, dieses jedoch nur einige Kurzgeschichten enthielt. Allein für die Fertigstellung dieser Anthologie benötigte er über zwei Jahre, zudem waren die Lektoren des Jack Hopkins Books Publishing Verlages äußerst verwundert, weil sie von dem weltberühmten Schriftsteller zum ersten Mal ein Manuskript überreicht bekamen, welches grammatisch sowie auch die Rechtschreibung mangelhaft war. Dass dieses Buch nicht auf Anhieb ein Kassenschlager werden würde, war sich William bewusst, schließlich war Richard Springfield für das Publikum ein völlig unbekannter Autor. Jedoch spekulierte er auf seine literarische Genialität und glaubte felsenfest daran, dass allein durch Mundpropaganda sein erstes, selbstgeschriebenes Buch irgendwann automatisch in der Bestsellerliste erscheinen würde. Aber die Buchkritiker urteilten zu seiner Verwunderung gnadenlos, dass die Literatur des ehrenwehrten Mister Springfield allerhöchstens den anspruchslosen Leser begeistern würde. Inhaltlich wären seine Geschichten kreativlos, denn vergleichbares hätte man schon etliche Male zuvor gelesen. Zudem wäre jedes Ende seiner Kurzgeschichten bereits nach wenigen Absätzen vorhersehbar. Obendrein beurteilten die Kritiker, Springfields Protagonisten seien nur langweilige Stereotypen. Fazit der Buchkritiker: Eine durchaus lesenswerte Lektüre, um die Zeit im Wartezimmer eines Zahnarztes oder auf dem stillen Örtchen zu überbrücken.
Unterdessen plagten William jedoch ganz andere Sorgen. Der Termin für Penélopes Hinrichtung stand unmittelbar bevor. Der Tag ihrer Abrechnung war gekommen.

Chapter 130 -135 aus meinen Memoiren: Vaya con Dios

Los Angeles, Kalifornien April 2004

Penélope hatte sich während ihrer Inhaftierung völlig gewandelt. Sie war plötzlich religiös geworden und wenn ich sie mit Shirley besuchte, war sie stets mit einer Bibel erschienen. Äußerlich war ebenfalls eine Veränderung festzustellen. Sie war wieder gertenschlank und ihr langes, braunes Haar hatte sie bis zur Schulter abschneiden lassen. Und obwohl sie sonst äußerst eitel gewesen war, störte sie sich nicht daran, dass nun eine graue Haarsträhne in ihrem anmutigen Gesicht lag.
Selbst das Rauchen hatte sie aufgegeben und behauptete, dies wäre ihr problemlos gelungen, weil sie fest an Jesus Christus glauben würde und ihn angebetet hätte, ihre allerletzte Sucht endgültig zu besiegen. Außerdem bereute sie jetzt ihre Tat zutiefst und betete täglich zu Gott, damit der allmächtige Herr ihre Schuld vergeben möge.
Penélope hatte mir sogar vorgeschlagen, dass ich sie zum zweiten Male heirate, weil auf ihrem Grabstein Mrs. Carter und nicht Mrs. Dickson stehen sollte, aus pietätvoller Rücksicht vor der Familie, die sie ins unsägliche Unglück gestürzt hatte. Aber hauptsächlich bewog dieser Entschluss sie dazu, weil sie unbedingt wollte, dass sie, ich und Shirley wieder eine richtige Familie sind. Aber Penélope stellte sogleich klar, zwischen uns würde es niemals wieder Sex geben, dies habe sie Gott in ihren Gebeten versprochen.
Ich würde lügen wenn ich behaupte, ihre Forderung hätte ich leichtfertig hingenommen, aber wenn wir die einzigen zwei Stunden alleine unbeaufsichtigt in einer speziellen Haftzelle verbrachten, die uns einmal im Monat zustanden, wir auf einem gemütlichen Sofa nur kuschelten und von früher erzählten, dann spürte ich, dass sie glücklich war. Und somit war ich genauso glücklich.
Ehrlich gesagt war ich über ihren positiven Persönlichkeitswandel zwiegespalten, denn sie las ausschließlich Verse aus der Bibel vor und redete von nichts anderem als von Gott und Jesus. Die einzige, die ihr offenbar dabei aufrichtig zuhörte, war Shirley. Sie steuerte mit ihrem Rollstuhl stets nahe an sie heran, blickte sie mit leicht geöffnetem Mund an, hörte zwar interessiert zu aber quatschte auch ständig dazwischen, woraufhin Penélope ihre Fragen geduldig erklärte. Ich dagegen schaute sie nur an, streichelte ihre Hand und genoss jede Stunde und jede Minute, die mir noch gemeinsam mit ihr blieben.

Es freute mich zwar, dass sie endlich vernünftig geworden war und ihr Verbrechen nun bereute, aber andererseits vermisste ich die temperamentvolle, ungebändigte Rebellin in ihr. Der Knast, die Isolation und genau zu wissen, an welchem Tag sie sterben würde, hatte sie völlig umgekrempelt.
Ich liebte Penélope, weiß Gott wie ich sie schon seit dem ersten Tag liebte, als ich sie damals auf Adams Luxusyacht Godspeed unter all den anderen Schönheiten entdeckte. Und schon am Tag darauf zeigte sie ihre Zähne, dies mich zugegeben irgendwie antörnte. Ihr leicht aufbrausendes Gemüt gehörte nun mal zu ihrer Persönlichkeit, aber letztendlich war dies leider auch der Grund für unsere Scheidung gewesen. Mag ja sein, dass es widersprüchlich klingt, aber vielleicht kann man meine Ansicht auch nur dann nachvollziehen, wenn man es selber erfährt, wie der eigene Partner plötzlich vom Saulus zum Paulus geworden ist.
Damals, als wir noch jung und frisch verheiratet waren, stand sie konsequent loyal hinter mir. Selbst wenn ich mich früher hitzköpfig dazu verleiten ließ, mich mit den Paparazzi zu prügeln, fragte sie sich nicht einen Augenblick, ob ich eventuell zu überzogen reagierte und eigentlich diese Eskalation provoziert hatte. Penélope war knallhart und hatte keinen Moment gezögert, ging mit Geschrei auf die Reporter los und prügelte und trat auf sie dermaßen ein, so, dass ich sie zurückhalten und die Herrschaften letztendlich vor meiner lieben Ehefrau schützen musste.
Wir waren früher wie Bonnie & Clyde gewesen, unzertrennlich und hielten immer zusammen. Niemals ging ich ohne sie auf eine Party, ich wollte sie immer dabei haben, weil mich andere Frauen absolut nicht interessierten, obwohl ich damals als frisch gebackener Superstar stets von hinreißenden Damen und Groupies umschwärmt wurde. Aber Penélope war immer wachsam gewesen, hatte schon manche Lady in der Damentoilette aufgelauert und sie daraufhin fuchsteufelswild geworden krankenhausreif geprügelt, nachdem diese mir schöne Augen gemacht hatten.
Im Gegensatz war sie dafür aber auch sehr großherzig und äußerst hilfsbereit, ließ ihre arme Familie und ihre sogenannten Freunde nie im Stich, und wurde letztendlich von allen nur schamlos ausgenutzt (insbesondre als sie damals nach unserer Scheidung einige Jahre lang vermögend war). Die Kehrseite der Medaille jedoch war, dass ihr ausschweifender Drogenkonsum sie irgendwann einfach unausstehlich machte, bis selbst nicht einmal ich mit ihr zusammen leben wollte.
Ich akzeptierte ihre Bedingung schließlich anstandslos, dass die Zärtlichkeiten zwischen uns eingeschränkt bleiben sollten und heiratete sie zum zweiten Mal, dies sowieso schon immer mein sehnlichster Wunsch gewesen war. Ich liebte sie eben, wie noch keine Frau zuvor. Und genau aus diesem Grund erfüllte ich auch ihren allerletzten und wohl wichtigsten Wunsch, obwohl es mich davor absolut graute und mich sogar zeitweise dagegen entschieden hatte, dass ich bei ihrer Exekution anwesend sein soll. Das einzige wovor Penélope sich nämlich fürchtete, war nicht die Vollstreckung ihrer Hinrichtung, sondern einsam und alleine sterben zu müssen.

Es herrschte eine unheimlich ruhige Atmosphäre, als ich mich in einem kleinen düsteren Saal auf einen Ledersitz hockte und durch eine riesige panzerverglaste Scheibe starrte, dahinter ein heller, steriler Raum zu sehen war. Dieser ähnelte einem Operationsraum, mittig stand ein aufgebahrtes Liegebett mit Lederschnallen. Auf einem rollbaren Tisch lagen Tupfer, Kanülen und Injektionsspritzen.
Dieser Moment, diese ganze Situation, wirkte irgendwie unreal auf mich, als würde ich nur in einem Kino sitzen und zusehen müssen, wie Penélope operiert oder ein Kind gebären würde. Einige Plätze links von mir saßen eine ältere farbige, äußerst beleibte Frau und ein junger Mann, der mit einer Collegejacke und einer Football Kappe der San Francisco 49ers bekleidet war. Das waren Lewis Dicksons Mutter und sein mittlerweile einundzwanzigjähriger Sohn Jason, die bei Penélopes Hinrichtung durch die sogenannte Giftspritze rechtmäßig anwesend sein durften.
Eine bedrückende Ruhe herrschte im Saal, weder hörte ich ein Hüsteln noch ein Schniefen von den Dicksons. Ich fühlte mich beklommen, als hätte ich kein Recht hier zu sitzen und wartete innerlich regelrecht darauf, dass insbesondre Jason aufstehen und mich beleidigen oder gar hinausweisen würde. Aber Beide würdigten mir keinen einzigen Blick, als wäre ich gar nicht anwesend, dies mir zugegeben auch angenehm war. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn man die gute Frau und ihren Enkelsohn in einen anderen Saal gebracht hätte oder sie erst gar nicht erschienen wären, aber möglicherweise erging es den Beiden genauso wie mir.

Mein Herz pochte ein paar Takte schneller und ich merkte wie ich schwitzte, als ich durch das große Schaufenster sah, wie Penélope von zwei Gefängnisärzten hineingeführt wurde. Wenn man es genau nahm, waren sie die Henker.
Penélope war mit ihrem orangenen Gefängnisoverall bekleidet und die einzigen privaten Gegenstände, die man ihr erlaubt hatte bei sich zu tragen, waren eine Kruzifix Kette um ihren Nacken und die kleine Stoffeule, die Shirley ihr vor zwei Jahren einst mitbrachte.
Während die Männer mit den weißen Kitteln Penélope die Handschellen und Fußketten abnahmen, blickte sie mit ihren Rehaugen zuerst zu den Dicksons. Über die Lautsprecher hörte man sie reden.
„Misses Dickson … Jason … Ich weiß ihr könnt mir nicht verzeihen. Trotzdem bitte ich euch um Vergebung.“ Eine Träne rollte über ihre Wange, sie atmete einmal schwermütig auf und fuhr ohne zu schluchzen tapfer fort. „Noch heute werde ich mich vorm allmächtigen Herrn für meine abscheuliche Tat verantworten, und was auch immer mit mir dann geschieht, ich werde es demütig hinnehmen“, sagte sie mit ihrem ausgeprägtem spanischen Akzent.
Nach diesen Worten hielt sich Mrs. Dickson die Hände vor ihr Gesicht und weinte bitterlich. Jason aber, der im Ledersitz lümmelte, blickte sie nur ausdruckslos an, zeigte ihr den Mittelfinger und antwortete emotionslos: „Fahr zur Hölle, Lady.“
Penélope schluckte und blickte zu Boden, dann schaute sie mich an und lächelte gezwungen.
„Will, ich liebe dich“, klang es aus den Lautsprechern. „Pass auf unsere Tochter gut auf und gib ihr einen Kuss von mir. Muchas gracias, für alles, was du für mich getan hast und für deine Liebe. Vaya con Dios“, waren ihre letzten Worte, dann schnallte man sie auf die weiße Lederliege fest, wobei die Ärzte ihre Arme rechts und links ausbreiteten und ebenfalls mit Ledergurten fixierten. Währendem starrte sie mich mit ihren großen, dunklen Augen an.
Das letzte halbe Jahr hatte sie immer wieder erwähnt, dass das Letzte was sie sehen möchte, ich sein sollte, bevor sie für immer die Augen schließen müsste.
Penélope so auf der Lederliege festgeschnallt ansehen zu müssen, erinnerte etwas an eine Kreuzigung. An eine moderne Kreuzigung, ohne dass dabei ein Tropfen Blut floss. Zuerst wurde ihr ein starkes Narkosemittel injiziert, woraufhin sie kurz mit den Augenlidern zuckte und sogleich bewusstlos wurde.
Dann wurde ihr die Todesspritze verabreicht.
Ich konnte mich weder bewegen, noch etwas sagen oder gar denken. Apathisch sah ich einfach nur zu, wie sie mein Mädchen wie einen alten Hund einschläferten. Während Jason und Mrs. Dickson wortlos den Saal verließen, blieb ich so lange sitzen, bis die elektrischen Jalousien des gepanzerten Ladenfensters langsam herunter gelassen wurden und das Licht anging. Nun war ihr Martyrium vorbei. Penélope war tot.

Als ich Penélope im April 2004 beerdigen ließ, regnete es in Strömen. Es war ein angenehmer, frischer Frühlingsregen gewesen. Ich hatte mich für einen abgelegenen, namenlosen Waldfriedhof, unter Ausschluss der Öffentlichkeit selbstverständlich, weit von Los Angeles entfernt entschieden, aus Angst, dass fanatische San Francisco 49er Fans eines Tages ihr Grab schänden.
Nur ihre engsten Freunde waren gekommen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Das waren lediglich Adam (ohne seine Patchworkfamilie, nur sein leiblicher Sohn Kevin war dabei), sowie George und Missey. Sogar ihre Tochter Judith war gekommen, obwohl sie Penélope nie ausstehen konnte und ihren heimtückischen Mord zutiefst verabscheute, jedoch nur um mir und Shirley beizustehen. Selbst einen katholischen Pfarrer aufzutreiben, der bereit war für eine Mörderin eines amerikanischen Footballstars, einen Volkshelden, ein Gebet zu sprechen, war nicht ganz so unproblematisch gewesen (ein paar Hunderter für den Klingelbeutel hatten letztendlich überzeugt).
Nachdem der Pfarrer das Sakrament vollzogen hatte, befestigte Thelma den Mickey Maus Regenschirm an Shirleys Rollstuhl, hakte sich bei Judy ein und beide verließen den Friedhof.
George humpelte mit seinem Messingspazierstock auf mich zu (er war mit einem schwarzen Mantel und einem altbackenen Hut bekleidet), klopfte beherzt auf meine Schulter und entschuldigte sich zum etlichen Male dafür, dass er die Abstimmung für Penélopes frühzeitige Hinrichtung unterschrieben hatte, ja, dass er diese überhaupt erst in Bewegung gebracht hatte. Dies tät ihm unsäglich leid und er fühle sich schuldig, meinte er mit wässrigen Augen, während der Regen auf seinen schwarzen Regenschirm prasselte. Um diesen außerordentlichen Beschluss wieder rückgängig zu machen, hatte George sogar um eine Audienz bei dem neu ernannten Gouverneur von Kalifornien, Arnold Schwarzenegger, gebeten. Leider aber ohne Erfolg. Mister Terminator hat momentan keine Zeit ihn anzuhören, hieß es ständig.
Hasta la vista, Baby. Seitdem schaute ich mir keine Arni Filme mehr an.
Ich erwiderte seine Entschuldigung und erklärte ihm, dass es im Grunde sowieso egal sei, ob man sie nun jetzt oder erst in zwanzig oder gar dreißig Jahren hingerichtet hätte. Ihr Todesurteil war längst besiegelt worden, nichts auf der Welt hätte dies ändern können. Vielleicht war jetzt sogar der günstigste Augenblick, sagte ich. Was hätte sie schon davon gehabt, wenn sie noch jahrzehntelang im Knast hätte versauern müssen und schließlich als uralte Frau mit einem Rollator zu ihrem Schafott geführt werden müsste, falls sie nicht vorher in ihrer Zelle gestorben wäre? Vielleicht würde dann von uns niemand mehr leben, dann wäre sie tatsächlich einsam gestorben und man hätte sie irgendwo namenlos verscharrt.
George kniff seine Lippen zusammen und nickte stetig, warf einen Blumenstrauß in die Grube und sagte: „Ruhe in Frieden, Penny. Ich verzeihe dir und hoffe, dass auch du mir verzeihst.“
Ebenso trat Adam vor ihr Grab, und obwohl er immer der Macho war, rannen auch ihm Tränen über die Wangen und er schluchzte. Adam warf einen Rosenstrauß auf ihren Sarg und verabschiedete sich von ihr.
„Mach`s gut, meine kleine Penny. Ich werde dich nie vergessen.“
Nachdem Adam mir wortlos auf die Schulter klopfte, ich ihm nur nickend entgegnete, folgte er gemeinsam mit Kevin im Regenguss, mit gesenktem Haupt, George und Missey, die bereits vorgegangen waren.

Nur Shirley und ich blieben noch eine Weile vor ihrem offenen Grab im Regen stehen. Shirley wurde ja von ihrem Mickey Maus Regenschirm geschützt, ich dagegen ließ mich einfach vollregnen und starrte hinunter auf ihren Eichensarg, darauf nur drei Blumensträuße und etwas Erde lagen. Shirley schien die Situation nicht sonderlich zu berühren, sie fragte mich sogar brabbelnd, wann wir endlich wieder nach Hause gehen würden, weil ihr langweilig wäre. Und plötzlich, als die Anderen den Waldfriedhof verlassen hatten und wir alleine waren, brach ich zusammen. Ich kniete in den Matsch, vergrub mein Gesicht in Shirleys Schoß, krallte mich an ihr fest und weinte bitterlich, wie noch nie zuvor.
Ich bedauerte es unendlich, dass ich mit meinem Mädchen nicht gemeinsam alt werden durfte. Aber plötzlich hörte ich zu weinen auf, weil ich Shirleys Hand auf meinem Kopf spürte, ganz sachte. Ganz zaghaft. Lediglich wie eine Berührung, kraulte sie mit ihren Fingern durch mein Haar.
Shirley war normalerweise aufgrund ihrer geistigen Behinderung gar nicht fähig, die Gefühle anderer Menschen zu erkennen und dementsprechend zu reagieren. Für sie zählten nur ihre eigenen Bedürfnisse und sie war es lebelang gewohnt, dass man allein nur auf sie Rücksicht nahm. Und doch streichelte sie zärtlich meinen Kopf. Dies hatte ich bei ihr noch nie zuvor erlebt. Kniend und völlig durchnässt, erhob ich langsam meinen Kopf aus ihrem Schoss und blickte verwundert in ihr Gesicht.
Daddy, du musst doch gar nicht traurig sein und weinen. Mami ist jetzt bei Oma und Opa im Himmel, und der liebe Gott passt auf sie auf. Das hat mir Nanna erzählt, brabbelte sie.
Der Frühlingsregen rauschte und Regentropfen prasselten auf ihren fröhlichen Regenschirm. Sie blickte mich mit ihrem gewohnten unschuldigen Augen, leicht geöffnetem Mund an und streichelte mich zärtlich. Immer und immer wieder. Mit meinem nassen Ärmel wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht, und lächelte. Ihre unverständlichen Worte trösteten mich ungemein und gaben mir wieder Kraft. Jetzt waren wir nur noch zu zweit.
„Daddy, gießen machen darf?“, fragte sie erwartungsvoll.
Ich umarmte sie, tätschelte ihren Rücken und küsste auf ihre Stirn.
„Heute nicht, Schatz. Es regnet doch. Der liebe Gott gießt heute Mamis Blumen. Das nächste Mal, wenn wir Mami besuchen, dann darfst du ihre Blumen gießen. Einverstanden?“
Sie überlegte kurz, wobei sie ihre Augen hin und her bewegte und ihre Finger in den Rollstuhlsitz krallte. Dann nickte sie schließlich.

William Carter schob seine Tochter im rauschenden Regen voran. Während sie den kleinen Waldfriedhof verließen, küsste er auf ihren Kopf und versprach ihr, dass sie nachher Mensch-ärgere-Dich-nicht und Memory spielen würden, bis Thelma sie ins Bett bringt. Und anstatt Abendbrot, würden sie heute Pizza bestellen, woraufhin Shirley freudige Laute von sich gab und euphorisch brabbelte, dass sie sich eine ganz große Pizza, mit ohne alles, also eine Pizza Margherita, mit ganz, ganz viel Käse wünscht. William schmunzelte, weil er genau wusste, dass die Augen seiner Tochter wiedermal größer als ihr Hunger sind. Wie immer. Shirley würde sowieso allerhöchstens drei Pizzastücke essen, dann wäre sie satt. Trotzdem, wenn die Carters Pizza bestellten, verlangte Shirley immer nach einer Jumbopizza Margherita. Eine riesige Pizza, nur ganz für sich alleine.
 
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